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Erkenntnis und Irrtum

Skizzen zur Psychologie der Forschung

AutorErnst Mach
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783847810858
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Dritte durchgesehene Auflage, Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1917. Erstdruck: Leipzig (Johann Ambrosius Barth) 1905. Der Text folgt der postum erschienenen 3. durchgesehenen Auflage: Leipzig (Johann Ambrosius Barth) 1917; der Anhang bleibt unberücksichtigt.

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Leseprobe

Philosophisches und naturwissenschaftliches Denken.


1. Unter einfachen, beständigen, günstigen Verhältnissen lebende niedere Tiere passen sich durch die angeborenen Reflexe den augenblicklichen Umständen an. Dies genügt gewöhnlich zur Erhaltung des Individuums und der Art durch eine angemessene Zeit. Verwickelteren und weniger beständigen Verhältnissen kann ein Tier nur widerstehen, wenn es sich einer räumlich und zeitlich ausgedehnteren Mannigfaltigkeit der Umgebung anzupassen vermag. Es ist hierzu eine räumliche und zeitliche Fernsichtigkeit nötig, welcher zunächst durch vollkommenere Sinnesorgane, und bei weiterer Steigerung der Anforderungen durch Entwicklung des Vorstellungslebens entsprochen wird. In der Tat hat ein mit Erinnerung ausgestattetes Lebewesen eine ausgedehntere räumliche und zeitliche Umgebung im psychischen Gesichtsfeld, als es durch seine Sinne zu erreichen vermag. Es nimmt sozusagen auch die Teile der Umgebung wahr, die an die unmittelbar sichtbare grenzen, sieht Beute oder Feinde herankommen, welche noch kein Sinnesorgan anmeldet. Was dem primitiven Menschen einen quantitativen Vorteil über seine tierischen Genossen verbürgt, ist wohl nur die Stärke seiner individuellen Erinnerung, die allmählich durch die mitgeteilte Erinnerung der Vorfahren und des Stammes unterstützt wird. Auch der Fortschritt der Kultur überhaupt ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß zusehends größere räumliche und zeitliche Gebiete in den Bereich der Obsorge des Menschen gezogen werden. Mit der teilweisen Entlastung des Lebens, welche bei steigender Kultur zunächst durch die Teilung der Arbeit, die Entwicklung der Gewerbe u.s.w. eintritt, gewinnt das auf ein engeres Tatsachengebiet gerichtete Vorstellungsleben des einzelnen an Kraft, ohne daß jenes des gesamten Volkes an Umfang verliert. Das so erstarkte Denken kann nun selbst allmählich zu einem Beruf werden. Das wissenschaftliche Denken geht aus dem volkstümlichen Denken hervor. So schließt das wissenschaftliche Denken die kontinuierliche biologische Entwicklungsreihe, welche mit den ersten einfachen Lebensäußerungen beginnt.

2. Das Ziel des vulgären Vorstellungslebens ist die gedankliche Ergänzung, Vervollständigung einer teilweise beobachteten Tatsache. Der Jäger stellt sich die Lebensweise eines eben erspähten Beutetiers vor, um danach sein eigenes Verhalten zweckentsprechend zu wählen. Der Landwirt denkt an den passenden Nährboden, die richtige Aussaat, die Zeit der Fruchtreife einer Pflanze, die er zu kultivieren gedenkt. Diesen Zug der gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem vulgären gemein. Auch Galilei will nichts anderes, als den ganzen Verlauf der Bewegung sich vergegenwärtigen, wenn die anfängliche Geschwindigkeit und Richtung eines geworfenen Steines gegeben ist. Allein durch einen andern Zug unterscheidet sich das wissenschaftliche Denken vom vulgären oft sehr bedeutend. Das vulgäre Denken, wenigstens in seinen Anfängen, dient praktischen Zwecken, zunächst der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. Das erstarkte wissenschaftliche Denken schafft sich seine eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle Unbehaglichkeit zu beseitigen. Im Dienste praktischer Zwecke gewachsen, wird es sein eigener Herr. Das vulgäre Denken dient nicht reinen Erkenntniszwecken, und leidet deshalb an mancherlei Mängeln, welche auch dem von diesem abstammenden wissenschaftlichen Denken anfänglich anhaften. Von diesen befreit sich letzteres nur sehr allmählich. Jeder Rückblick auf eine vorausgehende Periode lehrt, daß wissenschaftliches Denken in seinem Fortschritt in einer unausgesetzten Korrektur des vulgären Denkens besteht. Mit dem Wachsen der Kultur äußert aber das wissenschaftliche Denken seine Rückwirkung auch auf jenes Denken, welches praktischen Zwecken dient. Mehr und mehr wird das vulgäre durch das vom wissenschaftlichen durchdrungene technische Denken eingeschränkt und vertreten.

3. Die Abbildung der Tatsachen in Gedanken, oder die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen, ermöglicht dem Denken, nur teilweise beobachtete Tatsachen gedanklich zu ergänzen, soweit die Ergänzung durch den beobachteten Teil bestimmt ist. Die Bestimmung besteht in der Abhängigkeit der Merkmale der Tatsachen voneinander, auf welche somit das Denken auszugehen hat. Da nun das vulgäre und auch das beginnende wissenschaftliche Denken sich mit einer recht rohen Anpassung der Gedanken an die Tatsachen begnügen muß, so stimmen auch die den Tatsachen angepaßten Gedanken untereinander nicht vollständig überein. Anpassung der Gedanken aneinander ist also die weitere Aufgabe, welche das Denken zu seiner vollen Befriedigung lösen muß. Dies letztere Streben, welches die logische Läuterung des Denkens bedingt, aber weit über dieses Ziel hinausragt, kennzeichnet vorzugsweise die Wissenschaft im Gegensatz zum vulgären Denken. Letzteres genügt sich, wenn es nur ungefähr der Verwirklichung praktischer Zwecke dient.

4. Das wissenschaftliche Denken tritt uns in zwei anscheinend recht verschiedenen Typen entgegen: dem Denken des Philosophen und dem Denken des Spezialforschers. Der erstere sucht eine möglichst vollständige, weltumfassende Orientierung über die Gesamtheit der Tatsachen, wobei er nicht umhin kann, seinen Bau auf Grund fachwissenschaftlicher Anleihen auszuführen. Dem anderen ist es zunächst um Orientierung und Übersicht in einem kleineren Tatsachengebiet zu tun. Da aber die Tatsachen immer etwas willkürlich und gewaltsam, mit Rücksicht auf den ins Auge gefaßten augenblicklichen intellektuellen Zweck, gegeneinander abgegrenzt werden, so verschieben sich diese Grenzen beim Fortschritt des forschenden Denkens immer weiter und weiter. Der Spezialforscher kommt schließlich auch zur Einsicht, daß die Ergebnisse aller übrigen Spezialforscher zur Orientierung in seinem Gebiet berücksichtigt werden müssen. So strebt also auch die Gesamtheit der Spezialforscher ersichtlich nach einer Weltorientierung durch Zusammenschluß der Spezialgebiete. Bei der Unvollkommenheit des Erreichbaren führt dieses Streben zu offenen oder mehr oder minder verdeckten Anleihen beim philosophischen Denken. Das Endziel aller Forschung ist also dasselbe. Es zeigt sich dies auch darin, daß die größten Philosophen, wie Plato, Aristoteles, Descartes, Leibniz u. a. zugleich auch der Spezialforschung neue Wege eröffnet und anderseits Forscher wie Galilei, Newton und Darwin u. a., ohne Philosophen zu heißen, doch das philosophische Denken mächtig gefördert haben.

Es ist allerdings richtig: Was der Philosoph für einen möglichen Anfang hält, winkt dem Naturforscher erst als das sehr ferne Ende seiner Arbeit. Allein diese Meinungsverschiedenheit soll die Forscher nicht hindern, und hindert sie tatsächlich auch nicht, voneinander zu lernen. Durch die zahlreichen Versuche, die allgemeinsten Züge großer Gebiete zusammenzufassen, hat sich die Philosophie in dieser Richtung reichliche Erfahrung erworben; sie hat nach und nach sogar teilweise die Fehler erkannt und vermeiden gelernt, in die sie selbst verfallen ist und in die der philosophisch nicht geschulte Naturforscher seinerseits noch heute fast gewiß verfällt. Aber auch positive wertvolle Gedanken, wie z.B. die verschiedenen Erhaltungsideen, hat das philosophische Denken der Naturforschung geliefert. Der Philosoph entnimmt wieder der Spezialforschung solidere Grundlagen, als sie das vulgäre Denken ihm zu bieten vermag. Die Naturwissenschaft ist ihm einerseits ein Beispiel eines vorsichtigen, festen und erfolgreichen wissenschaftlichen Baues, während er anderseits aus der allzugroßen Einseitigkeit des Naturforschers nützliche Lehren zieht. In der Tat hat auch jeder Philosoph seine Privat-Naturwissenschaft und jeder Naturforscher seine Privat-Philosophie. Nur sind diese Privat-Wissenschaften meist etwas rückständiger Art. In den seltensten Fällen kann der Naturforscher die Naturwissenschaft des Philosophen, wo sich dieselbe gelegentlich äußert, für voll nehmen. Die meisten Naturforscher hingegen pflegen heute als Philosophen einen 150 Jahre alten Materialismus, dessen Unzulänglichkeit allerdings nicht nur die Fachphilosophen, sondern alle dem philosophischen Denken nicht zu fern Stehenden, längst durchschaut haben. Nur wenige Philosophen nehmen heute an der naturwissenschaftlichen Arbeit teil, und nur ausnahmsweise widmet der Naturforscher eigene Denkarbeit philosophischen Fragen. Dies ist aber zur Verständigung durchaus notwendig, denn bloße Lektüre kann hier dem einen wie dem andern nicht helfen.

Überblicken wir die Jahrtausende alten Wege, welche Philosophen und Naturforscher gewandelt sind, so finden wir dieselben teilweise wohl gebahnt. An manchen Stellen scheinen sie aber durch sehr natürliche, instinktive, philosophische und naturwissenschaftliche Vorurteile verlegt, welche als Schutt älterer Versuche, mißlungener Arbeit, zurückgeblieben sind. Es möchte sich empfehlen, daß von Zeit zu Zeit diese Schutthalden weggeräumt oder umgangen werden.

5. Nicht nur die Menschheit, sondern auch jeder einzelne findet beim Erwachen zu vollem Bewußtsein eine fertige Weltansicht in sich vor, zu deren Bildung er nichts absichtlich beigetragen hat. Diese nimmt er als ein Geschenk der Natur und Kultur hin. Hier muß jeder beginnen. Kein Denker kann mehr tun, als von dieser Ansicht ausgehen, dieselbe weiter entwickeln und korrigieren, die Erfahrungen der Vorfahren benützen, die...

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