Jedermann trifft Lady Di oder Das Wesen der Festspiele
»In der Nicht-Saison ist Salzburg, wie jedermann weiß, bezaubernd. Jetzt ist Saison.«
Alfred Polgar
Das soll Salzburg sein? Haufenweise Steine, Pflastersteine, Ziegelsteine, auch jede Menge von prächtigen Marmorquadern, gewiss – aber dazwischen überall Gras. Als der Komponist Franz Schubert 1825, Mozart ist da längst tot, aus der brodelnden Weltmetropole Wien in die Stadt an der Salzach kommt, bemerkt er zweierlei: die »unaussprechliche Schönheit« Salzburgs zum einen, und zum anderen die fast unheimliche Stille, die hier herrscht. Nicht nur viele Salzburger Häuser stünden leer, schreibt der verblüffte Schubert seinem Bruder, sondern auch die meisten Plätze der Stadt: »Zwischen den Pflastersteinen wächst Gras, so wenig werden sie betreten.«
Wer heute versucht, sich während der Festspielsaison mühsam einen Weg durch die Salzburger Getreidegasse oder durch das Touristengewimmel auf den Plätzen der Altstadt zu bahnen, kann angesichts dieses Briefes nur zu einem Schluss kommen: Der Schubert spinnt! Außerdem wird er einfach die falsche Jahreszeit für seine Salzburg-Visite erwischt haben, oder auch nur die falsche Tageszeit, halb vier Uhr früh womöglich, nach einem ausgiebigen Weingelage; da kann einer leicht sogar mitten in Salzburg das Gras wachsen sehen …
Und doch ist Schuberts merkwürdiges Salzburg-Erlebnis kein Einzelfall. Ein anderer Wiener Besucher, der schriftstellernde Arzt Josef Schulte, zeichnete zwanzig Jahre vorher exakt das gleiche Bild von Salzburg: »Stille und Öde auf den Hauptplätzen der Stadt; Gras, das vor den Palästen zwischen den Quadersteinen des Pflasters hervorwächst.«
Heute meldet das Salzburger Fremdenverkehrsamt deutlich mehr als zwei Millionen Übernachtungen jährlich; auch seit die Zweimillionengrenze im Jahr 2006, als die Stadt den 250. Geburtstag ihres berühmtesten Sohnes Wolfgang Amadeus feierte, erstmals deutlich überschritten wurde, steigt sie Jahr für Jahr weiter an. Ebendort, wo die Touristen des vorletzten Jahrhunderts die große Stille verspürten, führen 130 staatlich konzessionierte Fremdenführer Jahr für Jahr 800?000 Neugierige durch die Straßen. Fast eine halbe Milliarde Euro setzt allein die Tourismusindustrie der Stadt Salzburg pro Jahr um, vom Umland ganz zu schweigen. Und die amtliche Tourismuswerbung jubelt: »Salzburg ist nicht nur die Stadt der Festspiele und ein Treffpunkt für Größen aus Film und Fernsehen, sondern auch ein einzigartiges Einkaufszentrum.«
Da haben wir es bereits, das permanente Salzburger Dilemma: Ein Teil der Besucher, wenn auch möglicherweise der kleinere, wünscht sich nichts so sehr zurück wie die alten Zeiten, um sich in aller Ruhe der Schönheit dieser Stadt, der nahezu unglaublichen Fülle ihrer Sehenswürdigkeiten widmen zu können. Die anderen Touristen, denkt er (wie wir kulturell interessierten Entspannungstouristen halt so denken), können ihm dabei getrost gestohlen bleiben. Der andere Teil aber kommt gerade hierher, weil auch alle anderen kommen, weil hier also garantiert etwas los ist.
Wem soll man es da recht machen? Da trifft es sich, dass die Salzburger Festspiele so gut wie alle Bühnenkünste umfassend präsentieren – bis auf eine: das Ballett. Dafür sind hier nicht die Künstler zuständig, sondern die Politiker und die Fremdenverkehrsfunktionäre. Und zumindest in der Kunst des Spagats haben die es nach mittlerweile hundertjähriger Übung bemerkenswert weit gebracht. Ohne eine Miene zu verziehen, kommen sie auch den gegensätzlichsten Ansprüchen ihrer lokalen Wähler wie ihrer internationalen Touristenkundschaft aufs Bereitwilligste entgegen, indem sie deren jeweils einem Teil exakt das versprechen, was der jeweils andere um keinen Preis will.
Salzburg soll sich dem Zeitgeist öffnen und sich als moderne Metropole präsentieren? Aber gerne, der städtische Flughafen heißt eh schon Airport, die seit Langem leidlich Englisch sprechenden Busfahrer absolvieren mittlerweile auch eine Elementarausbildung im Japanischen, die unübersichtlich vielen altösterreichischen Arten, im Café einen Kaffee zu bestellen, wurden weitgehend auf die global üblichen drei Grundformen (Espresso, Cappuccino und White Coffee) zurückgeführt. Und auch die Zukunft geht man beherzt an. Marketingspezialisten haben soeben entdeckt, dass es tatsächlich noch die eine oder andere Woche im Kalender gibt, in der kein Event die Aufmerksamkeit der Welt an die Salzach lenkt. Das lässt sich ändern; spätestens das aus gegebenem Anlass nahezu lückenlos mit Salzburger Hypes zugepflasterte Mozart-Jahr 2006 hatte da Maßstäbe gesetzt, deren Trend zur Gigantomanie sich auch in der Folge nicht umkehren ließ.
Andererseits aber: Salzburg soll sich der grässlichen Hektik des Zeitgeists entgegenstellen, sich stattdessen auf seine bodenständigen Traditionen besinnen und im gleichmacherischen Strom des Massentourismus eine Zufluchtsstätte für alle diejenigen bilden, die nicht auf materielle und kulturelle Schnäppchenjagden aus sind, sondern auf individuelles Lebensgefühl und auf Entspannung. Aber ja doch, bittschön; seit vielen Jahren schon setzt die Stadt auf den Trend zum sanften Tourismus. Und die einheimischen Lokalpolitiker kämpfen ohnehin um nichts lieber als um die Bewahrung von Salzburgs Eigenständigkeit und um die Erhaltung, ja wenn möglich sogar die Wiederbelebung gewachsener kultureller Strukturen. Und was schließlich den Zeitgeist betrifft: Bemühen sich nicht sogar die für die Festspiele Verantwortlichen immer wieder um Programme und Künstler, die beherzt Breschen schlagen in den Mainstream der oberflächlichen Konsumgesellschaft?
Kurzum, es ist die Quadratur des Kreises, die die Salzburger sich stets aufs Neue zumuten. Die Behauptung, dass ihnen das immer und überall gelingt, wäre übertrieben. Doch immerhin den Spagat, den Salzburg seinen unzähligen Bewunderern zuliebe vollführt, bringen zur Not und Salzburg zuliebe auch wir Bewunderer noch fertig. Genau genommen bleibt uns gar nichts anderes übrig, als auf Schritt und Tritt hingerissen zu sein von dieser Stadt – und oft genug dabei spöttisch den Mund zu verziehen oder gar entsetzt die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen angesichts der Eskapaden, die dieses Salzburg sich leistet oder die es seinen Gästen widerstandslos durchgehen lässt.
»Ich war auch in Salzburg«, erzählt uns ein begeisterter Besucher. »Und war auch im Café Bazar und trank eine ›Teeschale Kaffee mit Schlag‹, und sah zu, wie der junge Thimig der Lady Diana, der ›Mirakel-Madonna‹, die Hand küsste.« – Wie, das kannten Sie noch nicht, den Beinamen »Mirakel-Madonna« für die selige Lady Diana? Das liegt daran, dass zwar die Salzburger Festspiele einmalig sind, nicht aber die Lady Dianas, die sie besuchen, und nicht die Zaungäste, die die Prominenten bestaunen: Die gerade zitierte Mitteilung stammt aus dem Jahr 1926; sie bildet den Auftakt zu einer Glosse des damals zum Kreis der expressionistischen Avantgarde gehörenden deutschen Schriftstellers Georg Britting. Die Diana, die Britting damals zu Gesicht bekam, hieß mit vollem Namen Lady Diana Manners und darf mit vollem Recht als Vorgängerin, vielleicht sogar als unerreichtes Vorbild der rund siebzig Jahre späteren Lady Di bezeichnet werden. Und, was kaum jemand weiß: Sogar den Spitznamen »Lady Di« hat die spätere Diana von der früheren übernommen.
Diana Manners, jüngste Tochter des Herzogs und der Herzogin von Rutland, galt weltweit nicht nur als schlechthin schönste, sondern auch als eine der gescheitesten und obendrein emanzipiertesten Frauen der Zwanzigerjahre. Mit anderen Worten: Diana Manners war der Popstar ihrer Zeit, verehrt und bewundert auch in allerhöchsten Kreisen. Sämtliche Junggesellen des europäischen Hochadels waren hinter Lady Diana Manners her, berühmte Schriftsteller wie Evelyn Waugh himmelten sie hoffnungslos an, während sie als Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Femina sowohl die Adeligen wie die Schriftsteller in ironischen Glossen aufs Korn nahm. Nicht nur ihre Familie hatte auf eine Verlobung der damaligen Lady Diana mit dem damaligen Prince of Wales gehofft. Stattdessen heirate Diana Manners 1920 den Diplomaten Duff Cooper, ohne allerdings deswegen ihr eigenständiges und mitunter ziemlich extravagantes Leben aufzugeben. Übrigens tat das ihrer Gesundheit recht gut: Als die junge Lady Diana Spencer 1981 Prince Charles heiratete, bekam die alte Lady Di – mittlerweile eine Vicounte of Norwich – das noch mit; sie starb erst 1986, im Alter von 96 Jahren.
Wirklich extravagant (wenn auch, was die Höhe der Eintrittspreise angeht, nicht ganz so exklusiv wie heute) waren damals freilich nicht nur manche Gäste, sondern die Salzburger Festspiele selbst. Max Reinhardt, der längst auch international gefeierte Regisseur und Mitbegründer der Festspiele, engagierte für seine 1923 am Broadway entstandene Inszenierung seines Stückes »Das Mirakel« – einer Art von vorweggenommenem Musical, in dem die Madonna für einen Ritter in den Zweikampf zieht – die prominente Laiendarstellerin Lady Diana Manners als Madonna, und importierte die bejubelte Aufführung zwei Jahre später nach Salzburg inklusive der Lady Diana, die dort, hier schließt sich der Kreis, mit Richard Demel nun einen weiteren Dichter zum Kreis ihrer Bewunderer hinzufügte.
Es lässt sich eine Menge lernen aus jener amüsanten Geschichte, nicht nur über die kesse Verbindung von Kultur und PR, die das Image der Festspiele von Beginn an prägte, sondern auch – und jetzt müssen eventuelle Salzburger Leser ganz, ganz tapfer sein – darüber, dass es zumindest in den so...