Ein absurder Auftrag
8. November 1989
DDR-Innenministerium (Mitte/Ost-Berlin)
Als am Nachmittag des 8. November auf dem Telefontableau mit den vielen grünen Lämpchen plötzlich ein rotes aufleuchtet, weiß Gerhard Lauter, dass ein wichtiger Auftrag auf ihn zukommt. Rot, das bedeutet oberste Priorität. Ein solcher Anruf wird nicht von seiner Sekretärin durchgestellt, sondern Lauter hat sofort einen seiner Vorgesetzten in der Leitung: DDR-Innenminister Friedrich Dickel oder dessen Stellvertreter Lothar Ahrendt. Der Auftrag, den er an diesem Mittwoch mit Herzklopfen entgegennimmt, ist nicht nur dringend, sondern zudem außerordentlich heikel: Erarbeiten Sie dem Ministerrat bis morgen Mittag einen Vorschlag, wie wir das Problem der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern über die Grenze der ČSSR nach Westdeutschland zurück in die DDR verlagern können.
Gerhard Lauter ahnt sofort, was für ein Sprengsatz ihm da in die Hände gedrückt worden ist. Ihn beunruhigt weniger die Aufgabenstellung als vielmehr das, was darin nicht angesprochen wird: nämlich wie mit privaten Auslandsreisen von DDR-Bürgern zu verfahren ist. Die Frage der Reisefreiheit ist in den vergangenen Monaten zum zentralen Thema der Protestkundgebungen geworden, die das Land in immer kürzeren Abständen erschüttern. Nach Jahrzehnten der Isolation wollen die Menschen endlich die Welt entdecken, sie wollen Paris, Rom und München sehen. Hilflos schaut die Staatsspitze der Massenflucht von Zehntausenden zu. Der Druck im Kessel DDR ist gewaltig.
In dieser Lage nun erteilt der Innenminister Gerhard Lauter den Befehl, eine rechtliche Vorlage für eine Ausreise ohne Wiederkehr zu erarbeiten. «Diese politische Entscheidung hätte die DDR-Bürger gezwungen, das Land für immer zu verlassen.» Von privatem Reiseverkehr nach Westdeutschland, vom kleinen Ausflug nach Paris und wieder zurück nach Leipzig kein Sterbenswörtchen. Lauter weiß, dass dieser absurde Auftrag leicht zur Eskalation der Situation beitragen kann. Doch was soll er tun? Was kann er tun?
Hotel «Schweizerhof» (Tiergarten/West-Berlin)
Tom Brokaw, Nachrichtenmoderator des großen US-Fernsehsenders NBC, ist vor kaum vierundzwanzig Stunden in Berlin eingetroffen. Eher beiläufig war in den Studios des New Yorker Rockefeller Center die Entscheidung gefallen, einen Mann nach Deutschland zu schicken, um die dortigen Ereignisse zu beobachten: «Noch am Montag saßen wir im Büro und verfolgten, was in Deutschland so passierte. Da sagte unser Auslandschef zu mir: ‹Willst du nicht mal rüberfliegen? Hier bei uns ist doch im Moment sowieso wenig los.› Ich hielt das für eine gute Idee.» Tom Brokaw ist nicht irgendein Reporter, sondern seit sieben Jahren Anchorman der legendären täglichen Nachrichtensendung «NBC Nightly News», die in den USA den Ruf eines journalistischen Leuchtturms genießt. Brokaw ist das Gesicht der Sendung, ihr preisgekrönter Star und Quotenmagier. Wenn er nach Berlin kommt, so bestimmt nicht nur für einen kleinen Stimmungsbericht. Für die kommenden Tage hat er sich im West-Berliner Hotel «Schweizerhof» einquartiert. Und auch in Ost-Berlin bleibt seine Ankunft nicht unbemerkt.
Zentraler Operativ-Stab im Ministerium für Staatssicherheit der DDR (Lichtenberg/Ost-Berlin)
Protokoll der telefonischen Lagemeldung an den Zentralen Operativ-Stab des Ministeriums für Staatssicherheit am 8. November:
– «Ich muss mal ’ne Anfrage stellen: Im Operativen Fernsehen ist hinter dem Brandenburger Tor ein neuer hochgezogener Mast zu sehen. Kannst du mir sagen, was der zu bedeuten hat?»
– «Ick hab noch keene Ahnung da.»
– «Habt ihr noch keine Meldung darüber vorliegen?»
– «Nee, muss ich mal nachfragen.»
– «Ja? Sei mal so freundlich und ruf bei uns an, bitte.»
Eine Stunde später:
– «Also wegen dem Mast haben wir noch nichts.»
– «Nee?»
– «Es gibt praktisch nur Hinweise von den Grenztruppen, dass drei Fahrzeuge der Bundespost Kabel verlegen, und dann gibt es einen Hinweis über die III, NBC hat von 22.00 Uhr bis 01.00 Uhr irgendwie ’ne Übertragungsstrecke angefordert. Das isses erst mal.»
– «Danke sehr.»
Hotel «Schweizerhof» (Tiergarten/West-Berlin)
Warum genau Brokaws NBC-Team einen vierzig Meter hohen Satellitenmast am Brandenburger Tor aufgestellt hat, muss den Männern der Staatssicherheit ein Rätsel bleiben, denn einen konkreten Anlass gibt es nicht. Die Amerikaner hatten aus der Entfernung den vagen Eindruck gewonnen, dass sich im Osten Deutschlands ein gewaltiger Druck aufbaut. «Mehr ahnten wir aber nicht. Nur dass es ein besonderer Augenblick war, wenn man sah, was das ganze Jahr über passiert ist.» In den letzten Monaten hat Brokaw viel Zeit im Flugzeug verbracht, um bei der Erosion des Ostblocks vor Ort zu sein. Und nun beschließt der Neunundvierzigjährige mit den graumelierten Schläfen und den markanten Gesichtszügen, für ein paar Tage dorthin zu gehen, wo gerade «the action of the world» zu sein scheint – nach Berlin.
Etwas ist im Gange im Ostteil der Stadt, so viel ist Brokaw und seinen Leuten klar. Nicht weniger, aber auch nicht mehr: «Wusste ich schon vorher, was passieren würde? Nein, so war es nicht.» Das Ausmaß des Chaos hinter den Kulissen ist zu diesem Zeitpunkt niemandem bewusst, am wenigsten den Bürgern auf der Straße. Keiner rechnet mit einem Ausbruch des Vulkans. Erschöpft vom Jetlag geht Brokaw zeitig schlafen. Zuvor lässt er sein Büro noch einen Termin arrangieren: Interview mit Politbüro-Sprecher Günter Schabowski am morgigen Nachmittag, dem 9. November, unmittelbar nach dessen ZK-Pressekonferenz.
DDR-Innenministerium (Mitte/Ost-Berlin)
Gerhard Lauter ist neununddreißig Jahre alt. Der gebürtige Dresdner hat an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Kriminalistik studiert und anschließend bei der Kriminalpolizei Leipzig im Referat für Terrorbekämpfung gearbeitet. 1976 wechselt er nach Berlin ins Ministerium des Innern, wo er es bis zum Stellvertreter Untersuchung des Leiters der Hauptabteilung Kriminalpolizei bringt. Im Sommer 1989 erfolgt dann jene berufliche Beförderung, die Lauter ins Zentrum des politischen Existenzkampfes der DDR katapultieren soll: Seit dem 1. Juli amtiert er im Rang eines Obersts als Leiter der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen des Innenministeriums, einem der sensibelsten Bereiche im Machtapparat.
In seiner ungeliebten Polizeiuniform zeigt er sich nur, wenn es ein offizieller Anlass von ihm verlangt. Lauter ist das militärische Gehabe fremd, das in Teilen des Innenministeriums und im Ministerium für Staatssicherheit herrscht, mit dem er viel zu tun hat. Seine Mitarbeiter kennen ihn in Nadelstreifen mit dezenter Krawatte, das Haar sorgfältig frisiert und gescheitelt. Er ist kein Mann der lauten Töne, der seiner Position durch schroffes Auftreten ein festeres Fundament zu geben versucht, sondern verkörpert einen neuen Typus des sozialistischen Verwaltungsbeamten aus der zweiten Reihe. Anders als seine Vorgesetzten an der Spitze des Staates gehört Lauter einer Generation an, die die traumatischen Erfahrungen der Hitler-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs nicht mehr selbst erlebt hat. Die von der Aufbaugeneration als heroisch verklärten DDR-Gründerjahre mit Zwangskollektivierung, Juni-Aufstand, forcierter Industrialisierung und Mauerbau sind für ihn bestenfalls ferne Kindheitserinnerungen. Ein anderes System als den real existierenden Sozialismus hat Lauter nicht kennengelernt, und sein politisches Bewusstsein entwickelt er in den siebziger Jahren, dem scheinbar erfolgreichsten Jahrzehnt der DDR. Es ist der Beginn der Ära Honecker, der nach innen mit einem konsumfreundlichen Ansatz die Menschen für sich gewinnt und nach außen die Reputation des Landes verbessert, als es zu einer beispiellosen Welle der staatsrechtlichen Anerkennung der DDR kommt. In dieser Zeit des Aufbruchs beginnt Lauter seine Karriere, und es gibt für ihn keinen Grund, das System in Frage zu stellen.
Dennoch ist er kein Mann jener blechernen Dogmatik, hinter der sich die Politbüro- und Staatsgründergeneration um Honecker, Stoph und Mielke bei jedem Gegenwind verschanzt, weil sie um ihr harterkämpftes Lebenswerk fürchtet. Lauter ist ein sachorientierter Funktionär, der in Krisenmomenten pragmatisch zu denken vermag. Eine Fähigkeit, die jetzt auf eine harte Probe gestellt werden soll.
Am 8. November liegen ein paar nervenaufreibende Monate hinter ihm. Als er im Juli 1989 sein neues Amt antritt, befinden sich die sozialistischen Systeme Osteuropas in einem unaufhaltsamen Erosionsprozess. Seit KPdSU-Chef Gorbatschow mit «Glasnost» und «Perestroika» der Sowjetunion strukturelle Reformen verordnet hat, verspüren politische Erneuerer in den sozialistischen Bruderstaaten Rückenwind. Nirgendwo ändern sich die Verhältnisse so rasch und radikal wie in Ungarn. Fassungslos beobachten die Genossen in Ost-Berlin, wie die Kommunistische Partei Ungarns nicht nur ihr Machtmonopol zugunsten eines Mehrparteiensystems aufgibt, sondern mit Billigung Gorbatschows den Abbau der hermetischen Grenzanlagen nach Westen beschließt. Anfang Mai 1989 durchtrennen ungarische Grenzsoldaten vor laufenden Fernsehkameras den Grenzzaun zu Österreich und schneiden so das erste Loch in den Eisernen Vorhang.
Ungarn ist seit je eines der beliebtesten...