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E-Book

Neue Fischer Weltgeschichte. Band 5

Europa in der frühen Neuzeit

AutorRobert von Friedeburg
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheNeue Fischer Weltgeschichte 5
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783104024059
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Reformation, Aufklärung, Revolution: Europa an der Schwelle der Neuzeit Der erste Europa-Band der Neuen Fischer Weltgeschichte widmet sich der frühen Neuzeit (ca. 1500-1800). Reformation und Konfessionalisierung, Kriege und Aufklärung veränderten bis zur Französischen Revolution grundlegend das Verhältnis von Individuum, Glauben und Gesellschaft. Die damit einhergehende Transformation des von christlichen Fürsten dominierten Europa zu einem Europa souveräner Staaten steht im Mittelpunkt der Darstellung des Neuzeithistorikers Robert von Friedeburg. Die »Neue Fischer Weltgeschichte« ist die erste umfassende Universalgeschichte des 21. Jahrhunderts. Ihr stringentes Konzept setzt Maßstäbe, die Lesbarkeit ihrer Darstellungen erfüllt höchste Ansprüche. Die 21-bändige Reihe wird - wie ihre legendäre Vorgängerin - Standardwerk auf Jahre hin sein: in Schule, Studium, Weiterbildung, für alle wissenshungrigen Leserinnen und Leser.

Robert von Friedeburg ist Professor für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der frühen Neuzeit an der Universität Rotterdam und geschäftsführender Direktor des Erasmus Center for Early Modern Studies.

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Leseprobe

I Strukturen des lateinischen Europa


A Herrschafts- und Sozialstruktur


1. Heiratsmuster, Bevölkerungsentwicklung, Agrar- und Gewerbeproduktion


Die bedeutendste soziale Tatsache des 16. Jahrhunderts war die Zunahme vor allem der west- und mitteleuropäischen Bevölkerung, die in einzelnen Regionen bis zu einer Verdoppelung der Zahl der Menschen führte.

Bevölkerung in Millionen

1500

1700

Südeuropa (Italien, Spanien)

ca. 20

ca. 23,3

West- und Mitteleuropa (Frankreich, Niederlande, Deutschland, Skandinavien)

ca. 36

ca. 51

Quelle: Roger Mols, »Die Bevölkerung Europas 15001700«, in: C. M. Cipolla/K. Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte. Sechzehntes und Siebzehntes Jahrhundert, Stuttgart 1979, S.549, S.5.

Generalisierende Aussagen lassen sich aufgrund der großen regionalen Unterschiede, der unterschiedlichen Quellendichte und der Lücken im Forschungsstand nur mit Vorbehalt machen. Bevölkerung und Wirtschaftsbewegung hingen bereits im Spätmittelalter zusammen. Aus diesem Zusammenhang ergaben sich für Wirtschaft und Bevölkerung zwei Wachstumsbewegungen. Die erste setzte zwischen dem späten 15. und der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein und stoppte im Verlauf des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts. Die zweite begann überwiegend im Verlauf des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts und setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts fort. Diese Wachstumsbewegungen wurden von der Struktur der Familien- und Haushaltsgründung in weiten Teilen West-, Nordwest- und Mitteleuropas sowie von der Wirtschafts- und der davon abhängigen Einkommenslage der breiten Bevölkerung bestimmt.

Während die wichtigsten Ursachen frühneuzeitlicher Mortalität, wie Infektionskrankheiten, Hungerkrisen und die Kindersterblichkeit, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts überwunden wurden, blieb die Anzahl der außerehelich geborenen Kinder in der Regel gering. Hier wurde seit dem Spätmittelalter zunehmend streng und erfolgreich durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit gehandelt. Die in die Neugründung eines eigenständigen Haushalts eingebundene Ehe blieb die mit weitem Abstand wichtigste Quelle demographischer Reproduktion. Die Veränderungen im europäischen Bevölkerungswachstum müssen daher in erster Linie durch den Anteil der überhaupt Heiratenden und in zweiter Linie durch das Heiratsalter der Frauen erklärt werden.

Mit wachsendem Heiratsalter nahm die gebärfähige Periode der Frau und damit auch die mögliche Zahl ihrer Kinder ab. In diversen Gemeinden des Alten Reiches lag beispielsweise das Durchschnittsalter bei der ersten Heirat für Frauen zwischen Mitte und Ende zwanzig, bei Männern zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig. Während bei früher, im Alter von fünfzehn bis neunzehn Jahren, heiratenden Mädchen die Zahl der durchschnittlich geborenen Kinder bei acht, der bis zum fünften Lebensjahr überlebenden Kinder bei sechs lag, brachten Frauen bei einem Heiratsalter zwischen Mitte und Ende zwanzig im Durchschnitt zwischen fünf und sechs Kinder zur Welt, von denen vier Kinder die ersten fünf Lebensjahre überlebten.[8] Bei einem Heiratsalter von dreißig bis Mitte dreißig fiel dann die durchschnittliche Zahl der geborenen (vier) und das fünfte Lebensjahr erlebenden Kinder auf zwei bis drei Kinder.

Im Vergleich mit den meisten außereuropäischen Kulturen, aber auch mit bäuerlichen Bevölkerungen in Russland und auf dem Balkan wurde in West-, Mittel- und Nordeuropa, wenn überhaupt, vergleichsweise spät (nach Mitte zwanzig) geheiratet, vor allem, weil mit der Heirat in der Regel die Gründung eines wirtschaftlich weitgehend von den Eltern unabhängigen neuen Haushalts zwingend verknüpft blieb. Dafür blieben die Heiratenden von ihren Chancen am Land- und Arbeitsmarkt und dem Heiratskonsens von Kirche, Obrigkeit und lokalen Eliten faktisch abhängig. Große Anteile der europäischen Bevölkerungen hatten dadurch nie die Chance zu heiraten. Vor allem durch die Kontrolle der überhaupt Heiratenden, in zweiter Linie durch die Beeinflussung des Heiratsalters, bestimmten die Bevölkerungen ihr eigenes Wachstum. Für diese beiden Pfeiler der Demographie, die mit der Familien- in der Regel zwingend verknüpfte Haushaltsgründung mit sich daraus ergebender Heiratendenquote und das hohe Heiratsalter der überhaupt Heiratenden prägte John Hajnal 1965 den Begriff des »Nord-Westeuropäischen« Heiratsmusters. Dieses »Muster« schloss Frankreich, England, Mitteleuropa und große Teile Skandinaviens ein und entstand »vermutlich nur einmal in der menschlichen Geschichte«.[9]

Die Entscheidungen von Kirche und weltlicher Obrigkeit besaßen damit einen sehr starken Einfluss auf Haushaltsgründung und Demographie. Gleichzeitig spielten gewerbliche Beschäftigungsmöglichkeiten für die Haushaltsgründung eine wesentlich größere Rolle als in den meisten außereuropäischen, aber auch südost- und osteuropäischen bäuerlichen Gesellschaften. Entgegen den in verklärender Weise während des 19. Jahrhunderts entwickelten und bis weit in das 20. Jahrhundert verbreiteten Ansichten bestand der europäische Haushalt in der Regel nicht aus drei Generationen. Abhängig von den agrarischen Strukturen lebten in bestimmten Bauerngesellschaften, beispielsweise in einzelnen Gegenden des Alpenraumes, drei Generationen tatsächlich auf einem Hof, wenn auch kaum unter einem Dach. Bauern als selbständige Agrarproduzenten, die allein von den Erzeugnissen ihres Landes lebten und dieses an die eigenen verheirateten Erben weitergaben, oder selbständige Handwerksmeister mit eigenen Betrieben und Gesellen machten in der Regel nicht die Mehrheit der Bevölkerung aus. Nur eine Minderheit in Stadt und Land verfügte über entsprechendes Erbe von Haus und Grund. Für diese Minderheit der fürstlichen Dynastien und des Adels, der städtischen Patriziate und der großbäuerlichen Familienverbände stellten frühere und arrangierte Heiraten ein strategisches Mittel der Familienhäupter zur Akquisition von Erbchancen und zum Schmieden geeigneter Allianzen dar. Solche Arrangements bestimmten jedoch nicht die europäische Bevölkerungsentwicklung. Für die Mehrheit der Bevölkerung in West- und Mitteleuropa waren die Chancen agrarischer und gewerblicher Erwerbsarbeit im Haupt- oder Nebenerwerb oder die Pacht von Land bestimmend für Lebensunterhalt und Lebensplanung. Neben der Vielzahl der Formen abhängiger Beschäftigung ohne zünftische Einbindung glichen selbst viele Tätigkeiten der Zunft, besonders in den Textilgewerben, beispielsweise bei den Webern, in ihrer Abhängigkeit von Kaufherren keineswegs dem hergebrachten Bild des selbständigen Handwerksmeisters. Wirtschaftliche Selbständigkeit als Bauer oder Handwerksmeister und Abhängigkeit als Tagelöhner, Weber oder ländlicher Parzellenbesitzer gingen je nach Konjunktur, Getreidepreis oder Arbeitslohn ohnehin häufig ineinander über. Selbst Bauern und Handwerksmeister verfügten oft nur über Parzellen zur Teilselbstversorgung oder blieben von der Belieferung durch Kaufleute abhängig. Die Kombination agrarischer Tätigkeiten auf kleiner Parzelle und abhängiger Erwerbsarbeit in Gewerbe oder Landwirtschaft stellte häufig die Regel dar. Dabei kann weder von einem Rückgang der durchschnittlichen Haushaltsgröße noch von einer Abnahme der Bedeutung der Heirat in größeren Verwandtschaftsverbänden ausgegangen werden. Soweit aus dem 15. Jahrhundert, beispielsweise durch die Florentiner Kataster, demographische Befunde vorliegen, bestätigen diese völlig das Bild, welches überwiegend auf Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts beruht. Die durchschnittliche Haushaltsgröße lag schon im 15. Jahrhundert nur zwischen fünf und sechs Personen.

Die überwiegende Mehrheit der Haushalte in West- und Mitteleuropa bestand aus Kernfamilien, Eltern und Kindern, zu denen Gesindeangehörige oder Lehrlinge stoßen mochten. Es galt die Regel, dass die heranwachsenden Kinder ihr Elternhaus im Alter von 13 bis 18 Jahren verließen, um als Gesinde oder Lehrlinge und Gesellen für teils über zehn Jahre vor einer eventuellen eigenen Haushaltsgründung in anderen Haushalten ein Auskommen zu suchen. Dabei stellte die zünftische Ordnung der Lehre, des Gesellenlebens und der Aufnahme in eine Meisterzunft nur einen besonders wohldokumentierten Weg der Wander- und Ausbildungsjahre dar. Zwischen der Aufnahme von Gesinde- bzw. Lehrlings- und Gesellendiensten und der Gründung eines eigenen Haushaltes verblieben die Jugendlichen unter der Autorität der neuen Haushaltsvorstände. Die räumliche Entfernung vom elterlichen Wohnort gestaltete sich von Gegend zu Gegend und von Profession zu Profession völlig unterschiedlich. Diese unverheirateten Jugendlichen machten in den Niedergerichtsquellen praktisch aller frühneuzeitlichen Gemeinwesen, der Kirchen- wie der weltlichen Gerichte, den überwiegenden Teil der Missetäter aus. Insbesondere ihre Geselligkeit führte...

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