Das Medium Fernsehen hat sich seit seinem Aufkommen zu einem integralen Bestandteil des täglichen Lebens entwickelt. „Fernsehen ist Alltag“ (Mehling 2007, S. 19), wie Gabriele Mehling treffend schreibt. Dies gilt auch schon für die frühe Kindheit, wie einige Zahlen aus der Fernsehforschung zeigen: So lag in Deutschland die durchschnittliche tägliche Sehdauer von Kindern im Alter von 3-13 Jahren im Jahr 2008 bei 86 Minuten, Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren sahen immerhin schon 71 Minuten täglich fern (Quelle: AGF/GFK Fernsehforschung, 2008). Die tägliche Reichweite des Fernsehens betrug im Durchschnitt 56%. Das bedeutet, dass etwas über die Hälfte aller Kinder in Deutschland das Medium Fernsehen täglich nutzen (Ebd.). Angesichts dieser Zahlen und auf Grundlage der im ersten Teil dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse über frühkindliche Bildungsprozesse – hier vor allem ihre Abhängigkeit von und Empfänglichkeit für äußere Einflüsse – wird erkennbar, dass eine mögliche Einwirkung des Fernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse nicht unbeachtet bleiben kann. Diese Einwirkungen sollen im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit näher betrachtet werden. Hierbei wird auf Positionen und Äußerungen der Medienwirkungsforschung, so weit möglich, verzichtet, da diese zwar oftmals vordergründig leicht verständliche und plausible Erklärungsmuster liefern, sich jedoch ob ihrer Reduktion auf simple Ursache-Wirkungs-Prinzipien bei näherer Prüfung häufig als wissenschaftlich eher fragwürdig erweisen[10]. Vielmehr soll in einem ersten Schritt das Fernsehen in seiner Funktion als Medium im wörtlichen Sinne, also als Vermittler, untersucht werden. Das Fernsehen als Vermittler von Weltbildern und als Repräsentant einer eigenen, „sich rasch entwickelnden Medienkultur […], die die lebensweltlichen Horizonte unserer Kinder nachhaltig prägt“ (Erlinger 1997, S. 10) soll hierbei aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und hinsichtlich seines Einflusses und einer möglichen bildenden Funktion befragt werden.
In einem weiteren Schritt wird die Betrachtung des Gegenstandes auf eine Ebene verlagert, welche losgelöst von der Ebene der medial vermittelten Inhalte ist. Hier soll der Akt des Fernsehens aus einer phänomenologischen Sicht als Handeln untersucht werden, wodurch eventuell ein Perspektivwechsel ermöglicht wird. Durch diesen Wechsel, weg von der Frage, was das Fernsehen mit dem Menschen macht, hin zur Frage, was der Mensch mit dem Medium tut, soll die Idee von frühkindlicher Bildung als individuellem Handeln in Wechselwirkung zwischen Subjekt und (medialer) Welt erneut in den Fokus gerückt werden.
Betrachtet man das Fernsehen aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive, so kann man zunächst ganz grundsätzlich feststellen, dass durch das Medium Botschaften vermittelt werden. Mit Hilfe dieser Botschaften oder Informationen, bestehend aus Bildern und Tönen, wird durch das Medium und seine technische Beschaffenheit eine Anwesenheit von etwas Abwesendem geschaffen, ohne dass diese Abwesenheit jedoch aufgehoben werden kann. Das Medium erzeugt somit eine Repräsentation des Abwesenden. Die Welt indes, welche durch das Medium repräsentiert wird, ist eine vermittelte Welt. Die Inhalte, die das Fernsehen vermittelt, sind somit also zwar sinnlich erfahrbar, jedoch handelt es sich gewissermaßen um Erfahrungen aus zweiter Hand, da durch das Medium lediglich Abbilder der Welt präsentiert werden.
Legt man dieser Überlegung Platons Dichterkritik in der Politeia zugrunde, so wird ersichtlich, dass das Fernsehen, analog zum Dichter in Platons Dialog, im Bereich der Nachbildner gesehen werden kann. Ausgehend von der Idee des Bildungsganges als bestmögliche Annäherung an Wahrheit, an die Wirklichkeit, die Welt der Ideen und Begriffe, verortet Platon den Nachbildner indes auf der untersten Stufe, also am weitesten entfernt von der Wahrheit. Dies wird an einem Beispiel verdeutlicht:
Gott aber, ob er nun nicht wollte oder ob eine Notwendigkeit für ihn da war, nicht mehr als ein Bettgestell in der Natur zu machen, so machte er auch nur eins allein, jenes selbst, was das Bettgestell ist. […] Dieses nun wissend, denke ich, hat Gott, weil er wahrhaft der Verfertiger des wahrhaft seienden Bettgestells sein wollte und nicht eines einzelnen Bettgestells, noch auch ein Tischler, es als eines dem Wesen nach gebildet. […] Sollen wir diesen also den Wesensbildner hiervon nennen oder ungefähr so? […] Und wie den Tischler? Nicht den Werkbildner des Bettgestells? – Ja. – Nennen wir auch wohl den Maler Werkbildner oder Verfertiger desselben? – Keineswegs. […] Ich denke, entgegnete er, am schicklichsten nennen wir ihn Nachbildner dessen, wovon jene Werkbildner sind. – Sei es! sprach ich. Des dritten Erzeugnisses Vorsteher von dem Wesen ab nennst du also Nachbildner. […] Dieses also wird auch der Tragödiendichter sein, wenn er doch Nachbildner ist, ein dritter vor dem Könige und dessen wahrem Wesen, und so auch alle andern Nachbildner. (Platon 1994 (370 v. Chr.), S. 508f)
Nach Einführung der dreiteiligen Abstufung von Idee (Wesensbildner), Ding (Werkbildner) und Bild (Nachbildner), wird in einem weiteren Schritt nochmals die Entfernung des (Ab-) Bildes von dem wahrhaft Seienden (welches im Übrigen in einer Sphäre außerhalb der ästhetisch wahrnehmbaren Welt liegt) hervorgehoben, indem verdeutlicht wird, dass es sich bei den Erzeugnissen des Nachbildners lediglich um Abbilder der Erscheinung eines Dinges handelt, also um eine Interpretation des vom Werkbildner geschaffenen Gegenstandes:
Über den Nachbildner also sind wir eins; sage mir aber vom Maler noch dieses. Dünkt er dich darauf auszugehen, von jeglichem jenes eine selbst in der Natur nachzubilden oder die Werke der zweiten Bildner? – Die der Werkbildner, sagte er. – Und wie sie sind, oder wie sie erscheinen? Denn auch dieses unterscheide mir noch. […] Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit? – Der Erscheinung, sagte er. – Gar also so weit von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein Weniges trifft und das im Schattenspiel (Ebd., S. 509).
Die Erwähnung des Schattenspiels kann als Rekurs auf das Höhlengleichnis gelesen werden. Analog zu diesem kann die durch das Fernsehen vermittelte Welt als das Spiel der Schatten gesehen werden, welches die in der Höhle gefangen gehaltenen Menschen betrachten und – in Unkenntnis der wahren Natur der Dinge – für das wahrhaft Seiende halten (Vgl. ebd., S. 420ff). Das Vorgaukeln von Realität durch die Präsentation von Abbildern spiegelt außerdem die bereits genannte, grundlegende Eigenschaft des Mediums wieder, Abwesendes – im Falle des Höhlengleichnisses wäre dies die Welt außerhalb der Höhle – augenscheinlich anwesend zu machen, ohne dessen Abwesenheit tatsächlich aufzuheben. Das Fernsehen simuliert gewissermaßen die Realität und deren Anwesenheit. Das so erzeugte Abbild wiederum wird jedoch zusätzlich durch das Medium als Nachbildner gefiltert und von seinen Erzeugern interpretiert und somit hinsichtlich seines Wahrheitsgehaltes einer weiteren Reduktion unterworfen.
In der Betrachtung des Fernsehens als Nachbildner treten somit mehrere Faktoren in Erscheinung, die auf einen potenziell problematischen Einfluss des Mediums auf frühkindliche Bildungsprozesse hinweisen. Die durch das Medium Fernsehen vermittelte Welt ist im Sinne eines Nachbildes immer als eine Interpretation der Welt zu verstehen und so hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes schwierig einzuordnen. Des Weiteren sind auch die Möglichkeiten der Erfahrungen, welche elementar für die frühe Kindheit und die zu jener Zeit zu durchlaufenden Bildungsprozesse sind, eingeschränkt, da es sich nicht mehr um unmittelbare Erfahrungen in der umgebenden Welt[11] handelt, sondern jene über medial vermittelte und gefilterte Abbilder der Welt gemacht werden[12]. Dieser Aspekt wird umso problematischer, wenn die Interpretationen und Filterungen von ökonomischen Interessen geleitet und bestimmt werden. Dann nämlich, wenn das Medium zum Repräsentanten einer Kultur mit Warencharakter wird.
Bevor auf das Fernsehen als Repräsentant der Kulturindustrie im Speziellen eingegangen wird, sollen zunächst in aller Kürze einige der Prinzipien dargestellt werden, welche Kultur als Industrie, ihre Produkte und ihre Konsumenten charakterisieren.
Der von Adorno und Horkheimer geprägte Begriff der Kulturindustrie beschreibt die Entstehung und die Verbreitung einer Massenkultur, welche sich im Zuge aufklärerischer Tendenzen aus einem vormals nur Wenigen vorbehaltenen Bereich von Kunst und Kultur entwickelt hat. Das Prekäre an dieser Entwicklung ist, dass sie, geleitet von ökonomischen Interessen, industrielle Formen annimmt...