Vorwort
In gewisser Hinsicht ist dieses Buch nicht ausgereift. Ich habe es mit Bedacht als ein Stück weit unfertiges publiziert, denn das entspricht einer seiner Thesen – nämlich der, dass Unfertigkeit Spaß macht.
Seit Jahrzehnten bin ich jenen Weinen verfallen, deren eigentümliche Kraft der Sanftheit uns um eine geeignete Sprache ringen lässt, um sie zu beschreiben. Ich habe gerade ein hilfreiches Buch von Stanley Fish gelesen, How to Write a Sentence, in dem der Autor über eine verständliche Sprache bemerkt: »Ein lapidarer Stil ist so geschliffen und gekürzt, dass er transparent wirkt. Er scheint nicht viel zu leisten. Er fordert keine Aufmerksamkeit. Er strebt nach einer Zurückhaltung, die es dem Gegenstand erlaubt, durchzuscheinen.«
Ich habe diese Wirkung des Schreibens immer bewundert, wie bei Bernhard Schlinks Der Vorleser mit seiner so sorgsam durchdachten Prosa oder bei jüngsten Gedichten von Robert Hass, die so schlicht daherkommen, dass wir uns fragen, was Lyrik eigentlich ist oder sein sollte. Die gleiche Wirkung habe ich auch in bestimmten Weinen gefunden – oder zumindest bilde ich mir das ein –, etwa in den Tropfen des Nahewinzers Helmut Dönnhoff und in den Weinen der Familie Saahs vom Gut Nikolaihof in der österreichischen Wachau. Ich hatte kein Wort dafür, und so habe ich eine Menge Pfeile darauf verschossen, in der Hoffnung, dass einer davon ins Schwarze träfe. Nun habe ich dieses schöne Wort »lapidar« entdeckt, das alle anderen Adjektive aus meinem Köcher verbannen wird.
Ungeachtet dieses hilfreichen verbalen Neuzugangs bleiben die alten Fragen bestehen. Was verhilft diesen scheinbar spröden Weinen zu einer solchen gleichsam göttlichen Ausstrahlung? Warum berühren sie mich so heftig? Wie kann es sie überhaupt geben? Dieses Buch versucht nicht zu ergründen, wie Antworten auf diese Fragen aussehen könnten, sondern wie sich diese am besten stellen lassen.
Ich war an der Mosel, es hatte seit Tagen geregnet. Gutes Arbeitswetter, sagten die Leute. Doch es war trostlos. Jeden Morgen spähte ich in den patschnassen Himmel und wünschte, dass es irgendwo in der Nähe ein Laufband gäbe, um wenigstens ein bisschen in Bewegung zu kommen.
Doch dann war es eines Tages trocken, sogar Sonnenstrahlen blitzten verstohlen durch die Wolken. Ich hatte eine Verabredung mit Willi und Christoph Schaefer in Graach und rief sie an, um ihnen anzukündigen, dass ich die sieben Kilometer von Zeltingen aus durch die Weingärten zu ihnen wandern und rechtzeitig eintreffen würde.
In den letzten Jahren wurde ein Netz von Pfaden durch die Weinberge gelegt, das den Wanderer von Dorf zu Dorf führt. Früher musste man sich die Wehlener Sonnenuhr noch erkraxeln, heute kann man aufrecht wie ein Gentleman den Pfad hinaufstapfen. (Wenig gentlemanlike schwitzte ich allerdings dabei wie ein Schwein, aber genoss es.) Der Pfad verläuft auf halber Höhe ein gutes Stück weit über dem Fluss. Man schaut das wahnsinnige Gefälle hinab und blickt hinauf zu den zwitschernden Bäumen. Ich verfiel in die schöne Gedankenverlorenheit, die sich einstellt, wenn man eine Weile ausschreitet und sich die Ideen langsam verflüchtigen. Die Luft war erfüllt vom Geruch nassen Schiefers.
So träumte ich dahin und verpasste meinen Pfad ins Tal. Das hatte ich nun von meiner Schwelgerei. Als ich schließlich den Weg nach Graach fand, kam ich an dem kleinen Gasthaus vorbei, wo ich mir einmal den Gaumen an einem Schnitzel verbrannt hatte, und da war das Haus der Kunsmanns, die früher eine Frühstückspension hatten, wo ich einst in der Dachkammer unter der Traufe geschlafen hatte und wo eines Morgens eine große Spinne mit fünf kleineren im Tross einen dicken Holzbalken entlang gemächlich zur Deckenmitte gekrabbelt war.
Das war 30 Jahre her. Ich fand es erfreulich, wie wenig sich verändert hatte. Als ich um die nächste Ecke bog, kam das Haus der Schaefers in den Blick.
Es war für die Familie ein bewegtes Jahr. Willi und seine Frau – nun Großeltern – übergaben das Haus der nächsten Generation. »Es gibt mehr Platz, als wir brauchen«, beteuerte er, »und wenn Christoph weiter Enkelkinder produziert, brauchen sie Platz zum Spielen.« Die älteren Herrschaften wollten in ein kleines Häuschen auf der Talhöhe ziehen. »Aber ich werde jeden Tag hier unten im Weingut sein«, fügte Willi eilig hinzu. Ein schöner Gedanke, wie die beiden beim Frühstück den Ausblick über das Tal genießen würden. Über alles wurde sehr pragmatisch geredet, obwohl es nicht um nüchterne Dinge ging. Hier wurde nichts weniger als ein väterliches Erbe, das seit 1590 existiert, von einer Generation zur nächsten weitergereicht.
Eine Stunde später blickte ich auf ein Satellitenbild des Berghangs, auf dem mir die Schaefers ihre Parzellen zeigten. Sie besitzen über ein Dutzend in der Lage Domprobst und mehrere Dutzend in der Lage Himmelreich. Die allerorten in Europa durchgreifende Flurbereinigung ist an diesen Orten spurlos vorbeigegangen. Ich fragte mich, ob der logistische Alptraum, 30 oder 40 hie und da über den Weinberg verstreute briefmarkengroße Parzellen mit biologischem Weinbau zu bestellen, Biopuristen wohl den Atem verschlagen würde. Es ist staunenswert, wie viele parzellenspezifische Weine die Schaefers abfüllen. So vielfältige Abfüllungen mit demselben Namen scheinen so manchem Weinfreund ein Ärgernis zu sein – immer diese unerträgliche deutsche Exaktheit. In Wirklichkeit sollten wir diese Vielfalt wie eine bedrohte Spezies bewahren. Siehe: Es gibt noch Menschen, die bereit sind, uns ihre enge Vertrautheit mit dem Land und dessen schönen Nuancenreichtum in Form guten Weins zu erschließen.
Wir verkosteten den neuen Jahrgang und aßen dann zu Mittag. Dazu gab es einen alten Tropfen aus Willis Keller, nichts Extravagantes. Wir lachten viel und alberten herum wie immer. Ohne sentimental zu werden: Jenseits bloßer Ausgelassenheit strahlen Familien wie diese, wo die Generationen einträchtig zusammenleben und ihr Erbe von einer zur nächsten weiterreichen, ein tiefes Glück aus, das uns zu sagen scheint: »Schau her, es ist doch gar nicht so schwer.«
Winzerfamilien wie die Schaefers sind der Grund, warum ich vom Terroir überzeugt bin. Es ist für mich weder ein Dogma noch ein Glaube, sondern eine schlichte Tatsache. Die Weine selbst führen mich zu dieser Ansicht. Es ist nicht nur eine rationale, empirische Frage; es ist eine Frage der Güte.
Winzer und Weintrinker spalten sich in zwei Gruppen: in jene, die meint, dass Wein »gemacht« wird, und jene, die überzeugt ist, dass man ihn »anbaut«. Das sind zwei fundamental unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Herangehensweisen an den Wein ebenso wie an das Leben. Wenn ein Winzer aus seiner alltäglichen Erfahrung heraus überzeugt ist, dass die Aromen aus seinem Boden stammen, wird er sich mühen, sie zu bewahren. Das bedeutet, er wird nichts tun, um sie zu hemmen, zu trüben oder zu verändern. Er überformt seinen Rohstoff nicht mit seinem eigenen wunderbaren »Konzept«, sondern er respektiert ihn. Er sieht seine Aufgabe darin, ihn freizusetzen und wie ein Neugeborenes mit einem Klaps auf den Hintern in die Welt zu entlassen.
Bei einem Winzer dagegen, der sich als »Weinmacher« versteht, dreht sich alles um die Vorstellung, die er a priori von dem Produkt besitzt, das er herstellen möchte. In diesem Fall ist der Rohstoff eine zu meisternde Herausforderung, dessen Eigenart fast etwas Störendes hat. Man wird Experte für Systeme und Prozesse. Man macht Weine wie ein Pilot, der eine Verkehrsmaschine fliegt. Es ist nichts Schlechtes daran, ein guter Pilot zu sein, doch im Vergleich dazu sind Winzer, die Wert auf das Terroir legen, eher wie Nils Holgersson: Sie fliegen auf dem Rücken eines Vogels.
Damit verbindet sich eine Bescheidenheit, die wir fleißigen Selbstanbeter kaum je begreifen. Solche Weinbauern nehmen sich zurück, ohne sich dadurch zu verkleinern – eher im Gegenteil. Und manchmal nehmen ihre Weine ähnliche Eigenschaften an, die wir ebenfalls missdeuten. Das liegt an unserem Durst nach Weinen, die für uns eine Schau abziehen. Manche Tropfen begnügen sich aber mit dem Part des ehrlichen Begleiters und überlassen die Paraderolle den Speisen.
Eines Abends machte ich ein Glas mit einer schwarzen Trüffelpaste auf. Mir schwebte so etwas wie Daniel Bouluds berüchtigter Hamburger mit schwarzem Trüffel und Foie gras vor. Ich wollte auch einmal dekadent sein, also besorgten meine Frau und ich uns Kalbshack, formten daraus mit der Trüffelpaste ein paar schiefe Frikadellen und pflanzten diesen zur Krönung je ein Stück Trüffelbutter von D’Artagnan auf. Tja, das schmeckte tatsächlich wunderbar, aber was sollten wir dazu trinken?
Wir landeten bei einem »einfachen« St. Laurent aus Österreich von Erich Sattler. Wir hätten auch mit einem bescheidenen Chorey-les-Beaune glücklich sein können (falls wir den dreifachen Preis hätten berappen wollen), aber ein Upgrade auf einen Réserve-Wein schied von vorneherein aus, denn der wäre zu fruchtig gewesen, und vielleicht hätte sich Eichenaroma bemerkbar gemacht, wo diese sündhaften kleinen Fleischklöße doch gar nicht so viel Hexerei benötigen. Der St. Laurent erwies sich für unsere Trüffelburger als wahrhaft kongenialer Begleiter.
Besinnungslos greifen wir nach den Sternen, wollen stets die allerteuersten Kreszenzen. Stattdessen wäre es vielleicht besser, sozusagen die »Karaffe zu rocken«. Wenn es etwas gibt, für das ich stehe, so ist es mein Beharren darauf, dass wir bescheidene und stille Weine schätzen lernen sollten. Wir sollten ihre Schönheit...