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Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten

Vollständige Ausgabe

AutorCarl Gustav Carus
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl1076 Seiten
ISBN9783849607371
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dies ist die Autobiographie des in Leipzig geborenen deutschen Arztes, Gynäkologen, Anatom, Pathologen, Psychologen, Malers und Naturphilosophen. Er gilt als einer der universalsten Gelehrten des 19. Jahrhunderts in Deutschland.

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Leseprobe

Zweites Buch


 


Reifere Ausbildung

 

 Den 8. März 1848

 

Indem ich in einer bewegten Zeit die Feder ergreife, um diesen Blättern weiter anzuvertrauen, in welcher Weise einst die Tage meines Lebens sich fortgesponnen haben, darf ich mir eine Betrachtung nicht verbergen, welche mich allerdings fast dahin bringen könnte, sogleich beim Anfang wieder von diesem Unternehmen abzustehen. Ist es doch nämlich nicht zu verkennen, je weiter man vorrückt in diesem menschlichen Dasein, um so mehr fühlt man es in demselben tagen, um so mehr tritt alles in das helle Licht des Bewußtseins, aber um so verwickelter wird auch das wunderbare Getriebe des Lebens, und um so heiliger zieht sich, über all diesen Kreisen thronend, der Geist in das Dunkel des Geheimnisses zurück, ein Dunkel, welches vielleicht einer nächstbefreundeten Seele sich erhellen kann, aber notwendig der Menge durchaus unzugänglich sein muß. So geschieht es daher, daß wer irgend es versucht, aus den reifern Perioden seiner Entwicklung, das heißt da, wo es sich doch eigentlich erst recht der Mühe verlohnte, ausführlich zu sein, Bekenntnisse niederzuschreiben, der befindet sich zuletzt in allen höhern Beziehungen in dem eigenen Falle eines in Mysterien Eingeweihten, nämlich trotz allem Wunsche, sich mitzuteilen – schließt jetzt ein Gott ihm die Lippen zu.

 

Das einzige ist also hier freigegeben, wenn wir auch dann solche Mitteilungen nicht ganz unterdrücken wollen: sich andeutend zu verhalten, neben dem, was dem Äußern angehört und im vollen Sinne mitteilbar bleibt, von dem Innern, Tiefern, Geistigen nur so viel zu enthüllen, die Bedingungen, durch welche jenes Geheimnis zustande kam, nur so weit darzustellen, daß dann dem irgendwie verwandten Geiste es möglich werde, mindestens eine Ahnung zu fassen von dem, was die Seele außerdem für immer in sich hätte verschließen müssen; ja dieses Verhältnis wird um so eigentümlicher, wenn wir bei genauerm Überdenken nicht umhin können, wahrzunehmen, daß eben dieses Unaussprechbare, dieses sogar uns selbst mindestens halb Unbewußte, doch zuletzt das sei, was eben als ein geheimnisvolles Göttliche allen jenen bewußten Gedanken, Gefühlen und Taten zugrunde liegt, aus denen ein menschliches Leben sich auferbaut und von denen nun auch wieder Mitteilungen nach außen erst möglich sind.

 

Sei es denn also in diesem Sinne versucht, den Faden da, wo ich ihn früher fallenließ, hier weiter fortzuführen! Vielleicht gelingt es, daß die zurückgerufene Betrachtung einer verhängnisvollen Zeit, wie sie damals zunächst auf mich herandrängte, gegenwärtig, wo nicht minder heftig alle Verhältnisse erschüttert werden, mir jene feste, ruhige Sammlung in der tiefsten Tiefe der Seele erhält, welche ich bei allen äußern Stürmen als eins der höchsten Güter des Menschen von jeher zu erkennen gewohnt war.

 

I.

 

Das nächste nennenswerte Ereignis meines Lebens, das mir hier aufzuzeichnen obliegt, würde jetzt sein: der Abschluß meiner bisherigen akademischen Laufbahn durch die Promotion, welche die medizinische Fakultät mir am 20 Dezember 1811 gewährte, und die kurz zuvor, am 1. November, stattgehabte Verbindung mit meiner geliebten Verwandtin Karoline, von der ich oben schon sagte, wie sie die trefflichste Mutter meiner Kinder und die treueste vieljährige Lebensgefährtin mir geworden sei.

 

Damit indes die Stellung des damaligen jungen Medikus, wie er nunmehr in das öffentliche Leben einzutreten anfing, ganz deutlich werde, bleibt es unerläßlich, einen Blick zu werfen auf die sonderbare schwankende und unheimliche Lage, in welcher sieh, wie Deutschland überhaupt, so insbesondere mein Geburts- und Wohnort Leipzig zu jener Zeit befand; denn allerdings bezeichnet man wohl große geschichtliche Momente zunächst als »Weltereignisse«, dadurch gewissermaßen andeutend, daß hier nur von Bewegungen im großen und ganzen die Rede sei; wie jedoch dergleichen auch einesteils seine Wurzelfasern aus den entschiedensten örtlichen und persönlichen Verhältnissen entnimmt, andernteils aber mit seinen Endzweigen sich wieder auf das merkwürdigste bis in die geheimsten Tiefen des Privatlebens verliert, darüber würden die weitschichtigsten Untersuchungen sich gar wohl anstellen lassen.

 

Es war aber damals die Zeit, wo die Fremdenherrschaft mit ihrer äußersten Gewalt auf Deutschland lastete. Sachsen war seit 1807 durch Napoleon zum Königtum erhoben, und als Entgelt dafür hörten französische Gäste seitdem nicht mehr auf, Leipzig beschwerlich zu sein, ja ihm vielfach zu schaden.

 

Wenn ich daher von meinen frühesten Jahren wohl erzählen konnte, wie zuerst das idyllische Leben in Mühlhausen und dann die milde Waldluft des Rosentals die Seele durchaus auf die stillsten Reiche des Geistes richtete, so drängte sich jetzt eine andere Gesinnung mit Gewalt ein, und so teilte sich mir namentlich nunmehr jenes innere Aufglühen der Gemüter mit, welches, je mehr das Fremde wucherte und drückte, um so mehr in Deutschlands Herzen sich regte und nagte. Gleichzeitig hatte sich freilich auch vieles in den äußern Verhältnissen anders gestaltet, französische geheime Polizei machte sich bis in die Tiefen des Familienlebens Bahn, die gewaltigen Kämpfe des Kaisers in Spanien und in Österreich lenkten mit Macht die Aufmerksamkeit aller auf sich, und eben jetzt war es, wo der kolossale Heereszug Napoleons nach Rußland sich vorbereitete und mehr und mehr die Entscheidung des Schicksals von Europa herannahte. – Im Mai 1812 hielt der Kaiser in Dresden Hof und empfing dort die Monarchen von Österreich und Preußen; die Heere sammelten sich in den ungeheuersten Massen, und die Spannung, welche dieses alles auch in unserer Stadt hervorbrachte, war eine so noch nie dagewesene.

 

Übrigens setzte ich trotz dieser Unruhe meine Vorlesungen über vergleichende Anatomie regelmäßig fort, ja ich sah den Kreis der Zuhörer von Halbjahr zu Halbjahr sich vermehren, aber freilich, ohne daß dadurch meine Lage im Äußern verbessert worden wäre, denn kaum vom zehnten Teil meiner Schüler wurde ich honoriert. Mir war es indes für jetzt an der Sache selbst genug, und da durchaus niemand sonst dort einer so wichtigen Disziplin sich annahm, so nährten mich einzelne Freunde öfters mit der Hoffnung, eine außerordentliche Professur könne in einigen Jahren mir in keiner Weise fehlen. Daß indes schon jetzt mein Lesen bei den ältern Professoren ein gewisses Aufsehen erregte, konnte mir natürlich nicht entgehen, ja einmal erfuhr ich dies auf sonderbare Weise genug; denn als ich eines Nachmittags durch das Ranstädter Tor nach meiner Wohnung ging, begegnete mir einer dieser Herren, dessen früher schon erwähnte Vorträge über die »Naturgeschichte der Menschenspezies« den Studenten oft zu gar vergnüglicher Unterhaltung dienten, und nachdem ich grüßend [an] ihm schon vorüber war, stützte er sich auf den goldenen Knauf seines stattlichen spanischen Rohres erst fester, drehte sich dann um und rief mir zu: »Ah! Herr Doktor! Sie lesen ja comparatam!«

 

Bei alledem drängten aber freilich meine häuslichen Verhältnisse mich peinlich; ich wünschte überdies meiner frühern Gespielin und nun geliebten Frau möglichst bald eine größere Sicherheit der Existenz in Aussicht stellen zu können, und so schwankte ich denn oftmals gar sehr, ob ich nicht besser tun möchte, die akademische Laufbahn, welche mir im besten Falle nur spät reichlichem Ertrag verleihen konnte, zu verlassen und um eine kleine Physikatsstelle mich zu bewerben, welche in irgendeiner Landstadt uns ein eben hinlängliches Auskommen wohl eher hätte gewähren können; – kurz, es fehlte mir keineswegs an manchen gequälten unsichern und unabsehbaren Zuständen!

 

Noch in einer andern Beziehung ist aber jene Zeit für mich wichtig gewesen, indem in das Jahr 1812 die ersten meiner freien schriftstellerischen Arbeiten gehören. Jener merkwürdige Umschwung im Felde der Literatur nämlich, demzufolge das Abgeben des Urteils und die Stimmführung, zumal in den periodisch erscheinenden Blättern, mehr und mehr in die Hände der Jüngern überging, er war damals bereits eingetreten; das Anwachsen der Zeitschriften, obwohl noch gar nicht mit der hydragleichen Vervielfältigung in unsern Tagen zusammenzustellen, war doch von den ältern gereiften Geistern nicht mehr zu bestreiten, und so konnten denn auch zu Beurteilungen selbst der wichtigsten und ausführlichsten Arbeiten schon berühmter Autoren meistens nur junge angehende Schriftsteller herangezogen werden. Diese Bewegung war in der Tat wichtiger, als sie auf den ersten Blick erschien, und sie hing genau mit der großen, von der Französischen Revolution ausgegangenen Erschütterung zusammen; sie deutete auf den Übergang des Rats, der Beurteilung und der Tat von den ältern bedächtigern Häuptern an eine mutige, aber freilich oft genug unbedachte und voreilige Jugend. Wie man daher in den ersten Zeiten der französischen Republik Generale und Marschälle sah, welche oft noch nicht oder nur wenig über zwanzig Jahre zählten, so drängte sich auch in die Literatur mehr und mehr eine mitunter sehr unreife Jugend ein, freilich im Reiche des Geistes weit kleinere...

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