Erste Untersuchungen zum Thema ,Kinder psychisch kranker Eltern‘ findet man in der Fachliteratur bereits 1930.[1] Sir Michael Rutter, Altmeister der europäischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, beschäftigte sich in seiner Dissertationsarbeit mit dem Thema ,Kinder von kranken Eltern‘ und veröffentlichte 1966 seine wichtigsten Ergebnisse in einer Monographie mit dem Titel ,Children of sick parents‘ (vgl. Mattejat/Lenz/Wiegand-Grefe 2010, S. 13f.).
Die wichtigsten Forschungsansätze, die Aspekte in Bezug auf Kinder von psychisch kranken Eltern berücksichtigen, sind im folgenden Kapitel dargestellt.
Studien, die Auswirkungen von psychischen Erkrankungen von Eltern auf ihre Kinder untersuchen, sind unter der so genannten High-Risk-Forschung bekannt.
Folgende Ziele bzw. Fragestellungen bildeten den Schwerpunkt des Interesses:
1. „Die Untersuchung des genetischen Risikos von Kindern psychotischer Eltern im Hinblick auf eine gleichsinnige Erkrankung;
2. psychogenetische Fragestellungen, die den unmittelbaren Auswirkungen der Erkrankung auf die Kinder nachgingen und den Umweltaspekt betonten;
3. Untersuchungen, die zum Ziel hatten, für die jeweilige Erkrankung typische und charakteristische Marker zu objektivieren und Vorläufersymptome festzustellen, und
4. Fragestellungen, die der Intervention und Prävention gewidmet waren. “ (Remschmidt/Mattejat 1994, S. 14).
Annahme der Risikoforschung ist, dass Kinder psychisch kranker Eltern in Bezug auf die Entwicklung einer psychischen Erkrankung zu einer Hochrisikogruppe zählen (vgl. Schone/Wagenblass 2006, S. 11f.). Daher sollen Gruppen mit hohem Erkrankungsrisiko herausgefiltert, Merkmale und Indikatoren der Risikogruppe identifiziert werden. (vgl. Lenz 2005, S. 13).
Die Monographie von Remschmidt und Mattejat gilt als eine klassische Studie. Die beiden Forscher suchten nach Ursachen und bestimmten Merkmalen für das erhöhte Risiko von Kindern Psychose erkrankter Eltern selbst an einer Psychose zu erkranken. Remschmidt und Mattejat fanden u.a. heraus, dass rund ein Drittel aller Kinder, die sich in stationärer kinder-und jugendpsychiatrischer Behandlung befanden, mindestens einen psychisch erkrankten Elternteil haben (vgl. Remschmidt/Mattejat 1994, S. 15).
Die psychische Erkrankung kann dabei als eine belastende psychosoziale Entwicklungsbedingung aufgefasst werden und in der sozial-emotionalen und im geringeren Maße in der kognitiven Entwicklung aufgefasst werden. Beispiel dafür sind depressive Störungen, aber auch aggressive, dissoziale und hyperkinetische Verhaltensstörungen (vgl. Lenz 2005, S. 13).
Einigkeit herrscht darüber, dass Kinder mit psychisch kranken Eltern(teilen) einem signifikant erhöhten Risiko ausgesetzt sind selbst psychisch krank zu werden als Kinder mit gesunden Eltern. Das Risiko für Kinder mit einem schizophren erkrankten Elternteil liegt bei 10 % bis 15 %. Bei zwei schizophren erkrankten Elternteilen steigt es beträchtlich auf 35 % bis 50% (vgl. Remschmidt/Mattejat 1994, S. 22). Bei Kindern depressiver Eltern liegt die Rate selbst psychisch zu erkranken bei 23 % bis 38 % (vgl. Remschmidt/Mattejat 1994, S. 70). Vergleichsweise dazu liegt die LebenszeitPrävalenzrate der Gesamtbevölkerung für die schizophrenen Erkrankungen bei 1 %.
Statistisch gesichert ist, dass Zweijährige mit einem psychisch erkrankten Elternteil in der Sprachentwicklung Defizite vorweisen und in ihrem Sozialverhalten auffälliger sind (Schone/Wagenblass 2006, S. 12). Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die elterliche Erkrankung nur ein Risikofaktor darstellt, wobei sich einzelne Risikofaktoren gegenseitig bedingen und verstärken. Mit Risikofaktoren beschäftigt sich Kapitel 5.
Remschmidt/Mattejat fordern „die Entwicklung von meßtheoretisch verbesserten und differenzierteren diagnostischen Methoden“ (Remschmidt/Mattejat 1994, S. 123) aber auch das Forschungsinteresse auf die natürlichen familiären Bewältigungs- und Kompensationsmöglichkeiten zu lenken (vgl. Schone/Wagenblass 2006, S. 12).
Im Mittelpunkt der Resilienz- und Bewältigungsforschung steht die Frage, warum manche Personen trotz Belastungen und Risiken gegenüber psychischen Störungen usw. widerstandsfähiger sind, während andere unter vergleichbaren Bedingungen krankheitsanfälliger sind (vgl. Lenz 2005, S. 16). Nach Wustmann ist Kernstück der Resilienzforschung „die positive, gesunde Entwicklung trotz andauerndem, hohen Risikostatus (wie chronische Armut, psychische Erkrankungen der Eltern usw.). Die beständige Kompetenz unter akuten Stressbedingungen (wie z. B. Trennung / Scheidung der Eltern). Die positive bzw. schnelle Erholung von traumatischen Ereignissen (z. B. Trennung / Tod naher Bezugspersonen, sexueller Missbrauch)“ (2004, S. 19).
Die Resilienzforschung entstand aus der Entwicklungspsychopathologie, die in den 1970er Jahren hauptsächlich Risikoeinflüsse, die bei der kindlichen Entwicklung wirken können, untersuchte. Gleichwohl rückten Kinder, die sich trotz schwerer Bedingungen gut entwickeln konnten, in den Blickpunkt des Interesses. Resilienz wurde damals als angeboren, universell und allgemeingültig angesehen.
Gegen Ende der 1970er Jahre gab es zunächst in Großbritannien und Nordamerika, Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland einen Paradigmenwechsel, der maßgeblich von den Studien Aaron Antonovsky zur Salutogenese beeinflusst wurde. Die Resilienzforschung konzentriert sich im Gegensatz zur Salutogenese, die nach Schutzfaktoren zur Erhaltung der Gesundheit sucht, auf den Prozess der positiven Anpassung und Bewältigung (vgl. Fröhlich-Gildhoff/Rönnau-Böse, 2009, S. 13f.).
Nach Vorbild von O’Dougherty Wright und Masten (2006) untergliedert Bengel et al. (2009) die Entwicklung der Resilienzforschung in drei Phasen ein:
1. Phase: Identifikation der Schlüsselkonzepte und allgemeiner Schutzfaktoren
Anfang der 1970er Jahre wurden Kinder als , unverwundbar ‘ beschrieben. Empirische Grundlagen wurden entwickelt. Zentrale Untersuchungen gab es zu Schlüsselkonzepten der Resilienz, Vulnerabilität, Risiken und Schutzfaktoren. Diskussionen über Definitionen und Abgrenzungen dauern bis heute an (vgl. Bengel et al. 2009, S. 15f.). Der Fokus lag außerdem auf der Identifikation von „ Faktoren, die in Zusammenhang mit der Entwicklung und den Entwicklungsergebnissen stehen“ oder „ Faktoren, die Entwicklungsergebnisse vorhersagen“ (Bengel et al. 2009, S. 15).
2. Phase: Kontextfaktoren und Prozessorientierung
Die Forschung wandte sich nach der Frage des Was zu den komplexen Wechselwirkungen, Prozessen und Wirkmechanismen. Dabei wurde besonders der sozioökonomische Status der Familie und die Einbindung in soziale Netzwerke erfasst. Abgesehen davon erkannte man die Kontextspezifität der protektiven Prozesse (vgl. Bengel et al. 2009, S. 16).
3. Phase: Maßnahmen zur Förderung von Resilienz
Neben der sich fortsetzenden Untersuchung komplexer Prozesse wurden resilienzförderliche Interventionsmodelle entwickelt, die jedoch noch nicht in Gänze abgeschlossen ist (vgl. Bengel et al. 2009, S. 17).
Die bekannteste, größte und älteste Längsschnittstudie wurde von Werner und Smith auf der hawaiianischen Insel Kauai durchgeführt. Es wurden 698 Kinder aus asiatischen und polynesischen Familien von ihrer Geburt im Jahr 1955 an über 40 Jahre begleitet. Datenerhebungen fanden im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren statt. Sie wurden beobachtet, interviewt und es wurden Lebens- und Gesundheitssituation erhoben. Untersuchungsinteresse war der Einfluss der vielfältigen biologischen und psychosozialen Risikofaktoren, kritische Lebensereignisse und Schutzfaktoren auf die Entwicklung. Circa ein Drittel der Kinder wies ein erhöhtes Entwicklungsrisiko auf. Sie waren schon vor ihrem zweiten Lebensjahr mindestens vier risikoerhöhenden Bedingungen (multiple Risikobelastungen) ausgesetzt; dazu gehören u. a. chronische Armut, Geburtskomplikationen, ein geringes Bildungsniveau der Eltern, elterliche Psychopathologie und chronisch familiäre Disharmonie. Zwei Drittel dieser Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten schwere Lern- und Verhaltensprobleme in der Schulzeit, wurden straffällig und hatten psychische Probleme im Jugendalter. Trotz erheblicher Risiken können sich wiederum ein Drittel der Kinder gut entwickeln und wurden zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen. Im Alter von 40 Jahren konnten eine geringere Todesrate, weniger chronische Gesundheitsprobleme und weniger Scheidungen nachgewiesen werden. Protektive Faktoren waren dabei z. B. ein stabiler Familienzusammenhalt oder eine hohe Sozialkompetenz (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, S. 15ff.; Bengel et al. 2009, S. 33ff.).
In Deutschland gehören zu den bekanntesten Studien die MannheimerRisikokinderstudie von Laucht et al. und die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie von Lösel et al.
Die Mannheimer-Risikokinderstudie befasst sich mit den...