Initiiert durch die „empirisch-realistische Wende“ der Erziehungswissenschaften[36], fortgeführt durch die Wissenschaftsorientierung in der Didaktik[37] und den Professionalisierungsprozess der Lehrerrolle in den 70er Jahren wurde die Aufgabe des Lehrers dahingehend interpretiert, dass der Lehrer einen wissenschaftsorientierten Unterricht perfekt zu managen versucht, welcher vielfältig und kleinschrittig vorgenommen werden sollte, damit möglichst alle Schüler die vorab operationalisierten Lernziele erreichen können. Lehrer definierten sich im Sinne einer konsequenten Partikularität und unter Rückgriff auf eine empirisch kontrollierte Zuordnung von Inhalten, Methoden und Medien vor allem als hoch qualifizierter Fachwissenschaftler und als präzise, zweckrationale und direktive Vermittler und Determinierer von Inhalten und Zielen von Unterricht (vgl. Zöllner 2006; Terhart 2000, S. 73 ff.; Herrmann 2000, S. 15 ff.; Giesecke 2003, S.132ff.)[38].
Das tradierte hierarchisch wirksame Lehrerbild des wissenden Experten, der den Unwissenden mit Lernmaterial und Lernmethodik versorgt, der antizipiert, was für den Schüler wichtig und richtig ist, der doziert und belehrt, muss - falls es überhaupt je passend gewesen war - angesichts der aktuellen und zukünftigen sozioökonomischen Perturbationen und der Vielzahl pluralistischer Wertungen als obsolet bezeichnet werden (vgl. Jäger 2006, S. 9 - 14; S. 178 ff.)[39].
Nach dem personenzentrierten Ansatz wird der Schüler als konstruierende Person gesehen, welche auf dem diffizilen Weg zur kognitiven Assimilation und Akkomodation der Erfahrungswelt vom Lehrer unterstützt werden muss durch Beratung, Begleitung und auch gelegentliche Motivierung (vgl. Schön 1998b, S. 35f.; Utten- dorfer-Marek 1976, S. 194ff.).
Carl Rogers hat die Erwartungen an die Unterstützung durch den Lehrer destilliert und konkretisiert (vgl. Rogers 1969, S. 164 - 166; Rogers 1974, S. 163 - 166):
1. Der Lehrer trägt viel dazu bei, eine positive Ausgangsstimmung in der Klasse zu schaffen.
2. Der Lehrer hilft, die Lernziele der einzelnen Schüler sowie der gesamten Klasse aufzudecken und abzuklären.
3. Der Lehrer vertraut darauf, dass der Schüler signifikant lernen will.
4. Der Lehrer stellt ein breites Angebot an Hilfsmitteln zum Lernen bereit.
5. Der Lehrer sieht sich selbst als flexibles Medium zum Lernen.
6. Der Lehrer akzeptiert sowohl intellektuelle als auch emotionale Unterrichtsinhalte und versucht, ihnen jenen Raum zu bieten, wie er vom Einzelnen und von der Gruppe erwartet wird.
7. In einer Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung kann der Lehrer zum Teil der Gruppe und zum Mitlernenden werden.
8. In seiner Funktion als Facilitator des Lernens bemüht sich der Lehrer, seine eigenen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren.
Wenn der Lehrer dem Schüler auf diese Weise gegenübertritt, wird die Anzahl der Verletzungen und Widerstände minimiert. Äußern Lehrer aufrichtig und offen die Erwartung, ihrerseits von Schülern achtungsvoll behandelt zu werden, bewirkt dies, dass Schüler das Verständnis, die Achtung und Wärme des Lehrers nicht missverstehen oder ausnutzen. In diesem Kontext ist es wichtig anzumerken, dass das Zusammenleben beeinträchtigt wird, wenn nur eine einzelne Variable umgesetzt wird und die anderen vernachlässigt werden (vgl. Tausch/Tausch 1998, S. 214)[40].
Der Lehrer kann seinen eigenen psychischen Stress deutlich reduzieren, wenn er dem Schüler mit großer Wertschätzung, Empathie, Kongruenz und Enthusiasmus begegnet. Darüber hinaus wirkt ein sich so verhaltender Lehrer überzeugend auf Schüler und Kollegen und ist somit als Modell motivierend (vgl. Schaarschmidt 2000, S. 187 - 197; Becker 1993, S. 56; Tausch/Tausch 1998, S. 399ff.)[41].
Für Rogers muss der gute Lehrer ein lebendiger Mensch sein, der als Person für die Schüler da ist und Kontakt zu ihnen hat. Ein Lehrer trägt viel zu einem positiven und förderlichen Lernklima bei, wenn er akzeptieren, sich bedingungslos und kongruent wertschätzend zuwenden und sich in die Empfindungen von Angst, Erwartung und Enttäuschung der Schüler einfühlen kann (vgl. Rogers 1961, S. 287 f.)[42].
Nach Rogers müssen noch folgende Bedingungen erfüllt sein, damit sich personenzentriertes Lernen manifestieren kann (vgl. Rogers 1969, S. 166ff.):
Der Lehrer teilt sich die Verantwortung für den Lernprozess mit den Schülern.
Der Schüler arbeitet allein oder zusammen mit anderen sein eigenes Lernprogramm aus. Er zeigt Selbstdisziplin, um seine Ziele erreichen zu können.
Das Hauptinteresse gilt der Förderung eines kontinuierlichen Lernprozesses.
Die Bewertung des Umfangs und der Bedeutung des erworbenen Wissens wird vom Schüler vornehmlich selbst übernommen.
Der Paradigmenwechsel vom lehrer zum personenzentrierten Lernen muss zu einer Veränderung der inneren Haltung des Lehrers führen, damit dieses Konzept gedacht, gefühlt und implementiert werden kann. Eine Haltung umfasst die gesamte Persönlichkeit des Lehrers und hat sich über Jahre entwickelt. Es wird nicht ausreichen können, einzelne Fortbildungen zu absolvieren oder Fachzeitschriften und Bücher zu lesen. Der Lehrer muss lernen - eventuell unterstützt durch Coaching oder supervisorische Beratung -, sukzessiv und systematisch neue Unterrichtsbilder zu entwickeln, neue Methoden zu inszenieren, einen anderen Umgang mit den Schülern zu pflegen und somit seine eigene berufliche Identität neu zu konstruieren (vgl. Büscher 2006, S. 16)[43].
Bei der Reflexion sollte der Lehrer seine eigene Attitüde und deren Angemessenheit in Bezug auf die Erziehungsziele kritisch hinterfragen, um eine befriedigende und sinnvolle Entwicklung seiner beruflichen Tätigkeit erreichen zu können. Nach dem personenzentrierten Verständnis findet durch eine solche Reflektion bereits ein persönlichkeitsverändernder Lernprozess statt (vgl. Schmid 1995, S. 11 f., S. 184 f.).
Um sich auf personenzentrierten Unterricht einlassen zu können, muss der Lehrer bereit sein, fächerübergreifend zu denken, wechselnde Lernvoraussetzungen der Schüler zu berücksichtigen und flexibel auf anarchisch-lebendige Zufälle des Unterrichtsgeschehens einzugehen. Unterricht genau zu planen, wie es viele Lehrer über Jahrzehnte gelernt haben, wird hierbei unmöglich (vgl. Jank/Meyer 2002, S. 255f.)[44].
Das personenzentrierte Konzept erfordert ein Lernen über einen längeren Zeitraum, Unterstützung durch andere und ein Erlernen des Umgangs mit Stressfaktoren und der eigenen persönlichen Entwicklung. Hierzu benötigt der Lehrer Ausdauer, Geduld, Selbstbewusstsein, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz. Viele Lehrer scheitern bei ihren Bemühungen um einen personenzentrierten Umgang mit Schülern, weil sie schwierige Situationen im Unterricht als emotional überaus belastend empfinden und damit nicht adäquat umgehen können. Um diesen Belastungen zu entgehen, geben viele Lehrer ihre Bemühungen recht schnell auf (vgl. Tausch/Tausch 1998, S. 99, S. 399; Hartdegen 1996, S. 114)[45].
Nach Ansicht von Rogers erscheint es Lehrern bedrohlich, sich wie Schüler durch das Erfahren von Gefühlskomponenten als fragile Menschen zu erweisen und sich mit ihnen auf einer tendenziell symmetrischen Ebene zu befinden. Die Sicherheit vermittelnde Hierarchie der komplementären Interaktion wäre gefährdet. Der Gedanke, Einfluss partiell an Schüler abzugeben, ist für viele mit einer großen Belastung verbunden (vgl. Rogers 1978, S. 89; Rogers 1981, S. 142).
Lehrer zeigen bei Konfrontationen mit Schülern häufig ein Verhalten, welches durch die psychische Repräsentation der eigenen Bindungsgeschichte und aus eigenen frühkindlichen und unbearbeiteten Erfahrungen gespeist wird. Das Maß an Konflikthaftigkeit, Spezifität der Konfliktmuster, Abwehr und Idealisierung bestimmt die Präsentation mit. Wenn Lehrer bereit sind, sich mit den Schwächen der eigenen Eltern und deren Versäumnissen in der Erziehung offen auseinanderzusetzen und darüber hinaus noch die eigenen Schulerfahrungen biografisch-reflexiv bewusst werden zu lassen, haben sie gute Chancen, aus dem Circulus vitiosus ausbrechen und eine befriedigende Beziehung zu Schülern entfalten zu können (vgl. Schön 1998b, S. 43f.).
Lehrer sollten ihr Verhalten nicht plötzlich verändern. Eine sukzessive Modifizierung des Verhaltens und der Einstellung gibt dem Lehrer Gelegenheit, von vertrauten Konzepten loszulassen und zu innovativen, kreativen Formen zu finden (vgl. Schmid 1995, S. 177)[46].
Den Verzicht auf Belehren und Beurteilungen lernt der Lehrer nicht, indem er sich diese Haltungen kategorisch verbietet, sondern indem er seine grundlegenden Einstellungen hinterfragt. Erst dann kann der Lehrer es nicht nur ertragen, sondern sogar wertschätzen, dass ihm Schüler Gefühle wie Aversion und...