Das zweite Treffen findet wieder im Café Einstein statt, wieder bei einer heißen Schokolade für die Interviewte, bei einem Cappuccino für den Interviewer. Es ist der 6. Dezember, Nikolaus, ein Dienstag. Gestern Abend wurde der Film »Liebesjahre» im ZDF ausgestrahlt.
War der gestrige Abend ein besonderer für Sie?
Ja. Es gibt ein paar Arbeiten, in denen steckt besonders viel Herzblut. Ich habe während der Dreharbeiten Matti Geschonneck einmal angesprochen und gesagt: »Ich wusste immer um Ihre Genauigkeiten, deswegen sage ich blind zu bei jedem Film, den Sie mir anbieten, und diesen haben wir ja sogar gemeinsam entwickelt. Ich weiß um Ihre Seriosität, aber diesmal habe ich das Gefühl, Sie gehen noch weiter, Sie bohren noch tiefer, sind noch seltener zufrieden.«
Während der Dreharbeiten? Wie zeigt sich das?
Indem du bestimmte Szenen nicht nur fünfmal, sondern zehnmal spielst oder fünfzehnmal. Indem es um Nuancen geht, um einen Blick, der zu früh kommt, ein Atemholen, das an der falschen Stelle liegt.
Und was hat der Regisseur Ihnen geantwortet?
»Ja, mag sein. Ich bin genauso nervös vor diesem Film. Ich fange genau wie Sie neu an.« Es gibt natürlich Regisseure, die bei einer vergleichbaren Konstellation mit sehr großem Können und enormem Selbstbewusstsein und viel Erfahrung die vier Königstiger …
… damit meinen Sie die vier Hauptdarsteller …
… wie ein strenger Dompteur durch die Manege führen. Matti war da anders, zweifelnder, wie er selbst sagte: nervöser. Mich hat das überhaupt nicht nervös gemacht, als ich das gespürt habe, ganz im Gegenteil. Das ist ja auch meine Sicht auf den Beruf: die Unsicherheit …
Nicht nur zeigen, ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich suche die Unsicherheit. Nicht schnell fertig werden, nicht etwas abliefern wollen, eine Figur spielen, mit der man sich bereits vor den Dreharbeiten auseinandergesetzt hat, sondern offenbleiben. Und ich musste mich mit dieser Figur sehr intensiv auseinandersetzen. Meine Mutter hat gestern Abend etwas Wunderbares gesagt, als wir nach dem Film miteinander telefoniert haben: »Ich habe während des Films immer darüber nachgedacht, Iris, und mich gefragt: Was geht wohl in dir vor, während du diesen Film drehst? Ich habe nämlich immer wieder vergessen, dass es ein Film ist. Ich dachte: Ich schaue dir und ein paar anderen Leuten beim Leben zu.«
Und das sagt Ihre Mutter.
Und das sagt meine Mutter. Natürlich sind manche Filme näher am eigenen Leben als andere, wobei man das als Schauspieler ausschalten sollte und muss. Ich kann es nur leider nicht immer. Viele Kollegen, die einen intellektuelleren Zugang zu dem Beruf haben, können das. Aber: Die Emotion ist meine Möglichkeit. Es darf nur nicht einfach die eigene Emotion sein, die man zeigt, die soll man ja beim Zuschauer auslösen. Bei diesem Fehler hat mich Matti mehrfach erwischt.
Welche Rolle spielen Sie in dem Film?
Ein Ehepaar entschließt sich, zehn Jahre nach der Scheidung ein Haus, in dem sie beide gemeinsam gelebt haben, endlich zu verkaufen. Es kostet nur Geld, steht nutzlos herum, leer, seit zehn Jahren. Die Frau, gespielt von mir, bittet ihren Exmann, am Tag vor dem Verkauf anzureisen, um in Anwesenheit eines Notars den Vertrag aufzusetzen und eventuell letzte persönliche Dinge, die noch im Haus sind, mitzunehmen. Sie reist also an, und, womit sie nicht gerechnet hat, ihr Exmann hat seine neue Frau mitgebracht, von der sie nicht wusste, dass es sie gibt. Diese neue Frau ist jünger als ich, aber sie erfüllt kein Klischee einer jüngeren Frau. Sie ist klug, selbstbewusst, ihrem Mann ebenbürtig, auch mir, der Exfrau. Ich bin irritiert, sage zu ihm: »Deine neue Flamme«, und er unterbricht mich und sagt: »Das ist nicht meine neue Flamme. Ich bin seit zwei Jahren verheiratet.«
Sie will keine Emotionen zulassen.
Er ist der typische Verdränger, am Anfang des Films auch noch ganz souverän. Die Sache eskaliert, als irgendwann der Mann auftaucht, der im Leben meiner Figur auch eine Rolle spielt. Keine sehr große, wie sich herausstellt, ich bestehe auf getrennten Wohnungen, ich bestehe darauf, dass man sich zwar von Zeit zu Zeit sieht, aber ich führe nicht dieses Familienleben, was mein Exmann neu lebt. Mit ihm habe ich zwei gemeinsame Töchter, die nicht gekommen sind. Letztlich kann man den Film auch so zusammenfassen: Es ist das letzte Gespräch zehn Jahre nach dem Ende einer Beziehung, das nie geführt wurde. Es ist eine entsetzliche Abrechnung. Es geht um zwei Menschen, die, wenn sie denn gesprochen hätten, eventuell heute noch zusammen wären.
Sie sind sehr nahe an diesen Geschichten, die Sie gerade erzählen, das merkt man.
Es gibt eine Szene in dem Film, die für mich perfekt darüber Aufschluss gibt, wann im Leben Sprachlosigkeit einsetzt, auch in der Beziehung. Ich glaube sogar, sie ist der Tod jeder Beziehung: Wenn du Dinge nicht mehr benennst. Wenn du dich nicht mehr traust zu sprechen. Wenn du die Dinge laufen lässt – und plötzlich laufen sie dir weg. In der Szene, die ich meine, packt sie ein Foto ein, und er sagt: »Darf ich mal sehen? Ach, das ist ja unser Haus und wir beide davor.« Und sie sagt: »Ja, das war damals, als dieser Mann plötzlich vor uns stand und uns fotografiert hat, und am nächsten Tag lag das Foto plötzlich in unserem Briefkasten.« »Ja«, sagt mein Exmann, »und dann hast du das Foto gerahmt und es da hingehängt, da, an die Wand.« »Nein«, sagt sie, »das hing nicht an der Wand, das stand da drüben am Kamin.« Er widerspricht: »Das hing an der Wand!« Geht dorthin, zögert, sagt: »Ich bin sicher, es hing an der Wand.«
»Wenn es dich glücklich macht«, sagt sie, »dann hing es an der Wand, es ist – egal.« Er lässt nicht locker, ruft die Tochter an und will sie fragen, und noch bevor er sie erreicht, nehme ich das Bild und stelle es an den Kamin. Und als er es sieht, sagt er: »Stimmt, es stand dort, warum hast du es damals weggenommen? Du hast doch noch nie etwas in deinem Leben ohne Grund gemacht! Es muss einen Grund gegeben haben, warum du das Bild irgendwann dort weggenommen hast.« Sie tut es ab, sagt: »Bitte, das ist nur ein Bild, das bedeutet gar nichts.« Er sagt: »Merkwürdig, so wichtig, dass du es heute einpackst und mitnimmst, nachdem du damals nur mit einem kleinen Koffer gegangen bist.« Der Zuschauer merkt: Hier ist etwas noch nicht zu Ende erzählt. Fast zum Schluss, in der späten Nacht, sagt er: »So, das war’s jetzt, wir haben alles ausgesprochen.« Er gibt zu, dass er seine junge Frau auf eine gewisse Art ausnutzt, sich von ihrer jungen Energie mitreißen lässt. Und dann gibt er auch zu, dass er immer noch hofft, dass ich ihn anrufe …
Ich sage: »Ja, das war’s jetzt«, und verlasse das Haus. Man denkt, der Film ist zu Ende. Aber ich drehe mich um und gehe noch einmal zurück. Ich nehme den Faden mit dem Foto noch einmal auf und sage: »Es war der 5. September, als dieser Mann da draußen aufgetaucht ist und das Haus fotografiert hat, während wir davorstanden, und das war der Moment, in dem ich absolut sicher wusste: Ich bin glücklich. Das war der Moment des größten Glücks. Ich habe das Foto später weggestellt, weil das Haus nur noch ein Haus war und nicht mehr mit dem Glück von damals erfüllt war.«
Er sagt, unsicher: »Dann könnten wir es vielleicht ja noch einmal miteinander probieren.«
Anfangs im Film hatte mein Exmann sich vor allem darüber aufgeregt, dass er damals, als ich nur mit einem kleinen Koffer gegangen und nicht mehr wiedergekommen bin, ihm nur einmal im Jahr eine Karte zu Weihnachten geschickt habe. Ich habe darauf geantwortet, ich müsse diese Karten ja künftig nicht mehr schicken. Doch, doch, sagt er, er habe sich mittlerweile daran gewöhnt. Nun, in der Schlussszene des Films, als er ihr noch einmal ein Angebot macht, sagt sie: »Dieses Jahr bekommst du tatsächlich keine Weihnachtskarte mehr von mir.« Sie stellt ihm Tabletten hin und sagt ganz ruhig: »Die Tabletten können mir nur noch die Schmerzen nehmen, aber nicht mehr die Krankheit. Man hat mich gebeten, meine Sachen zu ordnen, deshalb verkaufe ich das Haus.«
Beim Drehen dieser Szene musste ich den Drehort für ein paar Momente verlassen. Ich hatte sie falsch angelegt, viel zu intensiv. Der Regisseur wollte das Entsetzen im Gesicht meines Exmanns, aber nicht in meinem. Und er hatte recht: Sie lebt mit dieser Diagnose ja schon länger. Peter Simonischek wollte die Szene so lassen, den Zusammenbruch zeigen, weil er sagte, das ist doch so in solchen Momenten, da bricht man zusammen. Aber Matti hat darauf bestanden, mich ruhig und gefasst zu zeigen. Die Tränen dürfen nicht bei mir laufen, sie müssen beim Zuschauer laufen.
Was denken Sie, warum hat Ihre Mutter gedacht, dass Sie ausgerechnet diese Rolle gar nicht gespielt, sondern verkörpert haben?
Sie hat es so gesagt.
Klar habe ich gespielt!
Sagen wir es so: Bei solchen Filmen geht es um Geschichten, die sehr nahe an den eigenen Verletzungen, an den Einschnitten des Lebens sind, an den kleinen Schlachten, die man selbst verloren hat. Das ist für mich das Glück an meinem Beruf: Ich kann auf diese Weise damit umgehen, mich analysieren, was ich nicht anmaßend meine. Manchmal kann ich so bestimmte Ereignisse meines Lebens verarbeiten, in anderen Fällen gelingt es mir wenigstens, Dinge mit zeitlichem...