DIE GRENZE IST DER EIGENTLICH FRUCHTBARE ORT DER ERKENNTNIS
Einleitung
Haß und Liebe sind zwei feindliche Geschwister. Sie kommen beide aus der Familie der Gefühle und begleiten uns von Geburt an. Die Menschwerdung besteht eigentlich ein Leben lang darin, die Spannung von Haß und Liebe in sich selbst wahrzunehmen, zu verstehen und konsequent danach zu handeln. Alle Menschen haben mehr oder weniger Probleme damit, die gegensätzlichen Kräfte von Liebe und Haß in sich auszuhalten. Ich erzähle in diesem Buch Geschichten von betroffenen Frauen und Männern, die diesen Zustand nicht ertragen. Bei ihnen bekämpfen sich Liebe und Haß wie Wasser und Feuer und schließen sich gegenseitig aus. Ein Mensch allein kann den Widerstreit der Gefühle in sich schon kaum verkraften. Wenn es aber dann um Beziehungen und Auseinandersetzungen in Beziehungen geht, werden Liebe und Haß so weit wie möglich voneinander weggehalten oder jeweils bis ins Extrem gesteigert.
Das Überschießende von Haß oder Liebe kann einen Menschen in einer Situation so gefangennehmen, daß gar keine Energie mehr übrigbleibt, einen äußeren Rahmen mit anderen aufrechtzuerhalten und zufüllen. So kann das jeweilige Gegenüber gezwungen sein, für die Eindämmung überschwappender Gefühle, aber auch für Abgrenzung zu sorgen.
Das Ganze ist weit mehr als ein Krankheitsphänomen einer bestimmten Patientengruppe. Es ist auch ein Zeitphänomen der heute lebenden Generationen. Die Männer und Frauen, von denen ich hier berichte, nenne ich Borderline-Menschen, weil sie mit ihrem Beispiel an Grenzen und Abgründe führen, die sich allen Menschen auftun können, aber von denen sich die meisten fernhalten.
Borderline-Menschen tun sich unendlich schwer mit Abgrenzungen nach innen und außen. Damit berühren sie Grundfragen: Wieviel Nähe und Distanz braucht der Mensch, und wieviel kann er ertragen?
Das Chamäleon »Borderline«
Der Ausdruck »Borderline-Persönlichkeit« kam in den 40er Jahren auf und war ursprünglich eine Verlegenheitsdiagnose, die auf eine Grenzstörung bzw. das Niemandsland zwischen Psychose und Neurose hinweisen sollte. Das Lebensthema von Borderline-Menschen sind ihre nicht vorhandenen oder unklaren Grenzen. Es geht mir um einen Daseinsbegriff und grundlegende Beziehungsmuster, nicht um ein Krankheitsetikett. Beängstigende Störung und Quelle lebendiger Erfahrung liegen dicht beisammen. »Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis« (PAUL TILLICH).
Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeit fallen mit ihren vielfältigen, widersprüchlichen Wahrnehmungen von sich und der Umwelt, die ich hier beschreiben möchte, oft aus dem Rahmen üblicher Vorstellungen. Sie können sich nicht mehr verständlich machen und werden oft mißverstanden.
Wenn sie therapeutische Hilfe suchen, können sie auch dort rasch an Grenzen stoßen. Jede Therapeutin, jeder Therapeut hat andere Grenzen. Verschiedene Therapeuten ordnen je nach ihrem Selbst- und Weltverständnis denselben Menschen u. U. diagnostisch unterschiedlich ein und behandeln ihn wahrscheinlich auch verschieden. Therapeuten haben unterschiedliche Rahmenvorstellungen davon, was entgrenzt und was noch normgerecht ist.
Was mit Menschen los ist, die nach meiner Einschätzung in das Borderline-Konzept passen, finde ich nur heraus, indem ich die Reaktion der Patientin oder des Patienten auf mich in meiner Art und natürlich auch meine Reaktion auf sie oder ihn zur Grundlage der therapeutischen Zusammenarbeit mache.
In diesem Buch beziehe ich mich aufgrund meiner Praxis auf die Arbeit mit Menschen, mit denen eine ambulante Behandlung möglich ist. Ein Patient trifft bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten immer auf jemanden mit einer speziellen Ausbildungs- und Erfahrungsgeschichte.
In mir ergänzen und reiben sich die verschiedenen Rollen als Arzt und Psychiater, als Psychodramatiker und Psychotherapeut, und das Ganze basierend auf meinen philosophisch-anthropologischen Grundannahmen. Der Psychiater mit seinen Diagnosekriterien hält Abstand zum Patienten, der Psychotherapeut läßt sich mehr oder weniger nah auf die Geschichten seiner Klienten ein, und der Psychodramatiker bietet an, innere Bilder szenisch darzustellen, die rein verbal gar nicht vermittelbar wären. Außerdem ist es im Rahmen psychodramatischer Arbeit möglich, Realität in kleinen Schritten zu erproben. Die Beispiele im Buch sollen zeigen, wie je nach Situation die verschiedenen Rollen in mir unterschiedlich zum Tragen kommen, mal harmonisch, mal spannungsreich.
Warum nimmt die Öffentlichkeit die Borderline-Menschen so wenig zur Kenntnis? Nach vorsichtigen Schätzungen sind bereits 5 % der Gesamtbevölkerung betroffen. Das ist die drittgrößte Gruppe offiziell psychisch Kranker, nach den Süchtigen und den Depressiven. Warum haben sie nicht einmal in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachwelt eine Lobby? Ich nehme zwei Hauptgründe an:
1. Im Unterschied zu Süchtigen sind Borderline-Menschen meist körperlich gesund und bilden auch keine sozial auffällige Gruppe. Es handelt sich vielmehr um lauter Einzelindividuen.
2. Sie sind zwar auch ängstlich und scheu wie Depressive, aber oft eher unbequem in ihrem Denken, sprunghaft in ihrem Handeln und geradezu herausfordernd in ihren Gefühlsäußerungen.
Mit den Süchtigen und Depressiven teilen Borderline-Menschen eine mehr oder weniger ausgeprägte Selbstmordtendenz. Borderline-Menschen stellen sich in einem Ausmaß in Frage, daß sie sich nicht nur existentiell bedroht fühlen, sondern auch eigene Überlebensstrategien entwickeln. Ihre Angst treibt sie oft dazu, sich gefühlsmäßig so aufzuspalten, daß sie auf ihr Gegenüber einen abgewehrten Gefühlsanteil von sich ausstrahlen, im Unterschied zu Schizophrenen, die einen eigenen Weltbezug herstellen und ihre Denkansätze ver-rücken. Auch Schizophrene leiden unter Spannungszuständen und strahlen sie aus, und zwar wenn sie sich auf Kontakt mit der Wirklichkeit einlassen und diese nicht verneinen. Das unaufgebbare Ringen um Kontakt mit der Wirklichkeit aber ist typisch für Borderline-Menschen. Diesen Unterschied will ich mit zwei Beispielen deutlich machen.
Eine Schizophrene sagte zu mir, während sie äußerlich ganz ruhig dasaß: »Sie können nicht mit mir sprechen, die Löwen haben mich soeben zerrissen, mich gibt es nicht mehr!« Ihre Stimme klang dabei wie von einem andern Stern, feierlich abgehoben. Das Feuer von Angst und Mißtrauen, wie ich das vor Ausbruch ihres Wahnes kannte, war erloschen. In gewisser Weise ließ mir diese Frau mit ihrer Art, mir ihren seelischen Schrecken zu vermitteln, viel räumlichen und zeitlichen Abstand, sie zu verstehen. Alles war gefühlsmäßig gut verpackt und gedanklich so verrückt, daß ich mich darauf einstellen konnte – und sie sich selbst offenbar genauso. Ich antwortete ihr: »Im Moment ist das Ihre Form mir mitzuteilen, daß Sie sich als Nichts fühlen, aber dadurch, daß Sie das aussprechen, merke ich, daß es Sie gibt!«
Ganz anders erging es mir mit einem Borderline-Menschen, der zufällig das gleiche Bild benutzte, aber sich und die anderen ganz anders darin einbaute. Er schrie laut: »Ich bin doppelt gefangen in den Klauen eines Löwen in einem Käfig. Mich befreien wollen, heißt, daß die andern zerrissen werden. Kommen Sie mir ja nicht zu nahe!« Dabei holte mich sein Blick sogartig dicht heran. Sein schneidender Tonfall ließ mir den Atem stocken. In diesem Augenblick war ich als Löwe angeklagt und wurde als Dompteur herausgefordert. Ich fühlte mich regelrecht bedroht. Dadurch war ich für einen Moment so auf mich zurückgeworfen, daß ich nur mit Mühe in meiner Rolle als Therapeut bleiben konnte. Als wir unmittelbar danach die Bruchstelle unseres Kontakts besprachen, lösten sich seine und meine Anspannung zusehends.
Am Telefon und in der persönlichen Begegnung mit Borderline-Menschen, fühle ich mich nicht selten überfallen, weil sie oft kein Blatt vor den Mund nehmen. Typisch sind krasse Abwertung oder Überschätzung. Das hört sich dann z. B. folgendermaßen an:
»Haben Sie überhaupt Zeit? Sie haben keine Geduld!«
Oder: »Mehrere Ärzte haben mich schon abgelehnt, man hat mich total fallenlassen. Sind Sie mir gewachsen?«
Oder: »Mein letzter Therapeut hat völlig versagt, aber von Ihnen habe ich nur das Beste gehört …«
Von allen Menschen, die eine Therapie oder Beratung aufsuchen, dürften weit über 30 % Borderline-Symptome haben oder ausgeprägte Borderline-Menschen sein. Aber nur mit einem kleinen Teil von diesen gelingt es, ihre Therapie und Beratung sinnvoll oder gar erfolgreich abzuschließen. Was macht es für beide Seiten so schwierig? Der Wirkungsgrad eines Therapeuten hängt von seiner Fähigkeit ab, sich einzulassen und abzugrenzen, also sich einzubeziehen, ohne sich zu verwickeln. Borderline-Menschen ziehen zugleich an und erschrecken in ihrer unbestechlichen und unerbittlichen Art und Weise, immer und überall nach glaubwürdigen Gefühlen, nach wirklichem Halt und Orientierung zu suchen. Wer mit ihnen zusammen ihrer Verzweiflung auf die Spur kommen will, muß mit ihnen durch eine Hölle der Verlassenheit waten, sich auf einen Sturm von Wut einlassen und kann auch nach dem Bestehen abgrundtiefer Angst nicht unbedingt mit festem Boden rechnen. Wenn Haß und Liebe sich in einem Menschen umarmen können, bedeutet das: jemand kann haßerfüllte und liebevolle Regungen gleichzeitig in sich ertragen, gewichten oder ausgleichen, muß nicht schwarz oder weiß denken. Einem Borderline-Menschen gelingt es nicht,...