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E-Book

Verfassung ohne Grund?

Die Rede des Papstes im Bundestag

VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451339493
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In der Rede vor dem Bundestag warf Papst Benedikt XVI. die heikle Frage nach den Legitimationsgrundlagen von Staat und Recht auf. Ist die säkular fundierte Verfassungs- bzw. Rechtsordnung des weltanschaulich neutralen Staates nicht doch auf religiöse Überlieferungen angewiesen? Bedarf es nicht der Theorie des Naturrechts für eine Begründung von Ethos und Recht? Der Band diskutiert die vom Papst angemahnte Revitalisierung des Naturrechtsdenkens, die von ihm geforderte Relativierung des Mehrheitsprinzips und fragt, ob es das vom Papst unterstellte Begründungsdefizit der säkularen Moral- und Rechtsordnung überhaupt gibt.

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Leseprobe

Einleitung


… „eine wahre Ungeheuerlichkeit“. Die Bundestagsrede des Papstes in historischer Perspektive

Wer mit der Geschichte der römisch-katholischen Kirche der letzten zweihundert Jahre auch nur einigermaßen vertraut ist, kann nicht umhin, die Rede, die Papst Benedikt XVI. während seines Deutschlandbesuches am 22. September 2011 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat, als kleine Sensation zu sehen.1 Erst bei den Päpsten der jüngeren Kirchengeschichte, zunächst bei Leo XIII. (1878  1903) und dann bei Pius XII. (1929  1958), deuteten sich, wenn auch sehr zögerlich und, was den Erstgenannten betrifft, gewiss nicht ohne Ressentiments, erste Veränderungen im Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur modernen Staats- und Rechtsordnung ab. Bei Leo XIII. finden sich, ganz auf dem Boden der thomistischen Staats- und Gesellschaftslehre fußend, erste Annäherungen an demokratische Rechts- und Ordnungsvorstellungen. Aber auch Leo XIII. lehnt in seiner Enzyklika Immortale Dei von 1885 die Trennung von Staat und Kirche ebenso ab wie die weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Ideal des „katholischen Staates“ und mit ihm die Option für den Katholizismus als Staatsreligion werden privilegiert. Erst Pius XII. betonte in seiner Weihnachtsansprache von 1944 und seiner Toleranzrede von 1953 die Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaat und thematisierte in diesem Zusammenhang auch die Frage der Menschenrechte. Der wirkliche Umbruch vollzog sich dann jedoch erst mit der Enzyklika Pacem in terris von Johannes XXIII. (1958  1963) und, vor allem, in dem Dekret Dignitatis Humanae des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965. In diesem konziliaren Dokument finden wir übrigens einen Widerhall der verzögerten und augenscheinlich hochambivalenten Hinwendung der katholischen Kirche zur modernen Moral- und Rechtsordnung. Ihre Hermeneutik der Kontinuität muss mit der Lehre der, wie es ausdrücklich heißt, „neueren Päpste“ beginnen für das Vorhaben, die kirchliche Lehre über die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person und über die rechtliche Ordnung der Gesellschaft „weiterzuführen“ (DiH 1). Es ist, mit anderen Worten, gerade einmal 50 Jahre her, dass sich die römisch-katholische Kirche mit den Idealen eines demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens nicht lediglich arrangiert, sondern diese wirklich affirmiert hat! Eine vorbehaltlose Anerkennung der Demokratie und der sie tragenden Werte kennzeichnete schließlich die Pontifikate von Papst Paul VI. (1963  1978) und Johannes-Paul II. (1978  2005). Erst sie sind, in diesem Sinne, in der Moderne angekommen. Es dürfte unserer Erfahrung extrem beschleunigter und verdichteter Zeit geschuldet sein, dass diese historische Perspektivierung der Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. kaum mehr präsent ist.

Es mag deshalb sinnvoll sein, die historische Dimension der Bundestagsrede von Papst Benedikt XVI. aus einem verfassungsgeschichtlichen Blickwinkel zu betrachten. Bekanntlich sind die traditionellen römisch-katholischen Vorbehalte gegenüber dem modernen Verfassungsstaat bis in die Entstehungszeit des Grundgesetzes hin greifbar. Damals legten Abgeordnete der CSU und des Zentrums im Parlamentarischen Rat ein Veto gegen Art. 20 GG („alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) ein und begründeten dies mit dem Argument, dass alle Herrschaft von Gott ausgehe. Dies aber war das traditionelle Argument der römisch-katholischen Kirche, die sich unter anderem unter Berufung auf den Römerbrief gegen den neuzeitlichen Gedanken der Volkssouveränität sperrte: „Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13, 1). Wie schwer vielen Katholiken im Parlamentarischen Rat die Zustimmung zum modernen, in der republikanischen Tradition der Französischen Revolution stehenden Staat gefallen ist, dokumentiert auf ihre Weise auch die Erklärung von Abgeordneten der CSU, die ihre Ablehnung des Grundgesetzentwurfs unter anderem damit begründeten, es habe nicht erreicht werden können, „dass das Grundgesetz sich eindeutig und entschieden zu den Gedanken unserer christlichen Staatsauffassung bekennt“.2 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Erklärung der deutschen Bischöfe zur Arbeit des Parlamentarischen Rates: „Der Stand der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat in Bonn lässt uns befürchten, dass in dem Bundesgrundgesetz wichtigste und für den Aufbau eines gesunden staatlichen Lebens unentbehrliche Grundrechte und Grundsätze außer Acht gelassen werden. Das Grundgesetz eines Staates kann nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn darin die schon in der Natur gegebene, ewig gültige, durch Christus neu gefestigte und vollendete Gottesordnung als die tragende Grundlage des staatlichen Gebäudes anerkannt wird“.3

Die an dieser Stelle greifbar werdende Spannung zwischen der katholischen Kirche und dem noch jungen Verfassungsstaat hat aber auch eine verfassungsrechtliche Komponente! Art. 140 des Grundgesetzes hat die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt. Das bedeutet, dass unter anderem auch die römisch-katholische Kirche eine Religionsgesellschaft ist, der die Bundesrepublik Deutschland den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zubilligt. Was war hier geschehen? Ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat erkennt in Gestalt der römisch-katholischen Kirche eine Religionsgesellschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts an, die ihrerseits – wir schreiben das Jahr 1949! – die grundlegenden und fundamentalen Rechts- und Verfassungsprinzipien dieses Staates nicht anerkennt. Dies geschah erst ca. 20 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

62 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und 46 Jahre nach der Verabschiedung von Dignitatis Humanae besucht der Bischof der Kirche von Rom den Deutschen Bundestag. Auf symbolischer Ebene ist bereits dieser Besuch selbst bemerkenswert, mit dem der Papst in seiner Funktion als Völkerrechtssubjekt des Heiligen Stuhls den Staat sowie die ihn repräsentierenden demokratisch gewählten Amts- und Mandatsträger anerkennt und ihnen die gebührende Wertschätzung entgegenbringt. Man ist an dieser Stelle versucht, ausnahmsweise einen historisch nicht wirklich korrekten Blickwechsel zuzulassen, um auf die historische Dimension der Bundestagsrede aufmerksam zu machen. Den heutigen Papst träfe sozusagen der Bannfluch eines seiner Vorgänger auf dem Stuhle Petri. Papst Pius IX. (1846  1878) hatte der 1864 veröffentlichten Enzyklika Quanta cura einen Syllabus mit zu verurteilenden Aussagen beigefügt, unter denen als Schlusssatz und also an prominenter Stelle auch die folgende Meinung verurteilt wird: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“ (DH 2980).

Dass sich der Bischof von Rom, um diesen Sprachgebrauch aufzugreifen, mit der modernen Rechtskultur inzwischen angefreundet und sich mit ihr versöhnt hat, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Papst Benedikt der Einladung zur Rede diskursiv nachkommt, in dem er „einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates“ vorlegt. Ein Papst, der „Überlegungen“ anstellt, unterscheidet sich allerdings gewaltig von der Rollenprosa einiger seiner Vorgänger, deren autoritäre Rhetorik im Gewande wüster Polemik gegenüber der Moderne daherkam. Als „wahre Ungeheuerlichkeit“ bezeichnete etwa Papst Pius VI. (1775  1799) in dem Breve Quod Aliquantum von 1791 die Religions- und Pressefreiheit4 (Pius VI, 1976, DH 2663). In der bereits erwähnten Enzyklika Quanta Cura überschlägt sich die Rhetorik geradezu. Da ist beispielsweise von „außerordentlicher Unverschämtheit“ die Rede und von „Dreistigkeit“ (DH 2893, 2895). Und, um ein letztes Beispiel zu zitieren, in der Enzyklika Mirari Vos von 1832 nannte Papst Gregor XVI. (1831  1846) die Auffassung, „einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen und sichergestellt werden“ eine „widersinnige und irrige Auffassung bzw. vielmehr Wahn“; die Rede ist von einem „geradezu pesthaften Irrtum“ und „größter Unverschämtheit“ (DH 2730f).

Die verzögerte Öffnung der katholischen Kirche gegenüber der Moderne, von der gerade die Rede war, steht wohl auch, unter anderem, im Hintergrund der Irritationen, die die offenbar als advokatorische Versöhnungsgeste intendierte Aufhebung der Exkommunikation gegen vier Bischöfe der Priesterbruderschaft Sankt Pius X. im Jahre 2009 ausgelöst hatte. Denn die Stoßrichtung der traditionalistischen Kritik zielt unter anderem auf die Erklärung der Religionsfreiheit. Die Piusbruderschaft verweigert nach wie vor der Erklärung Dignitatis Humanae ihre Zustimmung, weil sie in der katholischen Anerkennung der neuzeitlichen Freiheitsrechte einen Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition sieht. In einem Schreiben an Papst Johannes Paul II. von 1985 hatte der Gründer der Piusbruderschaft, Erzbischof Marcel Lefèbvre, die Religionsfreiheit einst als die „Quelle aller Häresien“ bezeichnet5. Dabei...

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