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Werke aus den Jahren 1909-1913

AutorSigmund Freud
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
ReiheGesammelte Werke in 18 Bänden mit einem Nachtragsband 8
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783104001586
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis79,99 EUR
Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band VIII Über Psychoanalyse Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens - Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne - Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie Über »wilde« Psychoanalyse Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci Über den Gegensinn der Urworte Über neurotische Erkrankungstypen Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse Zur Dynamik der Übertragung Das Interesse an der Psychoanalyse Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse

Sigmund Freud, geb. 1856 in Freiberg (Mähren); Studium an der Wiener medizinischen Fakultät; 1885/86 Studienaufenthalt in Paris, unter dem Einfluss von J.-M. Charcot Hinwendung zur Psychopathologie; danach in der Wiener Privatpraxis Beschäftigung mit Hysterie und anderen Neurosenformen; Begründung und Fortentwicklung der Psychoanalyse als eigener Behandlungs- und Forschungsmethode sowie als allgemeiner, auch die Phänomene des normalen Seelenlebens umfassender Psychologie. 1938 emigrierte Freud nach London, wo er 1939 starb.

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Leseprobe

II


Meine Damen und Herren! Etwa gleichzeitig, während Breuer mit seiner Patientin die „talking cure“ übte, hatte Meister Charcot in Paris jene Untersuchungen über die Hysterischen der Salpêtrière begonnen, von denen ein neues Verständnis der Krankheit ausgehen sollte. Diese Resultate konnten damals in Wien noch nicht bekannt sein. Als aber etwa ein Dezennium später Breuer und ich die vorläufige Mitteilung über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene veröffentlichten, welche an die kathartische Behandlung bei Breuers erster Patientin anknüpfte, da befanden wir uns ganz im Banne der Charcotschen Forschungen. Wir stellten die pathogenen Erlebnisse unserer Kranken als psychische Traumen jenen körperlichen Traumen gleich, deren Einfluß auf hysterische Lähmungen Charcot festgestellt hatte, und Breuers Aufstellung der hypnoiden Zustände ist selbst nichts anderes als ein Reflex der Tatsache, daß Charcot jene traumatischen Lähmungen in der Hypnose künstlich reproduziert hatte.

Der große französische Beobachter, dessen Schüler ich 1885/86 wurde, war selbst psychologischen Auffassungen nicht geneigt; erst sein Schüler P. Janet versuchte ein tieferes Eindringen in die besonderen psychischen Vorgänge bei der Hysterie, und wir folgten seinem Beispiele, als wir die seelische Spaltung und den Zerfall der Persönlichkeit in das Zentrum unserer Auffassung rückten. Sie finden bei Janet eine Theorie der Hysterie, welche den in {18}Frankreich herrschenden Lehren über die Rolle der Erblichkeit und der Degeneration Rechnung trägt. Die Hysterie ist nach ihm eine Form der degenerativen Veränderung des Nervensystems, welche sich durch eine angeborene Schwäche der psychischen Synthese kundgibt. Die hysterisch Kranken seien von Anfang an unfähig, die Mannigfaltigkeit der seelischen Vorgänge zu einer Einheit zusammenzuhalten, und daher komme die Neigung zur seelischen Dissoziation. Wenn Sie mir ein banales, aber deutliches Gleichnis gestatten, Janets Hysterische erinnert an eine schwache Frau, die ausgegangen ist, um Einkäufe zu machen, und nun mit einer Menge von Schachteln und Paketen beladen zurückkommt. Sie kann den ganzen Haufen mit ihren zwei Armen und zehn Fingern nicht bewältigen, und so entfällt ihr zuerst ein Stück. Bückt sie sich, um dieses aufzuheben, so macht sich dafür ein anderes los usw. Es stimmt nicht gut zu dieser angenommenen seelischen Schwäche der Hysterischen, daß man bei ihnen außer den Erscheinungen verminderter Leistung auch Beispiele von teilweiser Steigerung der Leistungsfähigkeit, wie zur Entschädigung, beobachten kann. Zur Zeit, als Breuers Patientin ihre Muttersprache und alle anderen Sprachen bis auf Englisch vergessen hatte, erreichte ihre Beherrschung des Englischen eine solche Höhe, daß sie imstande war, wenn man ihr ein deutsches Buch vorlegte, eine tadellose und fließende englische Übersetzung desselben vom Blatt herunterzulesen.

Als ich es später unternahm, die von Breuer begonnenen Untersuchungen auf eigene Faust fortzusetzen, gelangte ich bald zu einer anderen Ansicht über die Entstehung der hysterischen Dissoziation (Bewußtseinsspaltung). Eine solche, für alles weitere entscheidende Divergenz mußte sich notwendigerweise ergeben, da ich nicht wie Janet von Laboratoriumsversuchen, sondern von therapeutischen Bemühungen ausging.

Mich trieb vor allem das praktische Bedürfnis. Die kathartische Behandlung, wie sie Breuer geübt hatte, setzte voraus, daß man {19}den Kranken in tiefe Hypnose bringe, denn nur im hypnotischen Zustand fand er die Kenntnis jener pathogenen Zusammenhänge, die ihm in seinem Normalzustand abging. Nun war mir die Hypnose als ein launenhaftes und sozusagen mystisches Hilfsmittel bald unliebsam geworden; als ich aber die Erfahrung machte, daß es mir trotz aller Bemühungen nicht gelingen wollte, mehr als einen Bruchteil meiner Kranken in den hypnotischen Zustand zu versetzen, beschloß ich, die Hypnose aufzugeben und die kathartische Behandlung von ihr unabhängig zu machen. Weil ich den psychischen Zustand meiner meisten Patienten nicht nach meinem Belieben verändern konnte, richtete ich mich darauf ein, mit ihrem Normalzustand zu arbeiten. Das schien allerdings vorerst ein sinn- und aussichtsloses Unternehmen zu sein. Es war die Aufgabe gestellt, etwas vom Kranken zu erfahren, was man nicht wußte und was er selbst nicht wußte; wie konnte man hoffen, dies doch in Erfahrung zu bringen? Da kam mir die Erinnerung an einen sehr merkwürdigen und lehrreichen Versuch zu Hilfe, den ich bei Bernheim in Nancy mitangesehen hatte. Bernheim zeigte uns damals, daß die Personen, welche er in hypnotischen Somnambulismus versetzt und in diesem Zustand allerlei hatte erleben lassen, die Erinnerung an das somnambul Erlebte doch nur zum Schein verloren hatten, und daß es möglich war, bei ihnen diese Erinnerungen auch im Normalzustand zu erwecken. Wenn er sie nach den somnambulen Erlebnissen befragte, so behaupteten sie anfangs zwar, nichts zu wissen, aber wenn er nicht nachgab, drängte, ihnen versicherte, sie wüßten es doch, so kamen die vergessenen Erinnerungen jedesmal wieder.

So machte ich es also auch mit meinen Patienten. Wenn ich mit ihnen bis zu einem Punkte gekommen war, an dem sie behaupteten, nichts weiter zu wissen, so versicherte ich ihnen, sie wüßten es doch, sie sollten es nur sagen, und ich getraute mich der Behauptung, daß die Erinnerung die richtige sein würde, die ihnen in dem Moment käme, da ich meine Hand auf {20}ihre Stirne legte. Auf diese Weise gelang es mir, ohne Anwendung der Hypnose, von den Kranken alles zu erfahren, was zur Herstellung des Zusammenhanges zwischen den vergessenen pathogenen Szenen und den von ihnen erübrigten Symptomen erforderlich war. Aber es war ein mühseliges, ein auf die Dauer erschöpfendes Verfahren, das sich für eine endgültige Technik nicht eignen konnte.

Ich gab es jedoch nicht auf, ohne aus den dabei gemachten Wahrnehmungen die entscheidenden Schlüsse zu ziehen. Ich hatte es also bestätigt gefunden, daß die vergessenen Erinnerungen nicht verloren waren. Sie waren im Besitze des Kranken und bereit, in Assoziation an das von ihm noch Gewußte aufzutauchen, aber irgendeine Kraft hinderte sie daran, bewußt zu werden, und nötigte sie, unbewußt zu bleiben. Die Existenz dieser Kraft konnte man mit Sicherheit annehmen, denn man verspürte eine ihr entsprechende Anstrengung, wenn man sich bemühte, im Gegensatz zu ihr die unbewußten Erinnerungen ins Bewußtsein des Kranken einzuführen. Man bekam die Kraft, welche den krankhaften Zustand aufrecht erhielt, als Widerstand des Kranken zu spüren.

Auf diese Idee des Widerstandes habe ich nun meine Auffassung der psychischen Vorgänge bei der Hysterie gegründet. Es hatte sich als notwendig zur Herstellung erwiesen, diese Widerstände aufzuheben; vom Mechanismus der Heilung aus konnte man sich jetzt ganz bestimmte Vorstellungen über den Hergang bei der Erkrankung bilden. Dieselben Kräfte, die sich heute als Widerstand dem Bewußtmachen des Vergessenen widersetzten, mußten seinerzeit dieses Vergessen bewirkt und die betreffenden pathogenen Erlebnisse aus dem Bewußtsein gedrängt haben. Ich nannte diesen von mir supponierten Vorgang Verdrängung und betrachtete ihn als erwiesen durch die unleugbare Existenz des Widerstandes.

Man konnte sich aber auch die Frage vorlegen, welches diese Kräfte und welche die Bedingungen der Verdrängung seien, in {21}der wir nun den pathogenen Mechanismus der Hysterie erkennen. Eine vergleichende Untersuchung der pathogenen Situationen, die man durch die kathartische Behandlung kennen gelernt hatte, gestattete hierauf Antwort zu geben. Bei all diesen Erlebnissen hatte es sich darum gehandelt, daß eine Wunschregung aufgetaucht war, welche in scharfem Gegensatze zu den sonstigen Wünschen des Individuums stand, sich als unverträglich mit den ethischen und ästhetischen Ansprüchen der Persönlichkeit erwies. Es hatte einen kurzen Konflikt gegeben, und das Ende dieses inneren Kampfes war, daß die Vorstellung, welche als der Träger jenes unvereinbaren Wunsches vor dem Bewußtsein auftrat, der Verdrängung anheimfiel und mit den zu ihr gehörigen Erinnerungen aus dem Bewußtsein gedrängt und vergessen wurde. Die Unverträglichkeit der betreffenden Vorstellung mit dem Ich des Kranken war also das Motiv der Verdrängung; die ethischen und anderen Anforderungen des Individuums waren die verdrängenden Kräfte. Die Annahme der unverträglichen Wunschregung oder die Fortdauer des Konflikts hätten hohe Grade von Unlust hervorgerufen; diese Unlust wurde durch die Verdrängung erspart, die sich in solcher Art als eine der Schutzvorrichtungen der seelischen Persönlichkeit erwies.

Ich will Ihnen anstatt vieler einen einzigen meiner Fälle erzählen, in welchem Bedingungen und Nutzen der Verdrängung deutlich genug zu erkennen sind. Freilich muß ich für meinen Zweck auch diese Krankengeschichte verkürzen und wichtige Voraussetzungen derselben beiseite lassen. Ein junges Mädchen, welches kurz vorher den geliebten Vater verloren hatte, an dessen Pflege sie beteiligt gewesen war, — eine Situation analog der bei der Patientin Breuers — brachte, als ihre ältere Schwester sich verheiratete, dem neuen Schwager eine besondere Sympathie entgegen, die sich leicht als verwandtschaftliche Zärtlichkeit maskieren konnte. Diese Schwester erkrankte bald und starb, während die Patientin mit ihrer Mutter abwesend war. Die...

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