Kapitel 3
Eine Frau geht mit zwei Hunden in einem Freilaufgebiet spazieren. Der erste ist ein richtiger Partyhund und rast schwanzwedelnd von Hund zu Hund und von Mensch zu Mensch, fordert sie zum Spielen und zum Streicheln auf. Der zweite Hund bleibt nah bei der Frau und möchte mit niemandem Kontakt aufnehmen, weder Hund noch Mensch. Die Körpersprache dieses Hundes vermittelt Angst.
Warum verhalten sich zwei Hunde in ein und derselben Situation so unterschiedlich? Der Grund kann sein, dass es dem zweiten Hund an früher Sozialisierung gemangelt hat, während der erste als junger Welpe viele neue Menschen, Hunde und Orte kennengelernt hat. Vielleicht hat der zweite Hund aber auch eine genetische Veranlagung dazu, in unbekannten Situationen ängstlich zu sein, und der erste hat diese Veranlagung nicht. Es ist oftmals schwierig, die Ursache der Angst eines Hundes herauszufinden, besonders wenn der Hund bereits als Erwachsener aufgenommen wurde und seine Vorgeschichte nicht bekannt ist. Aber unabhängig davon, wovor Ihr Hund Angst hat, fällt die Ursache dafür unter eine oder sogar mehrere der folgenden Kategorien:
1. Genetik. Genauso wie Menschen werden Hunde mit einem genetischen Bauplan geboren. Züchter machen sich die genetische Disposition zu bestimmten Eigenschaften zu eigen, um Hunde mit einer besonderen Wesensart zu züchten. Dabei werden die Aspekte der Persönlichkeit selektiert, die in ihrer Zuchtlinie vorherrschen sollen. Der Hundeverhaltensberater und Autor Steven R. Lindsay erläutert, dass emotionale Stressfaktoren, die die Mutter während der Trächtigkeit beeinträchtigen, gepaart mit allzu anstrengenden postnatalen Bedingungen einen lebenslangen nachteiligen Einfluss auf die Art und Weise haben können, wie Hunde mit angst- und zornerregenden Situationen umgehen. Weiterhin sagt er, dass Vererbung zusammen mit ungünstigen prä- und postnatalen Stressfaktoren dazu führen kann, dass viele junge Hunde reaktive Tendenzen und Charaktereigenschaften aufweisen, bevor sie überhaupt die Augen öffnen …1 Mit anderen Worten heißt das, dass die Züchter das Wesen eines Welpen beeinflussen können, indem sie sorgsam auf die Umgebung des Muttertiers und deren Stresspegel achten.
Natürlich kann man durch Beobachtung eines Hundes nicht genau sagen, zu welchem Prozentsatz sein Verhalten genetisch und nicht lern- und erfahrungsbedingt ist. Verbringt man Zeit mit dem Vater und der Mutter eines Welpen, kann man einen Einblick in das Wesen des Hundes erhalten. Erscheint eines der Elternteile »unruhig« oder vorsichtig, stehen die Chancen hoch, dass der Welpe das gleiche Naturell hat und seine Angstprobleme zumindest teilweise genetisch bedingt sind.
Ein Welpe, der die genetische Veranlagung zu Ängstlichkeit hat, versteift seinen Körper eventuell, wenn er hochgehoben oder auf dem Arm gehalten wird, und ist wahrscheinlich bei der Begegnung mit unbekannten Personen oder Tieren oder in ungewohnten Situationen vorsichtig. Einige genetisch bedingt ängstliche Welpen scheinen stets ängstlich zu sein und nur darauf zu warten, dass etwas Furchterregendes passiert. Diese »allgemein ängstlichen« Welpen erschrecken bei nahezu jedem plötzlichen Geräusch, jeder unerwarteten Berührung oder Bewegung und ihre erste Reaktion auf alles Unbekannte ist Angst. Hundetrainer bezeichnen dieses überreaktive Temperament manchmal als »unruhig« oder »schreckhaft«.
Zum üblichen Wesenstest für Welpen gehört das Fallenlassen eines Schlüsselbundes. Die erwünschte Reaktion ist, dass der Welpe sich erschreckt, sich aber schnell wieder davon erholt. Ein genetisch bedingt ängstlicher Welpe zuckt zusammen oder macht sich klein, doch anstatt sich schnell wieder zu erholen, rennt er weg, versteckt sich oder hat über einen längeren Zeitraum hinweg Angst. Die Tendenz, sich von einem Schrecken nur langsam zu erholen, ist bei einem solchen Hund im Alltag zu beobachten. Während ein Hund mit einem ausgeglichenen Wesen beim Grollen des Donners neugierig den Kopf schief legt, prescht ein genetisch bedingt ängstlicher Welpe eher in die nächste Ecke, legt sich hin und zittert unkontrolliert.
Klinische und laborchemische Untersuchungen weisen darauf hin, dass manche Hunde genetisch bedingt eher dafür anfällig sind, Geräuschphobien zu entwickeln, und dass sie eine Hörempfindlichkeit für bestimmte Geräusche haben. Doch diese genetische Neigung muss bei der Geburt nicht ersichtlich sein. Laut einer Studie aus dem Jahr 1991 ist es sogar so, dass die Angst vor bestimmten Geräuschen in der Regel im Alter von einem Jahr auftritt.2
Rasse ist ein weiterer Aspekt der Genetik, der das Temperament des Hundes beeinflussen kann. Golden Retriever sind beispielsweise in der Gegenwart von neuen Hunden und Menschen sowie in neuen Situationen meist ruhig und entspannt. Manche Rassen, wie Chihuahuas, haben eher die Veranlagung zu nervösem und ängstlichem Naturell. Während der Retriever sagt: »Komm rein. Darf ich dir den Mantel abnehmen? Möchtest du eine Tasse Kaffee?«, kläfft der Chihuahua (von seinem sicheren Aussichtspunkt auf dem Arm seines Besitzers aus): »Wer bist du? Was willst du hier? Wann haust du wieder ab?« (Natürlich sind nicht alle Chihuahuas so, genauso wie nicht alle Golden Retriever freundlich sind.
In einem Wurf jeder Rasse findet man unterschiedliche, individuelle Temperamente von schüchtern bis selbstsicher und gesellig bis aggressiv.) Ein bedauernswertes Beispiel für den genetischen Schaden, der durch Überzüchtung und wilde Zucht entstehen kann, ist der Deutsche Schäferhund aus amerikanischer Zucht. Auch wenn es viele gute Züchter gibt, die gesunde und robuste Deutsche Schäferhunde züchten, gibt es ebenso viele schlecht gezüchtete Schäferhunde, die sehr unruhig und scheu sind, sich leicht erschrecken und manchmal bei einer plötzlichen Bewegung zuschnappen können.
Es ist schwer, eine genetisch bedingte Neigung zu Angst vollständig zu überwinden. Doch durch bestimmte Methoden zur Verhaltensänderung können im Rahmen dessen, was für den einzelnen Hund genetisch möglich ist, Fortschritte erzielt werden. Obwohl ein Deutscher Schäferhund, der aufgrund seiner Gene unruhig und scheu ist, niemals das Temperament eines genetisch bedingt selbstsicheren Golden Retrievers haben wird, kann das Ausmaß seiner Angst zumindest reduziert werden.
2. Mangelnde Sozialisierung. Zeigt ein Hund in der Nähe von Menschen ängstliches Verhalten, wird oftmals angenommen, dass er misshandelt wurde, vor allem, wenn man nichts über seine Vorgeschichte weiß. Doch tatsächlich ist der wahre Übeltäter meist die mangelnde Sozialisierung. Viele Verhaltensforscher sind der Ansicht, unzureichende frühe Sozialisierung sei der Hauptgrund dafür, dass Hunde Angstprobleme, vor allem gegenüber Fremden, Artgenossen oder einem neuen Umfeld, entwickeln. Denken Sie daran, dass die Angst vor dem Unbekannten bei Hunden genetisch vorprogrammiert ist. Es handelt sich um einen Instinkt, der sie schützen soll. Dieser angeborene Instinkt kann weitestgehend unterdrückt werden, indem man den Hund früh und regelmäßig an die meisten Dinge, denen er im Laufe seines Lebens begegnen wird, gewöhnt. Das heißt an andere Hunde, Menschen, Orte, Geräusche, Berührungen und Bewegungen.
Viele Tierärzte warnen die Hundehalter davor, den Welpen außerhalb von Haus und Garten überall mitzunehmen, bis der vollständige Impfschutz aufgebaut ist (normalerweise im Alter von sechzehn Wochen), da er sich ansonsten eine Krankheit zuziehen könnte. Parvovirose und Staupe können tödlich sein. Da ein Welpe daran erkranken kann, wenn er irgendwo entlang läuft, wo vorher ein infizierter Hund war, müssen die Halter große Vorsicht walten lassen. (Seltsamerweise raten manche Tierärzte den Haltern nicht, ihre Welpen dem Wartezimmer fernzuhalten, wo man am ehesten auf erkrankte Hunde trifft!) Obwohl eine Quarantänezeit im Welpenalter Krankheiten verhüten kann, verhindert sie gleichsam, dass die Welpen mit den Eindrücken und Geräuschen der Außenwelt und anderen Hunden und Menschen in Kontakt geraten, wenn diese nicht zu ihnen nach Hause kommen. Für Besitzer von »Winterwelpen« ist es besonders mühsam trotz des nicht gerade einladenden Wetters nach draußen zu gehen, um ihre Welpen zu sozialisieren.
Man schätzt das Zeitfenster für die optimale Sozialisierung, das heißt den Zeitraum, in dem ein Welpe ohne bleibende Angstkonditionierung mit neuen Dingen in Kontakt gebracht werden kann, auf ein Alter von vier bis zwölf Wochen. Steve Lindsay sagt, nach fünf Wochen würden Welpen immer vorsichtiger und zurückhaltender was das Schließen neuer Sozialkontakte anbelangt. Die Tendenz zu Ängstlichkeit wachse und habe ihren Höhepunkt am Ende der Sozialisierungsphase im Alter von zwölf Wochen.3 Dies bedeutet nicht, dass Welpen, wenn sie älter als zwölf Wochen sind, nicht mit Neuem in Kontakt gebracht werden können. Aber je älter sie werden, desto schwieriger ist es für die Welpen, sich an das Ungewohnte zu gewöhnen.
Bei einem Zeitfenster für die optimale...