Vorwort Gefangen im Netz der Zauberer
Sie lassen mich nicht los, die Zauberer der Familie Mann mit all ihren Masken und Verkleidungen, die sie in der Realität ihres Seins und in der ihrer literarischen Werke angenommen haben. »Zauberer« wurde Thomas Mann von seinen Kindern genannt[1], und so wie sie sich von ihm und seinen Geschichten verzaubern ließen, haben sich Leserinnen und Leser vom Zauber seiner Werke einfangen lassen. Auch der Bruder Heinrich, der andere Schriftsteller dieser Generation der Familie, war ein Zauberer, der von vielen sogar für größer gehalten wird als der mehr gerühmte Bruder. Und Klaus – der mit weiteren Namen Heinrich Thomas hieß – wurde des Vaters und des Onkels »Zauberlehrling«, der vielleicht tatsächlich »die Geister, die er rief«, nicht wieder loswurde und sich in seinen und ihren Geschichten tödlich verstrickte. Mich haben von jeher nicht nur einzelne Werke von Thomas, Heinrich und Klaus Mann fasziniert, sondern das gesamte Netz, das sie woben, in dem sie sich tragen und hochheben ließen, aus dem sie aber auch hinabstürzten und dabei andere mit sich zogen.
Es ist ein Gewebe aus »wahren« und »erdachten« Geschichten, die für die Beteiligten eine einzige, unentwirrbar verwobene Wirklichkeit darstellten. So stand beispielsweise den Kindern Thomas Manns sein Roman Buddenbrooks näher als die eigene Familiengeschichte.[2] Die Werke gewannen auch für ihre Schöpfer ein Eigenleben, das auf sie zurückwirkte, so daß sie selbst in ihre eigenen Geschichten eingesponnen, eingeschlossen wurden. Wie weitgehend dies geschah und wie sehr sie sich dadurch ihrer Mitmenschen, ja ihrer eigenen Person entfremdeten, wieviel Verwirrung sie in das Netz der Familie brachten, davon soll hier die Rede sein.
Es geht mir darum, die vielen Geschichten der Familie – die zu Literatur gewordenen ebenso wie die nicht gedruckten und die verheimlichten – miteinander zu vergleichen und ihre Wirkung auf die Beteiligten zu betrachten. Dabei spielen ganz besonders auch Geschichten eine Rolle, die aus früheren Generationen überliefert sind. Vieles daraus haben Heinrich und Thomas Mann in ihre Werke einfließen lassen. Und es ist interessant zu sehen, wo sie etwas ausließen, wo sie die Dinge ein wenig verdrehten, mit anderen vermischten oder wo sie etwas hinzufügten.
Aufregend ist es auch, die Geschichten der beiden Brüder, Heinrich und Thomas, zu vergleichen oder die des Sohnes Klaus mit denen des Vaters Thomas. Es tauchen dabei merkwürdige Ähnlichkeiten, spiegelbildliche Verdrehungen, kontrapunktische Gegensätze auf, die dennoch deutlich ihre Herkunft aus demselben Grundgewebe bezeugen und zusammengenommen eine einzige Gestalt, ein dichtes Bild ergeben.
Dieses Bild kann wiederum vielerlei Formen annehmen, die von uns, der Betrachterin, dem Betrachter, abhängen. Wir selbst werden Teil dieses Gewebes, wenn wir es uns anschauen. Wir wählen aus, ergänzen Fehlendes, erkennen Muster und Zusammenhänge in einem Prozeß, der uns selbst und unseren eigenen Lebenskontext widerspiegelt. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, »objektiv« zu bleiben, auch wir sind von dem Netz umspannt. Die Rollen von Frau oder Mann, Tochter oder Sohn leben auch wir in unseren jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhängen, eine Familie haben wir alle. Die Geschichte einer anderen Familie zu erzählen oder sich anzuhören heißt immer auch, sich mit der eigenen zu konfrontieren.
Anfangs näherte ich mich mit einer sehr kritischen, ja anklagenden Haltung der Familie Mann. Als ich 1982 mit dieser Studie begann, war ich ganz auf der Seite des Sohnes Klaus, dessen Selbstmord mich erschütterte. Ich klagte Thomas und Katia, die Eltern, an, die vielen Appelle, die der Sohn schon als Kind an sie gerichtet hatte, überhört zu haben und ihn dem Grauen des Verlassenseins, der Kälte ausgesetzt zu haben. Aber dann entdeckte ich die Trauer und Verlassenheit, die Thomas und Katia – beide auf verschiedene, aber auch wieder ähnliche Weise – selbst in ihrer Kindheit erleiden mußten. Ich suchte immer mehr nach Zusammenhängen in ihrem Leben, auch im Leben der Menschen aus früheren Generationen, und es ergab sich für mich ein Bild, in dem es keine geradlinigen, eindeutigen Beziehungen von Ursache und Wirkung gab, sondern eben Geschichten von Menschen, die sich für Klaus mehr oder weniger direkt zur Geschichte seines Freitods verdichteten. In jeder dieser Geschichten entdeckte ich Elemente, die auch ihm einen anderen Weg ermöglicht hätten, wenn er sie hätte aufgreifen und zu seiner Geschichte machen können.
Besonderes Augenmerk habe ich auf die Personen gerichtet, die im Schatten der drei Dichter standen. Es sind vor allem Frauen, deren Biographien sehr viel lückenhafter dokumentiert sind als die ihrer Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne. Viel Material, vor allem in Form von Briefen, liegt noch unveröffentlicht in Archiven oder ist in Privatbesitz in aller Welt verstreut. Wie wichtig aber zum Beispiel die teilweise noch unveröffentlichten Briefe der Mutter von Thomas und Heinrich Mann für das Verständnis der Söhne ist, werde ich anhand mehrerer Beispiele aus dem Archivmaterial aufzeigen. Die Gestalten im Schatten zu erkennen ist sehr mühsam, und es verwundert nicht, daß sie meist gar nicht oder nur beiläufig erwähnt werden. Wie oberflächlich oder auch unverständlich dadurch die Biographik, aber auch die literaturwissenschaftliche Analyse mancher Werke sein kann, werde ich versuchen nachzuweisen.
Um in der Flut der Bilder, Geschichten und Strukturen nicht verlorenzugehen, werde ich mehreren roten Fäden folgen: Es soll zunächst um die Geschichte von Klaus Manns Selbstmord gehen, den er mit 42 Jahren beging. Dabei frage ich nicht in erster Linie nach Ursachen oder Gründen, ich interessiere mich nicht für seinen »Todestrieb« oder seine »charakterliche Labilität«, die man für seine Selbsttötungsneigung herangezogen hat. Mein Interesse gilt Geschichten, die Ereignisse, Figuren, Erlebnismuster aus der Vergangenheit von Klaus, aber auch aus der Vorvergangenheit, also aus der Vergangenheit seiner Eltern und Voreltern, mit dem Muster Selbstmord verbinden. Das heißt auch, daß ich nicht nur nach Selbstmorden in anderen Generationen Ausschau halte, sondern auch nach Themen suche, die mit Schuld, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Haß und Tod zusammenhängen und sich in verschiedenartigsten Familienereignissen konkretisieren. Derartige Muster im Familiennetz – so meine Hypothese – liegen Klaus’ Tat zugrunde, auch wenn sie ihm selbst weitgehend nicht bewußt waren.
Die literarischen Werke von Klaus, Thomas und Heinrich Mann sind für meine Betrachtung eine ebenso wichtige Quelle gewesen wie Briefe, Tagebücher, autobiographische Aufzeichnungen, Notizbücher und anderes mehr, das von ihnen selbst oder von anderen Mitgliedern der Familie überliefert ist. Daß ich in meinen Schlußfolgerungen oder Hypothesen dabei nicht immer der herkömmlichen Biographik oder literaturwissenschaftlichen Deutung folge, versteht sich von selbst.
Bei der Fülle des von mir herangezogenen Materials ist es allerdings unvermeidlich, daß mir trotz aller Sorgfalt Fehler unterlaufen sind. Für entsprechende Hinweise bin ich dankbar.
Danksagung
Vielen Menschen bin ich für Anregungen, für Materialsuche und -bereitstellung sowie für konkrete technische Hilfe zu Dank verpflichtet. Roland und Eva Hermann gaben mir den ersten Anstoß, mich mit der Familie Mann zu beschäftigen, sie lockten mich auf die Fährte. Friederike Koch stellte mir den unveröffentlichten Stammbaum der Familie Bruhns und wichtige, ebenfalls unveröffentlichte autobiographische Schriften von Familienmitgliedern zur Verfügung. Die Gespräche mit ihr und ihrer Tante, Marie Riebeling (die eine Halb- oder Stiefkusine von Thomas und Heinrich Mann ist), gaben mir Einblicke in die Geschichte der Familie Bruhns, die bislang in der Biographik unbeachtet geblieben ist. Dank auch an Hermann Grabe, der mir Familienfotos überließ. Günther Mann steuerte interessantes Material aus seinem Zweig der Familie Mann bei, der ebenfalls bisher kaum Beachtung gefunden hat. Klaus Hubert Pringsheim, Tamara Marwitz und Claudia Reuter-Meyns gaben mir Informationen über die Familie Pringsheim. Johannes Kempf und Heike Brandt stellten mir Material über die Familie Hedwig Dohms zur Verfügung. Elisabeth Mann Borgese, Frido Mann und Jindrich Mann ergänzten die Angaben über ihre Familien. Von Rosemarie Alder erfuhr ich bislang Unbekanntes über die Familie Löhr.
Die Mitarbeiter im Thomas-Mann-Archiv in Zürich, im Heinrich-Mann-Archiv der Akademie der Künste in Ost-Berlin, im Erika- und Klaus-Mann-Archiv in München, im Archiv der Hansestadt Lübeck sowie im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck waren mir bei der Materialsuche behilflich. Vor allem danke ich der – leider verstorbenen – Anita Naef für ihre unschätzbare Hilfe bei meinen Recherchen.
Dankbar bin ich auch allen, die mein Manuskript in verschiedenen Stadien seiner Entstehung ganz oder in Teilen gelesen und mich auf Schwächen oder Ungenauigkeiten hingewiesen haben: Sibylle Krüll, Rom; Heidrun und Theo Meier-Ewert, Bonn; Klaus Jodeit, Lübeck; Marga Monheim-Geffert, Bonn; Ilse Henle, Bonn; Friederike Koch, Hamburg; Günther Mann, Göttingen. Anderen, die mir beigestanden haben, sage ich ebenfalls Dank.
Ganz besonders danke ich meiner Lektorin Claudia Schlottmann und meiner Verlegerin Elisabeth Raabe, die es ermöglicht haben, daß das Buch so erscheinen kann, wie ich es mir gewünscht...