Eine geniale Erfindung
Stellt man sich die Zeitspanne, seit der es Leben auf der Erde gibt, als einen Tag vor, so wurde Stillen erst zu Beginn der 24. Stunde »erfunden«, genauer gesagt: vor etwa 165 Millionen Jahren. Jetzt entwickelte der gemeinsame Vorfahr von Beuteltieren und höheren Säugetieren spezielle Drüsen, von denen der Nachwuchs ein nahrhaftes Sekret auflecken- oder aufsaugen konnte. Die Möglichkeit, den Nachwuchs direkt am Körper mit einer nährstoffreichen Spezialnahrung zu versorgen, ersparte den Eltern so manchen Weg – schließlich müssen die frisch gebackenen Eltern nicht mehr im Minuten- oder Stundentakt Futter für ihre Kleinen herbeifliegen oder herbeischleppen!
Die geniale Lösung hat aber auch Nachteile. Alles hängt nämlich nun an der säugenden Mutter – sie allein trägt jetzt die »Kosten« für die Ernährung der Kleinen.
Dabei kommen Menschenmütter noch relativ glimpflich davon. Denn auch wenn so manche Mutter am Anfang mit dem Wechseln der Stilleinlagen kaum nachkommt – bezogen auf das Körpergewicht produzieren Menschenmütter weniger als ein Zehntel der Milchmenge, die etwa kleine Nagetiere ihrem Nachwuchs anbieten.7 Und auch im Bezug auf den Kaloriengehalt findet sich Muttermilch auf der sparsamen Seite. Die Milch des Seehundes etwa ist mit einem Fettgehalt von 60 Prozent etwa 15-mal fetthaltiger als die Muttermilch.
Ein Idiotenjob?
Die Ratgeber-Folklore mit ihren samtweichen Bildern stillender Mütter suggeriert, dass die Milch immer problemlos läuft. Und auch nicht wenige Kinderärzte sind der Meinung, Stillen sei eine »intuitive Angelegenheit«, die automatisch klappt.
Die Natur scheint da etwas skeptischer zu sein und durchaus mit Hindernissen zu rechnen: Das für das Einsetzen der Milchproduktion nach der Geburt mit verantwortliche Hormon Prolaktin wird immerhin vier Tage lang in sehr hohen Konzentrationen vorgehalten – erst dann sinken die Hormonspiegel ab.
Der Mensch nutzt diese lange Leine der Natur reichlich aus. Nicht wenige Kulturen halten die an Immunstoffen reiche Vormilch (Kolostrum) für nicht geeignet und legen das Baby deshalb in den ersten Tagen nicht an. Die Quetcha in Peru geben stattdessen kurz nach der Geburt Tee und Gemüsebrühe. In Indien benutzen Mütter noch heute eine Mischung aus Butterfett (Ghee) und Honig, um das Kolostrum zu ersetzen. Mütter auf Bali nehmen Reismilchbrei als Ersatz. Bei den Efe in Zentralafrika wird das Neugeborene so lange von einer anderen Frau des Stammes gestillt, bis bei der Mutter die Milch einschießt. Die steinzeitlich lebenden Kung in der afrikanischen Kalahari schreiben der Vormilch schädigende Wirkungen zu und drücken zunächst die Brust sogar aus – mit schlimmen Folgen: Die Säuglingssterblichkeit ist deutlich erhöht, wenn Kinder ohne Kolostrum auskommen müssen.33
Intuitives Grundmuster
Die »natürliche« Kompetenz in Sachen Stillen scheint also nur lose in uns Menschen eingekabelt zu sein. Andererseits sind gewisse intuitive Grundmuster aber durchaus angelegt: Das Neugeborene arbeitet sich nach der Geburt systematisch an die Mutterbrust heran – wird es auf den Bauch der Mutter gelegt und nicht gestört, so findet es fast immer die Brust und beginnt daran zu saugen.34
Interessanterweise steuert das Baby dabei häufiger die linke als die rechte Brustwarze an. Das könnte mit dem Herzschlag zu tun haben, an den das Baby vom Mutterleib her gewohnt ist (eine detaillierte Diskussion wird uns in Kapitel 14 begegnen). Dieser Vorliebe tragen die Mütter übrigens Rechnung: 83 Prozent der rechtshändigen und 78 Prozent der linkshändigen Mütter halten ihr Kind intuitiv so, dass es in der bevorzugten Linksposition zu liegen kommt. (Kein Wunder, dass auch auf den meisten Madonnenbildern der Renaissance das Baby »links« liegt. Selbst von Kindern werden Puppen nach links getragen, andere Gegenstände dagegen ohne Vorzugsrichtung.35)
Aber verglichen mit der zentralen Bedeutung, die die Muttermilchernährung für das Überleben hat, erscheint die intuitive Absicherung des Stillens doch recht bescheiden. Selbst aus traditionellen afrikanischen Gesellschaften werden Stillprobleme berichtet: »Wenn die Mutter selbst nicht stillen kann«, berichtet etwa der Völkerkundler Kidd im Jahr 1906, »so fertigt sie ein Fläschchen aus einem Ledersäckchen mit Öffnung und hält dieses so vor ihre Brust, als stille sie.«36
Ganz schön schwierig!
Im Vergleich zu den anderen Säugetieren ist Stillen beim Menschen eine komplizierte Sache. Im Tierreich bedient sich der Nachwuchs selbst an den Zitzen, und auch bei den meisten Affenarten kraulen sich die Babys einfach ins Fell der Mutter und saugen drauflos – die Affenmama kann dabei sogar von Ast zu Ast springen.
Anders beim Menschen. Die Menschenmutter muss die Signale ihres Babys deuten, den richtigen Moment erkennen, es hochnehmen, das Baby in geeigneter Weise »anlegen«, das Kind immer wieder umlagern, sein Befinden wahrnehmen und und und … Kurz: Stillen ist ein vielschichtiges, kompliziertes Wechselspiel mit allen Verwicklungen und Missverständnissen, die dabei entstehen können.
Dazu kommt, dass die menschliche Brust im Vergleich zu den übrigen Säugetieren recht »unhandlich« ist – sie ist weitaus größer als bei allen anderen Arten, und in vielen Fällen auch weniger »saugbar« als die sonst üblichen, mundgerechten Zitzen der restlichen Säuger.8
Aber selbst im Tierreich läuft Stillen nicht zu 100 Prozent instinktiv ab, sondern beruht teilweise auf Imitation oder sozialem Lernen. Bei »unnatürlich« – etwa getrennt von ihrer Gruppe – aufgezogenen Affen lassen sich durchaus Stillprobleme beobachten. Eine Gorillamutter beispielsweise, die ohne Kontakt mit stillenden Müttern aufwuchs, hielt ihr erstgeborenes Baby falsch herum an die Brust – also mit dem Hinterkopf zur Brustwarze. Das Kind musste ihr weggenommen werden. Bei der nächsten Schwangerschaft wurden stillende Menschenmütter vor dem Käfig aufgereiht, und die Gorillafrau durfte beobachten, wie frau es richtig macht – dieses Mal konnte sie problemlos stillen. Teilweise wurden den Gorillamüttern auch Videoaufnahmen von stillenden Gorillamüttern in der Wildnis gezeigt.37
Vorbereitet, aber nicht automatisch
Alles spricht also dafür: Stillen ist kein automatisch ablaufender Reflex und auch nichts, was man mit links erledigt. Manche intuitive Zutaten sind vorhanden, aber es braucht mehr als nur Intuition. Stillen muss von Menschenmüttern zu einem guten Teil erlernt werden – und das erklärt, warum es zwischen Babymund und Mutterbrust nicht immer klappt. Biologen nennen ein solches Verhalten »kanalisiert«: Das Verhalten ist relativ leicht zu lernen, aber es klappt nicht automatisch.
Dass Lernen eine Rolle spielt, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass Stillen mit jedem Kind leichter wird – und auch die Anleitung durch andere Mütter, Hebammen oder Stillberaterinnen kann beim Lernen helfen.
Stillhindernisse
Zum anderen braucht es zum Stillen auch die »situative Bereitschaft«. Erschöpfung, Anspannung, Angst und Überforderung torpedieren das Stillen. Sowohl das für die Milchbildung verantwortliche Hormon Prolaktin als auch das für den Milchfluss verantwortliche Oxytozin werden durch psychische Anspannung beeinflusst: Stress begünstigt Milchstau, die Milch kann im wahrsten Sinne des Wortes nicht fließen.
Und dann sind da weitere, handfeste Hindernisse, von denen manche so alt sind wie die Menschheit: die wunden Brustwarzen, die Hohlwarzen, der Milchstau. Andere Hindernisse sind neu ins Spiel gekommen, vor allem das Übergewicht. Mütterliches Übergewicht geht mit insgesamt niedrigeren Prolaktinspiegeln nach der Geburt einher, dadurch kann die Milchbildung in manchen Fällen unzureichend sein.38 Dazu kommt, dass das Stillen durch die größeren Brüste und den größeren Abstand zum Kind auch »mechanisch« schwieriger ist.39 Auch die Sorge über die zukünftige Form der Brust gehört zu den Hindernissen, die heutige Frauen bei ihrer Entscheidung für oder gegen das Stillen mental zu übersteigen haben.
Nicht zu unterschätzen sind aber auch soziale Hindernisse: Die Ernährung des gestillten Kindes kann unter den Eltern nur schwer geteilt werden, die stillende Mutter ist also stark »angebunden«. Tatsächlich ist Stillen auch heute noch an vielen Arbeitsplätzen eine echte Behinderung. Auch trinken gestillte Kinder insgesamt häufiger als mit Kunstmilch gefütterte Kinder, und das leider auch nachts – eine zusätzliche Belastung.
Kulturelle Einflüsse
Ein in den USA beliebtes Stillbuch heißt »The Womanly Art of Breastfeeding« (die weibliche Kunst des Stillens). Nach dem bereits Gesagten haben die Autorinnen den Titel vielleicht ganz gut ausgewählt: Das, was uns so »natürlich« erscheint, ist ein Stück weit wirklich eine Kunst. Und wie bei jeder Kunst gibt es auch beim Stillen nichts, über das Einigkeit bestünde. Wie oft Kinder zu stillen sind, wie lange sie trinken sollen, ob nur eine Brust oder zwei zu reichen sind, ob Kinder nachts freien Zugang zum Busen haben sollen – all diese Fragen werden von Land zu Land, von Zeit zu Zeit, von Schicht zu Schicht, von Familie zu Familie und von Frau zu Frau unterschiedlich beantwortet.
Und auch die Männer wollen mitreden. Im Mittelalter waren es die Priester, sie warnten Mütter davor, »mit Wollust« zu stillen (was immer sie damit meinten). Brouzet, der Arzt von Ludwig XV von Frankreich, sprach sich sogar für ein Gesetz aus, um Müttern von zweifelhaftem Ruf das Stillen zu...