Auf der Spur des Hundes
Jahrelang hat die Wissenschaft ausgerechnet den Hund, den treuesten Begleiter des Menschen, völlig vernachlässigt. Doch seit einiger Zeit widmen sich Experten um so intensiver dem allerersten Haustier. Dieses Buch präsentiert die neuesten Erkenntnisse der renommiertesten Hundeforscher der Welt.
Vendel zögert keine Sekunde. Mit einem Satz stürzt er sich auf den kleinen Plastikball, der vor seiner Nase über den Boden rollt. Vendel ist ein Belgischer Schäferhund, drei Jahre alt und äußerst lebendig. Momentan jagt er in einer für ihn nicht alltäglichen Umgebung nach Bällen: in einem schmalen Zimmer mit einer verspiegelten Fensterscheibe, die eine Verbindung zum Nebenraum bildet. Dort steht ein Bildschirm mit zweigeteiltem Monitor, auf den eine Videokamera Vendels Aktivitäten aus zwei Perspektiven überträgt.
Auch das Ballspiel verläuft anders, als Vendel es vermutlich gewohnt ist. Es folgt einem genau definierten Ablauf: Vor dem Hund befinden sich zwei kleine, runde Sokkel auf dem Boden. Auf diesen wurden Glasbehälter plaziert, an deren Oberseite eine Schnur befestigt ist, ähnlich wie an einer Marionette. Eine der beiden Glasglocken ist durchsichtig, die andere intransparent.
Vendel hat Gesellschaft von Claudia de Rosa, einer jungen Italienerin. Claudia weckt die Aufmerksamkeit des Hundes und macht sich an den Gefäßen zu schaffen: Sie hebt mit der Hand das durchsichtige für zwei, drei Sekunden an, stellt es anschließend wieder auf den Sockel. Dann zieht sie, von Vendel unbemerkt, an der Kordel, die am anderen Glas hängt. Der Behälter schwebt ein Stück empor, und der Ball rollt heraus. Danach richtet Claudia wieder die Ausgangsposition ein: Beide Glasglocken ruhen wie zuvor auf ihren Sockeln; eine aufgrund ihrer Transparenz leicht einsehbar, die andere undurchsichtig; erstere leer, die zweite mit dem Ball bestückt, den sie vom Boden aufgehoben und zurückgelegt hat.
Was Claudia de Rosa hier veranstaltet, ist Teil eines wissenschaftlichen Experiments. Sie ist Verhaltensforscherin, und Vendel dient, obwohl er sichtlich Spaß hat, eigentlich als Versuchstier. Verknappt ausgedrückt, will Claudia wissen: Welches ist der stärkere Reiz – die Bewegung ihrer Hand oder der Ball?
Um den Hintergrund dieser Fragestellung zu verstehen, bedarf es einer kurzen Erklärung von Claudias Arbeit: Sie ist für ein Jahr Mitglied in einer rund zwanzigköpfigen Forschergruppe an der Eötvös Loránd University in Budapest. Im sechsten Stock von Ungarns größter Universität ist das Department für Ethologie untergebracht – mit perfektem Ausblick auf die Donau und die Altstadt jenseits des Flusses. Außen in satten Backsteintönen gehalten, verströmt das Innere des Gebäudes den typischen Charme moderner Bürotürme: Die ebenso nüchternen wie funktionellen Arbeitsräume, gruppiert um mit strapazierfähigem Kunststoff ausgelegte Flure, könnten sich im Prinzip auch in jedem anderen Geschäftskomplex befinden, gäbe es nicht eine augenfällige Abweichung: die Hunde.
Wer das Institut durch die gläserne Sicherheitstür betritt, darf getrost darauf wetten, zuerst von einem Hund begrüßt zu werden, der neugierig aus einem der Zimmer späht. Immer wieder tut es ihm ein Artgenosse gleich, streicht dann an den am Gang stehenden und Forschungsdaten debattierenden Menschen vorbei, beschnuppert einen Besucher, trabt schließlich vorzugsweise zur offenen Kaffeeküche am Ende des Flurs, um etwas Eßbares zu erhaschen oder um sich auf den Rücken zu rollen und sich das Fell kraulen zu lassen.
So sehen hier die Versuchstiere aus.
»Die Leute fragen immer wieder, wo wir eigentlich all unsere Hunde halten«, sagt Ádám Miklósi. »Ich antworte jedesmal: nirgends. Die gehen am Abend alle nach Hause.«
Miklósi ist wie Claudia Verhaltensforscher. Der 44jährige Assistenzprofessor scheint ständig auf Achse zu sein: Mal beantwortet er Fragen eines Studenten oder zückt den Kalender, um eine Anmeldung für ein Seminar zu notieren; mal berät er eine junge Kollegin bei der Konzeption einer Testreihe; mal beobachtet er die Auswertung einer Videoaufzeichnung und wirft ein paar Tips ein. Vor allem jedoch koordiniert er eine Vielzahl jener Studien, die hier durchgeführt werden: Er entwickelt Ideen für neue Experimente, überlegt die optimale Versuchsanordnung, kümmert sich um die Veröffentlichung der Ergebnisse.
Bloß eines tut Miklósi nicht: Er hält hier keine Hunde. Es gibt keine Labors, und es gibt keine Zwinger. Sämtliche Tiere, die an Studien teilnehmen, stammen von Hundehaltern, die Interesse an der Arbeit der Forscher haben und deshalb ein paar Stunden ihrer Zeit opfern. Sie bringen ihre Tiere ans Institut oder sind damit einverstanden, daß die Wissenschaftler sie zu Hause besuchen, um Tests im privaten Umfeld durchzuführen. Auch der Begriff »Experimente« ist irreführend: Denn fast immer handelt es sich um spielerische Situationen, bei denen die Hunde für das Lösen bestimmter Aufgaben belohnt werden.
Auf Hunde konzentrieren sich Miklósi und seine Kollegen seit rund zehn Jahren. In diesem Zeitraum haben die Experten beinahe drei Dutzend wissenschaftlicher Publikationen verfaßt – mehr als jede andere Forschergruppe auf der Welt. Die Arbeit der Wissenschaftler kreist dabei fast ausschließlich um ein Kernthema: um den Verstand des Hundes. Oder um die fachliche Terminologie zu verwenden: Sie untersuchen die kognitiven Fähigkeiten des Haushundes.
Im Speziellen geht es fast immer um das soziale Wechselspiel mit dem wichtigsten Partner des Hundes: mit dem Menschen. Die zentralen Fragen lauten: Wie kommunizieren Hund und Mensch miteinander? Welche Ausdrucksformen des Menschen versteht der Hund? Verfügt er, wie die meisten Hundebesitzer wohl nachdrücklich behaupten würden, tatsächlich über herausragende Klugheit? Denken und tikken der Mensch und sein vierbeiniger Gefährte womöglich sogar ähnlich? Was die ungarischen Verhaltensforscher mit strengen akademischen Methoden zu ergründen versuchen, ist nicht weniger als das Geheimnis der einzigartigen Beziehung von Mensch und Hund.
Auf einen Detailaspekt in diesem Zusammenhang zielte auch das Spielchen mit Vendel ab. Er konnte sich bei seiner Suche nach dem Ball an zwei konträren Hinweisen orientieren: entweder an Claudias Hand, welche das sichtbar leere Glasgefäß anhob, oder am Ball selbst, der aus dem anderen Behälter rollte. Es wurden absichtlich zwei widersprüchliche Informationen geliefert: eine irreführende, die vom Menschen kam, und eine, bei der Vendel auf seine eigene Beobachtung angewiesen war, die aber Erfolg signalisierte. Die Experten wollten auf diese Weise herausfinden, wie sehr sich der Hund auf Hinweise des Menschen verläßt.
Bei Vendel war die Sache eindeutig: Er ließ sich von Claudia nicht in die Irre führen und sprang sofort auf jene Glasglocke zu, unter welcher der Ball wirklich steckte. Doch das ist keineswegs immer der Fall: Andere Studien zeigen, daß der Mensch Hunde in hohem Maß beeinflussen kann; daß sie mitunter sogar ihrem phänomenalen Geruchssinn mißtrauen, wenn ihnen der Mensch einen Wink gibt; daß sie manchmal scheinbar unsinnige und für sich selbst nachteilige Dinge tun, wenn der Mensch sie dazu verleitet.
Das Experiment mit Vendel demonstriert zugleich, wie Miklósi und seine Kollegen arbeiten. Sie müssen sich komplizierte Szenarien einfallen lassen, ein sorgfältig ausgetüfteltes »Studiendesign«, um beweisen zu können, was viele Laien als evident ansehen: Praktisch jeder Hundebesitzer würde wohl aufgrund seiner Erfahrungen und Alltagsbeobachtungen die Ansicht vertreten, daß sein Hund ihn »versteht« und sich bei seinen Handlungen etwas »denkt«. Ein simples Beispiel: Ein Hund schnappt sich flugs ein Wurstbrot vom Küchentisch, während sein Herrchen gerade nicht aufpaßt. Was sagt dies über den Hund aus? Was mag in seinem Kopf vorgegangen sein? Hat er gezielt gewartet, bis sein Besitzer kurz unaufmerksam war? Hat er seine Missetat also geplant? Aus wissenschaftlicher Sicht sind solche Mutmaßungen blanke Spekulation, und es könnte ebensogut sein, daß das Wegsehen des Menschen und das Klauen des Wurstbrots bloß zeitlich zufällig zusammenfielen. Erst wenn eine große Anzahl von Tieren unter kontrollierten Bedingungen immer wieder die gleichen Aktionen setzt, lassen sich gewisse generelle Verhaltensmuster daraus ableiten. Die Ungarn müssen sich stets mit der Frage auseinandersetzen: Wie untermauert man eine bestimmte Theorie nach wissenschaftlichen Kriterien?
Solcher Belege bedarf es aus zwei Gründen.
Erstens: Stimmt die verbreitete Volksmeinung über Hunde und deren angebliche Schlauheit überhaupt? Oder sind die Menschen vielmehr Opfer ihres Wunschdenkens und reden sich hartnäckig eine gemeinsame Verstandesebene, eine Art der Geistesverwandtschaft mit ihren Lieblingen ein, die gar nicht existiert? Nicht selten wird Hundebesitzern schließlich eine Verklärung der Beziehung zu ihren Haustieren unterstellt, eine absurde »Vermenschlichung« des Hundes. Es bedarf schlicht deshalb wissenschaftlicher Studien, um all die geläufigen Annahmen und Einzelbehauptungen zu beweisen oder zu widerlegen. Es bedarf ausgeklügelter Testreihen, um repräsentative und allgemeingültige Ergebnisse zu erzielen – ebenso wie ein neues Medikament gegen Erkältungen zahlreiche Phasen klinischer Prüfung durchlaufen muß und es nicht genügt, wenn ein paar Anwender von positiven Wirkungen berichten.
Zweitens: Sofern es zutrifft, daß zwischen Mensch und Hund tatsächlich besondere Eintracht herrscht – was könnten die Ursachen dafür sein? Wenn sich eine rationale, eine plausible Erklärung dafür finden ließe, würde das nicht nur den Wissensstand der Fachwelt erweitern, sondern dem durchschnittlichen Hundebesitzer auch argumentative...