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Die Kriminalitätstheorien der Chicago-Soziologie

Über den zweifelhaften Einfluss von Erziehungsheimen

AutorSven Paschke
VerlagDiplomica Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783836628303
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,00 EUR
In den Zwanziger und Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden am Department der Soziologie an der Universität Chicago drei Veröffentlichungen unter Leitung von Clifford Shaw erarbeitet: "The Jackroller", "The Natural History of a Delinquent Career" und "Brothers in Crime." Diese beinhalten ausführliche autobiographische Darstellungen von kriminellen Jugendlichen, die von Soziologen wie Ernest Burgess und Clifford Shaw analysiert wurden. Die drei Veröffentlichungen hatten einerseits für die Entwicklung von zwei, mit der generellen soziologischen Theorierichtung des "Symbolischen Interaktionismus" eng verbundenen Theorien des abweichenden Verhaltens, nämlich der "Theorie der differenziellen Assoziation" von Edwin Sutherland und Donald Cressey sowie der "Theorie der Etikettierung", bzw. der "Theorie der sekundären Devianz" von Howard Becker und Edwin Lemert, und andererseits für die Entwicklung der qualitativen Sozialforschung, und hier insbesondere der Biografieforschung, eine zentrale Bedeutung.

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand in der Überprüfung der beiden Abweichungstheorien der differenziellen Assoziation sowie der sekundären Devianz anhand der drei "Documentaries" der Chicago-Soziologie zu kriminellen Karrieren von Heranwachsenden hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen. Zudem wurden die autobiographischen Falldarstellungen selber auf ihre Textvalidität und ihre empirische Operationalisierbarkeit und empirisch-theoretische Validität hin analysiert und eingeschätzt.

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Leseprobe
Kapitel 2.2.2 Sidney becomes a „big shot”

Mit neun Jahren wird Sidney von einem Jugendrichter für vier Monate in die „Parental School” entsandt. „Never had I been away from home for even one night before. […] When the shadows of evening began to fall I grew very lonely and I couldn’t help from laying myself down by a radiator in an obscure corner and crying with my head in my arms as I had never cried before. We were so far away from where people existed and I was so sad and lonely. I didn’t sob out loud only softly, but very earnestly.” Die nächsten Tage zeigt Sidney nach außen hin keine Gefühle mehr, die auf sein Heimweh schließen lassen, weil dies innerhalb der delinquenten Gruppe als kindisch gilt. Ähnlich, wie Stanley empfindet auch Sidney die Disziplin in dieser militärisch geführten Schule als sehr streng. „I was unused to discipline and received many black marks as I could not become easily accustomed to it.” Wie es Stanley bereits beschrieb, gilt innerhalb der Gruppe der Delinquenten ein Verhaltenscodex, der einen Schweigecode enthält. Allerdings erscheint es der resozialisierenden Gruppe nicht dienlich, ihre Wahrheit zu verfolgen: Denn bereits William James formulierte, dass „Wahrheit ein Attribut unserer Überzeugungen [ist], und diese wiederum sind Einstellungen, die auf Befriedigungen zielen.“ Diese Befriedigungen können aber nur erreicht werden, wenn deviante Handlungsweisen im Sinne Paul Goodmans korrigiert werden können. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Handlungsweise des Hausvaters, der Schweigen bestraft und den „Verrat“ belohnt, nachvollziehbar. Dabei wich die Bestrafung für das Schweigen wenig von denen anderer Verfehlungen ab: „Punishment consisted of the cage or guard room as it was sometimes called, beatings with straps or lengths of hose, standing on line for hours at a time and of squats and muscle grinders. Bowls of milk and three slices of bread instead of a meal was the least of the punishments inflicted upon us.” „Black marks” vergaben auch die Lehrer in der am Vormittag zu besuchenden Schule, für das Sprechen mit anderen Jungen und für das sich Umdrehen zum Hintermann, sehr schnell. Insgesamt schien es Sidney zuerst unmöglich, alle Regeln korrekt umzusetzen.

Damit bei den Jugendlichen keine Gedanken an devianten Verhaltensweisen aufkamen, galten neben den Verhaltensregeln reglementierte Tagesabläufe: Um sechs Uhr standen sie auf, von sieben Uhr bis um acht Uhr folgte die Drillausbildung, bevor um neun Uhr die Schule begann. Nachmittags mussten die Jugendlichen bestimmte Arbeiten verrichten, bevor sie um sieben Uhr ins Bett gingen. Das Ziel der monatlichen Drillausbildung bestand, in der uniformen Präsentation eines Hauses bei der monatlich stattfindenden Parade. „Each month the best drilled company was awarded first place. The first place prize consisted of a flag. It was the only flag carried by any company and the companies sometimes tried desperately to retain the flag for month after month.” Nach vier Monaten wird Sidney aus der „Parental School” entlassen und sich bewusst, dass sich der Zustand seiner Zähne sehr verschlechtert hat, weil sie in dieser Institution keine Ärzte beschäftigten und nur im Notfall den Insassen Hilfe zukommen lassen.

„For six months I went to school regularly and stood home in the evenings, but it was very dull and it didn’t feel natural. The tame games that I played with the children of my age afforded me very little excitement.”

Zu einem Umbruch in seinem Leben kommt es, als die Familie von der R-Street in die H-Avenue zieht, und Sidney jetzt in die G-Schule gehen muss. Hier lernt er zuerst einen älteren Jungen, der Sohn eines Juweliers ist, kennen, der über viel Geld verfügt und die Freizeitaktivitäten der beiden Jungen bezahlt. Der Altersunterschied und der Wunsch nach eigenem Geld, um seine Zähne behandeln zu lassen, begünstigen, dass Sidney kurz darauf sich einer neuen Gruppe, bestehend aus Mose, Paul, Ruth und Max anschließt: Diese beklauen keine Fünf-und-Zehn-Cent-Geschäfte, wie seine alte Gruppe, sondern haben sich auf den Diebstahl von Ingersol Uhren und Seidentaschentücher spezialisiert. „These were never my ideas for I never had sense enough to think of anything, only enough to come home at night when I got tired.” Dennoch hat sich das Motiv für seine Handlungen etwas gewandelt: Während er früher ausschließlich Diebstähle beging, um genug Nahrung zu haben und der Freizeitaktivitäten wegen, ist jetzt in ihm, wie auch bei seinen Freunden, der Wunsch entstanden, Dinge zu besitzen, die auch ökonomisch besser situierte Bürger haben.

Manchmal geht er noch mit Tony und Nick, Mitgliedern seiner alten Gang, die gerade aus der Reformschule entlassen wurden: Diese begannen mit dem „junking”: „At night we would crawl into junk yards and bottle storages yards and steal all the seltzer bottles and the magnesium bottles that we could carry.” Für die gestohlenen Flaschen holten sie sich am folgenden Tag das Pfand oder verkauften die Ware an einen „junkman”. Die Weiterentwicklung von einem Dieb, der Fünf-und-Zehn-Cent-Läden beklaut, hinzu jemanden, der in der Nacht heimlich arbeitet, könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass im Sinne der Theorie der differenziellen Assoziation in den Reformschulen junge Delinquente von älteren Insassen Techniken lernen, die ihnen neue Möglichkeiten zur Beschaffung monetärer Mittel ermöglichen. Begünstigend auf die Handlungen der jungen Täter wirkt die Umwelt ein: Shaw ist der Auffassung, dass Junking bei Jungen, die in desorganisierten Nachbarschaften leben, deshalb besonders prävalent sei, weil sie nahe dem Geschäftsviertel operieren können. Somit gebe es hier viele Junkdealer und demzufolge biete das „junking” eine leichte Möglichkeit, Geld zu verdienen. Auch wenn „junking” nicht notwendigerweise den Tatbestand des Diebstahls erfüllt, dient es jedoch als einen ersten Schritt hin zur Delinquenz.

Durch das „junking” ist Sidney leicht in der Lage, an Güter zu kommen, die sich seine Eltern nicht leisten können. Dennoch lässt es seine Mutter nicht zu, dass er gestohlene Ware mit nach Hause bringt: „Never could I bring anything that I had stolen home. My mother knew I was stealing, in spite of all that she could do to cause me to cease, by my frequent arrests of it. But she had no idea that I was stealing so much as I was. I knew better than to bring anything home for my mother always searched my pockets at night and if she found any stolen article in my clothes, into the fire it went.” Im Sinne der Theorie der differenziellen Assoziation lässt sich das Verhalten der Mutter als einen Versuch werten, ihren Sohn Verhaltensweisen zu lehren, die den Werten der allgemeinen Gesellschaft entsprechen. Allerdings ist die Intensität umweltbedingt zu gering, um die präsenten Verhaltensmuster Sidneys wesentlich zu beeinflussen, wie sich im Folgenden noch zeigen wird.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Die Kriminalitätstheorien der Chicago-Soziologie1
Inhaltsverzeichnis4
Prolegomena8
1. Kapitel19
1.1 Die Theorie der sekundären Devianz19
1.2 Eine soziologische Theorie kriminellen Verhaltens22
1.3 Zur Bedeutung der Analyse von Lebensgeschichten26
2. Kapitel28
2.1 Phase I28
2.1.1 Die ersten Lebensjahre des Jack-Rollers28
2.1.2 Sidneys erste Schritte32
2.1.3 Die ersten Lebensjahre der Martin Brothers37
2.2 Phase II53
2.2.1 Die Reifephase des Jack-Rollers53
2.2.2 Sidney becomes a “big shot”59
2.2.3 Die Fortentwicklung der Martin Brothers67
2.3 Phase III82
2.3.1 Stanleys Entscheidungsphase82
2.3.2 Sidneys Verurteilung90
2.3.3 Die Jugendphase der Martin Brothers95
2.4 Phase IV104
2.4.1 Stanleys Wandlung104
2.4.2 Sidneys Leben im Staatsgefängnis108
2.4.3 Die Spätphase der Martin Brothers110
3. Kapitel117
3.1 Zusammenfassung117
3.1.1 Der Fall Stanley117
3.1.2 Der Fall Sidney121
3.1.3 Der Fall der Martin Brothers124
3.2 Eine kritische Würdigung135
3.2.1 Lemerts Theorie der sekundären Devianz135
3.2.2 Sutherlands Theorie kriminellen Verhaltens139
4. Kapitel145
Anhang149
Anmerkungen155
Literaturverzeichnis181

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