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E-Book

Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends

AutorJosef H. Reichholf
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783104000718
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Tausend Jahre - eine Spanne, die das Leben zweier Eichen, ein Zehntel der Nacheiszeit umfasst. Ein Wimpernschlag der Erdgeschichte. Veränderungen in der Natur vollziehen sich in ganz anderen Zeiträumen als die Geschichte des Menschen. Josef H. Reichholf blickt aus ökologischer Sicht zurück auf das letzte Jahrtausend und untersucht die Wechselwirkung von Naturgeschichte und Geschichte, insbesondere den Klimaverlauf mit seinen ökologischen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen.

Josef H. Reichholf ist Evolutionsbiologe, Naturforscher und Bestsellerautor. Bis 2010 war er Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München und lehrte an beiden Münchner Universitäten. Zahlreiche Bücher, Fachpublikationen und Fernsehauftritte machten ihn einem breiten Publikum bekannt. 2007 wurde Josef H. Reichholf mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet, nach dem Cicero-Ranking 2009 gehört er zu den 40 wichtigsten Naturwissenschaftlern Deutschlands. Bei S. Fischer erschien von ihm: ?Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends?, ?Warum die Menschen sesshaft wurden?, ?Einhorn Phönix Drache. Woher unsere Fabelwesen kommen? und ?Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie?.Literaturpreise:Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2007

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Leseprobe

Vorwort


Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre waren in meiner niederbayerischen Heimat die Sommer sehr warm. Als kleiner Junge lief ich damals von Mai bis in den September oder Oktober hinein meistens barfuß. In den Wintern gab es Schnee und Eis. Einen richtig kalten Winter erlebte ich gegen Ende meiner Schulzeit 1962/63. Damals waren nicht nur die Stauseen monatelang zugefroren, sondern auch große Flüsse, wie der freiströmende Inn und, wie ich später erfuhr, praktisch alle Gewässer in Bayern sowie im größten Teil von Mitteleuropa. Über das Eis des Bodensees fuhren Traktoren. Dieser Winter, einer der drei kältesten des ganzen 20. Jahrhunderts, dauerte von Ende November bis Mitte März. Auf den Seen und Stauseen war das Eis bis über 40 Zentimeter dick geworden. Die Eisdecken barsten krachend, als der Wasserdruck mit dem in den Bergen zuerst einsetzenden Tauwetter zunahm. Der Winter 2005/06 zog sich zwar bis weit ins Frühjahr hinein, verlief aber bei weitem nicht so kalt. Dem Alpenvorland und sogar München brachte er Anfang März eine Schneekatastrophe. Am Sonntag, dem 5.März 2006, lag der Schnee bis zu 60 Zentimeter hoch, und München wurde für einen halben Tag eine Geisterstadt. Denn es fuhren weder Straßen- noch S-Bahnen, praktisch keine Autos, und sogar der Fernverkehr der Bahn musste eingestellt werden. Drei Jahre zuvor herrschten Anfang März schon fast frühsommerliche Temperaturen, und der ihnen folgende Sommer von 2003 gilt mit seinen fünf Monaten Dauer, seiner anhaltenden Hitze und Trockenheit als »Jahrtausendsommer«. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren global die wärmsten Jahre festgestellt worden. An einem Klimawandel zweifelt kaum noch jemand, höchstens am Anteil, den der Mensch mit seinen Einflüssen auf die Erdatmosphäre daran hat. Wie groß diese sein müssen, erlebte ich in Brasilien, als ich über das brennende Zentrum des südamerikanischen Kontinents flog und im Pantanal von Mato Grosso aus gänzlich wolkenlosem Himmel unablässig Asche niederschwebte. Sie legte sich wie ein alt gewordener, grauer Schneebelag übers in der Hitze wabernde Land. Ich sah die riesigen Rodungen auf Borneo, als ich in Begleitung des damaligen deutschen Umweltministers Klaus Töpfer bei der Vorbereitung auf die große Umweltkonferenz von Rio unterwegs war, und vieles andere mehr in Süd- und Nordamerika, in Afrika, Indien und Australien. Es bedurfte keiner Erleuchtung auf einsamem Gipfel in einer entlegenen Ecke der Welt, um das Ausmaß des zerstörerischen Wirkens von Menschen zu sehen. Dennoch überraschte mich immer wieder die Blindheit dem Offensichtlichen gegenüber. Wie können Ökologen behaupten, die größte Massierung von Großtieren an Land gäbe es in der Serengeti im ostafrikanischen Tansania? In manchen norddeutschen Landkreisen leben weit mehr, aber fast alle sind »unsichtbar« in Ställen untergebracht. Dennoch existieren sie, und sie übertreffen die Serengeti an Zahl oder Lebendgewicht der Huftiere pro Quadratkilometer bei weitem. Oder: In welchem Verhältnis stehen die Waldrodungen der letzten Jahrhunderte in den USA zu den gegenwärtigen in Amazonien? Was in der Spanne eines vollen Menschenalters vergangen ist oder gar schon vor mehr als 100 Jahren geschah, ist vergessen und so gut wie nicht mehr existent. Oder es wird als »gute alte Zeit« verklärt und zum Bezugsmaß für die heutigen Verhältnisse und Entwicklungen genommen. Gewiss, wir leben in einer Zeit rascher Veränderungen. Doch verliefen diese im 19. Jahrhundert langsamer, und waren sie in ihren Auswirkungen geringer? Derzeit gilt in Europa die »Globalisierung« als eine der größten Gefahren für die nahe Zukunft. Aber eroberten und »globalisierten« die Europäer nicht die Welt schon vor einem halben Jahrtausend? Die meisten Pflanzen, die gegenwärtig als besonders gefährlich und »invasiv« angesehen werden, wachsen seit mehr als 100 Jahren bei uns. Im 19. Jahrhundert hatte man sie ins Land geholt, weil man ihre Qualitäten schätzte. In Bayern starben vor einem Jahrhundert noch Menschen an Malaria, obwohl sie das Land nie verlassen hatten. Malaria kam hier von Natur aus vor. Jetzt breitet sich angeblich die Malariamücke, die Anopheles, wegen der Klimaerwärmung gefährlich aus. Doch es gab und gibt sie nicht nur hierzulande, sondern nordwärts bis Südfinnland. Naturschützer wiesen in den letzten Jahren ganz erschrocken darauf hin, dass sich fast tropische Vögel und Schmetterlinge nördlich der Alpen ansiedeln. Die schönen bunten Bienenfresser (Merops apiaster) etwa und Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) – welch ein Name! – wurden, wie auch viele der kleinen Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), die wie Kolibris aussehen, aber Schmetterlinge der Schwärmer-Familie sind, im Hitzesommer 2003 sogar in den Alpentälern gesichtet. So war es im Editorial einer Naturschutzzeitschrift zu lesen. Dass diese und zahlreiche andere Wanderfalter seit Jahrhunderten schon, wahrscheinlich aber seit Jahrtausenden über die Alpen nordwärts fliegen, wurde im allgemeinen Klagelied über den schönen Sommer (absichtlich?) vergessen. In meiner Kindheit und Jugend brachte ich viele Puppen vom Totenkopfschwärmer zum Schlüpfen und entließ die riesigen Schmetterlinge in die niederbayerischen Herbstnächte mit der Hoffnung, sie würden den Rückflug durch die Alpenpässe noch schaffen, ehe der Winter beginnt. Die bunten Bienenfresser aber fand ich in den alten Büchern wieder, die über die Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts recht sachlich berichten. Dass manche Tiere darin arg vermenschlicht werden, im positiven wie im negativen Sinne, tut den Angaben keinen Abbruch, zeigen sie doch, dass man sie kannte und wusste, wo sie lebten. Die Bienenfresser galten in früheren Jahrhunderten als Bienenfeinde und wurden deshalb, auch im Englischen, so genannt. Der andere deutsche Name »Spinte« setzte sich nicht durch, denn die Geschichte und ihre Geschichten wirken oftmals viel zäher nach, als man glauben möchte. Das wurde mir auch klar, als ich in Amazonien die durch den Straßenbau angeschnittenen Böden sah. Seit Alexander von Humboldt hielt – und hält sich zum Teil immer noch – die Mär von der tropischen Fülle. Dabei herrscht dort fast überall Mangel. Der luxuriöse Wuchs der Regenwälder in Amazonien täuscht. Der Wald steht auf unfruchtbarem Boden und kann sich nur erhalten, wenn er genügend Mineralstoffe im Sandstaub durch den Passat aus der afrikanischen Sahara zugeliefert bekommt. Globale Zusammenhänge rücken heute ganz zu Recht immer mehr ins Zentrum der Betrachtungen, die meistens dennoch viel zu lokal angestellt werden. Was besagen aber meine eigenen Erfahrungen über ein halbes Jahrhundert bewussten Lebens? Es überdeckt genau die Zeitspanne des »nachweisbaren Klimawandels«. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre folgt nun die Klimakurve der Erde nicht mehr den vom Menschen völlig unbeeinflussten Schwankungen in der Aktivität der Sonne. Bleiben angesichts der weltweiten Veränderungen meine Eindrücke also nur belanglose Anekdoten? Dann sind die vielen und vielfach zitierten »Befunde« aus anderen Gebieten und aus zumeist sogar viel kürzeren Zeitspannen auch nicht mehr als Anekdoten. Ohne Bedeutung treiben sie im viel größeren Strom der Zeit als kleine Wirbel, die in der Menschenwelt Wirbel machen. Als junger Ökologe versuchte ich im Rahmen eines Forschungsauftrages in einem »nur« fünf Kilometer langen und bis zu einem Kilometer breiten Stausee am unteren Inn, 40 Kilometer vor dessen Zusammenfluss mit der Donau in Passau, die Fließgeschwindigkeiten und die davon beeinflusste Verteilung und Häufigkeit der Larven von Zuckmücken im Bodenschlamm zu bestimmen. Die Variation der »Messwerte« fiel so groß aus, dass sich eigentlich keine vernünftigen Mittelwerte bilden ließen. Die Tierchen, wenige Millimeter lange »Würmchen«, lebten nur in den obersten Millimetern des Bodenschlammes, also fast auf einer Ebene. Und dennoch ließen sich die Verhältnisse kaum messen. Die mittlere Strömungsgeschwindigkeit von rund einem halben Meter pro Sekunde besagte so gut wie gar nichts für Leben und Erfolg dieser für Fische und andere Wassertiere so wichtigen Insektenlarven. Was werden, so fragte ich mich, Zehntelgrade als langfristige Veränderungen in den Temperaturen besagen? Seit der Industriellen Revolution, also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist die Temperatur um rund zwei Drittel eines Celsiusgrades (0,63°C) angestiegen (Flannery 2006). Welches Lebewesen kann diesen winzigen Wert als bedrohlich empfinden? Die Temperaturspanne eines Tropenjahres erstreckt sich zwischen knapp 20 und höchstens um die 40°C. Sie schwankt also um das mindestens 30-fache der durchschnittlichen Temperaturerhöhung. In mittleren geographischen Breiten, wie in Deutschland, fallen auf der Bodenoberfläche die Minima oft unter –30°C, und die Höchstwerte steigen stellenweise über 50 °C an. Bäume und andere Pflanzen sind, wie auch die Tiere, so gut wie nie den offiziellen Messwerten der Wetterstationen ausgesetzt. Wo sie wachsen, herrschen andere Bedingungen als in einem Messhäuschen. Sie müssen mit dem zurechtkommen, was für sie an Ort und Stelle gilt. Wir kennen 500- bis 1000-jährige Bäume in unserem Land. Vielleicht sind sie auch ein paar Jahrhunderte jünger, als gemeinhin...

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