4.3.2 Reaktionen von Fachkräften und Institutionen
Wie bereits im vorangegangenen Kapitel beschrieben worden ist, gibt es im Umgang mit dem Thema Cannabiskonsum in stationärer Jugendhilfe große Unsicherheiten auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte. In der pädagogischen Arbeit mit konsumierenden Jugendlichen äußert sich dies z.B. durch Berührungsängste oder die Befürchtung, für dieses Problem nicht mehr ausreichend qualifiziert zu sein. In der endgültigen Konsequenz lassen sich die o.g. Trends zur Tabuisierung und Ausgrenzung des Problems bzw. des Problemträgers - also des Jugendlchen selbst - als wesentliche Entwicklungswege dorthin ausdifferenzieren. Oftmals geht in der pädagogischen Arbeit, vom Verlauf her betrachtet, auch das Eine in das Andere über, wie u.a. ebenfalls die Ergebnisse einer Evaluationsstudie stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen über Leistungen und Grenzen von Heimerziehung beweisen: „Institutionen verschweigen „Drogenproblematiken“ so lange, bis sie nicht mehr zu verbergen sind (z.B. fehlende Aktendokumentation - Anm. d. Verf.). Ab diesem Moment spielen Intensität und Begleitumstände keine Rolle mehr, und der Pauschalbegriff „Drogenproblematik“ reicht völlig aus.“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000, S. 333)
Spätestens zu diesem Zeitpunkt haben die Mitarbeiter der stationären Einrichtung in der Arbeit mit dem Jugendlichen jedoch vermutlich schon resigniert und eine Beendigung der Jugendhilfemaßnahme als ultima ratio steht wahrscheinlich unmittelbar bevor. Die anfänglichen Reaktionen der Mitarbeiter beim ersten Wahrnehmen des Problems - egal ob dieses nun ausgesprochen und benannt wird, oder doch in jedem Einzelnen verschwiegen bleibt - fallen i.d.R. insgesamt sehr unterschiedlich aus und lassen sich vereinfacht in folgende drei Reaktionsmuster kategorisieren:
Ø Der Polarisierer integriert in seine pädagogische Arbeit sehr stark gesellschaftliche Ideologien und unterscheidet infolgedessen deutlich zwischen Konsumenten legaler und illegaler Drogen. Während die erste Gruppe eher übersehen bzw. generell toleriert wird, bekommt die zweite ein höheres Maß an Aufmerksamkeit geschenkt. Ø Der Beschwichtiger hat nicht selten selbst aktive Erfahrungen mit illegalen Drogen, insbesondere z.B. Cannabis, gemacht und betrachtet Drogenkonsum als jugendtypisches Verhalten. Ø Die große Gruppe der Dramatisierer ist durch den Konsum illegaler Drogen wie z.B. Cannabis stark verunsichert bzw. beunruhigt und dramatisiert deshalb mögliche Folgen des Drogenkonsums. Unter ihnen trifft man oftmals auf Fachkräfte, die keine eigenen Erfahrungen mit illegalen Drogen haben. Bei ihnen ist z.B. der Cannabiskonsum der Jugendlichen stark mit Ängsten besetzt, besonders dann wenn Unklarheit darüber herrscht, inwiefern sie sich selber strafbar machen, wenn sie von dem Konsum wissen. (vgl. Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Baden-Württemberg 1999, Artikel 10, S. 2 ff.) Besonders brisant in der Arbeit mit den Jugendlichen wird es dann, wenn im Team einer Jugendhilfeeinrichtung Vertreter aller drei Kategorien zusammen arbeiten. Hier kommt es dann häufig zu Unstimmigkeiten hinsichtlich dem Konsens unter den Mitarbeitern, welches Gefährdungspotenzial der Drogenkonsum oder die Droge an sich nun nach sich ziehen. Viele Kollegen/-innen fühlen sich dann hilflos, ja geradezu handlungsunfähig: „Unsicherheit ist häufig festzustellen im Hinblick auf die pädagogische Zielsetzung, vor dem Hintergrund des seit Jahren in der Suchthilfe geführten Glaubenskrieges zwischen den Polen der Abstinenz und Akzeptanz. Mitunter werden dabei persönliche Zielsetzung, die Ziele des Teams und des Trägers als unvereinbar betrachtet und womöglich „sicherheitshalber“ gar nicht diskutiert (...). Konsumierende Jugendliche werden nicht selten als Ausdruck eigenen pädagogischen Versagens gesehen. Man ist sich unsicher, was die Grenzen pädagogischen Handelns in der jeweiligen Einrichtung betrifft. Wann muss an welche Fachdienststelle weiterverwiesen werden?“ (Fromm / Kretzschmar 1999, S. 155) 4.3.3 Rechtliche Fragen
Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) stellt den Konsum von illegalen Drogen an sich, somit auch Cannabiskonsum, nicht unter Strafe. Vielmehr wird er hier als eine, durch das System der Grundrechte gesetzlich zulässige, Form der Selbstschädigung betrachtet. (vgl. Münder 1995, S. 13)
Nichtsdestotrotz erfüllen konsumierende Jugendliche in stationärer Jugendhilfe nach § 29 Abs.1 BtMG oftmals eine Reihe strafbarer Handlungen, die mit dem Kontakt zu Cannabis verbunden sind: u.a. Handel treiben, in Verkehr bringen, Abgeben, Veräußern, sich verschaffen, Erwerben, Anbau und Besitz. (vgl. Münder 1995, S. 15 ff.) Zu Zuletztgenanntem ist zu sagen, dass dieser - ungeachtet der Debatte um den Besitz von kleinen Mengen zum Eigenverbrauch - grundsätzlich ebenfalls strafbar bleibt, ausser wenn z.B. das Cannabisprodukt „in verbrauchsgerechter Menge zum sofortigen Verbrauch an Ort und Stelle hingegeben wird.“ (BGH StV 1992, 66, zitiert nach Münder 1995, S. 19) Insofern wird auch die Ansicht vieler cannabiskonsumierender Jugendlicher in stationärer Jugendhilfe entkräftet, dass der Besitz von kleinen Mengen zum Eigenkonsum generell doch erlaubt sei. In der gängigen juristischen Praxis wird diese Fehlhaltung der Jugendlichen oft noch chronifiziert, da es: 1. beim Ermitteln und Erfassen einer Straftat nicht immer zu einer Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft kommt, 2. dies unscharf begründet wird durch ein „mangelndes Interesse“ der Staatsanwaltschaft und in Wirklichkeit wohl eher eine Entlastung der Gerichte bezwecken soll, 3. es insofern noch immer an einer bundesweit einheitlichen Regelung (z.B. Angleichung der „geringen Mengen“ etc.) fehlt, die 4. den Jugendlichen selbst - aber auch den erziehenden Pädagogen - endlich eindeutige Transparenz über strafbares und strafloses Verhalten bringen könnte. Für Mitarbeiter von stationären Jugendhilfeeinrichtungen können im Zusammenhang mit Cannabis bzw. Cannabiskonsum folgende Tatbestände u.U. eine Rolle spielen: Hier kann es z.B. zu einer Strafbarkeit wegen Teilnahmedelikten, insbesondere auch in Form von Beihilfedelikten, kommen. Nach § 29 BtMG wird faktisch jede Teilnahmeform als Begehungsform selbst unter Strafe gestellt, und besonders durch das in § 29 Abs.1 Nr. 10 BtMG unter Strafe gestellte Verschaffen oder Gewähren von Gelegenheiten zum Cannabiskonsum. Dieser Delikt bezieht sich allerdings hauptsächllich auf die bewußte Bereitstellung von Räumen oder Möglichkeiten zum Konsum bzw. infolgedessen auf eine gewollte Förderung des Umgangs mit Cannabis - was wohl in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe eher nicht der Fall sein wird. (vgl. Münder 1995, S. 31 ff.) Trotzdem ist in der stationären Jugendhilfe regelmäßig davon auszugehen, dass eine sogenannte Garantenstellung vorliegt, die dann gegeben ist, wenn besondere Beziehungen
zu einer Person bestehen, die durch strafrechtliche Normen geschützt werden soll. Und nach den Bestimmungen des BtMG soll verhindert werden, dass eben diese Person in Kontakt mit illegalen Drogen kommt bzw. vor dem Umgang mit diesen geschützt wird. Vor diesem Hintergrund kann eben auch der Tatbestand der Unterlassung gemäß § 13 StGB wichtig werden, wenn infolgedessen eine Garantenpflicht besteht, d.h. eine Person steht rechtlich dafür ein, dass ein `Erfolg´ nicht eintritt. Dabei muss jedoch das Unterlassen einem aktiven Tun gleich kommen, durch z.B. eine fördernde Haltung oder das o.g. Bereitstellen von Räumen. (vgl. Münder 1995, S. 33 f.)
Für Mitarbeiter der stationären Jugendhilfe heißt das konkret, dass sie aufgrund der (stellvertretend) übernommenen Erziehungs-, Aufsichts- und Fürsorgepflichten den Cannabiskonsum der Jugendlichen nicht einfach ignorieren können und generell nicht schlicht zusehen dürfen, wenn in gefährlicher Weise mit Betäubungsmitteln in der Jugendhilfeeinrichtung hantiert wird. „Entscheidend ist, wie das pädagogische Personal mit der Drogenproblematik in der Einrichtung in pädagogisch reflektierter und geplanter Weise umgehen will und ob es deswegen in einer konkreten Situation darauf verzichtet, mit nicht vermittelbaren Verboten zu arbeiten, um auf diese Weise nicht die Möglichkeiten zu verschütten, junge Menschenn aus ihrer Abhängigkeit herauszulösen.“ (Münder 1995, S. 34) Ferner können beim Cannabiskonsum Jugendlicher aufsichtsrechtliche Aspekte eine Rolle spielen, obgleich deren Übertragung auf betäubungsmittelrechtliche Gesichtspunkte in der Jugendhilfe generell schwierig sind, weil sich die Rechtsdogmatik mit aufsichtsrechtlichen Sachverhalten nur bei einer ungewollten Selbstschädigung Minderjähriger bzw. einer Schädigung Dritter beschäftigt. Sind Jugendliche aber aufgrund ihres Entwicklungsstandes in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln, wird von einer gewollten Selbstschädigung gesprochen. (vgl. Münder 1995, S. 68)
Generell hat das pädagogische Personal jedoch eine Informations-, Aufklärungs- und Auseinandersetzungspflicht, die lediglich dann entfällt, wenn Drogenkonsum in der entsprechenden Einrichtung völlig unwahrscheinlich ist. Ein Überwachen und Kontrollieren, aktives Eingreifen oder gar Unmöglichmachen ist jedoch vor dem o.g. entwicklungspsychologischen...