Tulip rannte mir voraus, als wir uns dem toten Körper eines Schafes namens Harriet näherten, und beschnüffelte ihn vom Kopf bis zu den Klauen. Harriets Tod war ein bedeutendes Ereignis auf meiner kleinen Farm. Bis zum Ende, selbst im hohen Alter von vierzehn, war Harriet ein bemerkenswertes Individuum gewesen. In ihrer Jugend hatten ihr zierlicher Körperbau und ihre karamellfarbene Wolle sie für den Supermodel-Status qualifiziert. Im Alter war sie kaum noch mehr als ein klappriges Knochengerüst, aber selbst als wir sie über eine Pipette mit Flüssignahrung fütterten, schaffte sie es, einen Ausdruck von Würde beizubehalten, der Schafen, Menschen und Hunden gleichermaßen Respekt abverlangte. Ich hing mehr an Harriet, als ich je zuvor an einem meiner Schafe gehangen hatte, und hatte bereits wie ein Baby geweint, als Tulip und ich gingen, um ihrem kalt und steif im Gras liegenden Körper einen letzten Besuch abzustatten.
Tulip, meine die Schafe bewachende Pyrenäenberghündin, war nicht im Stall gewesen, als der Tierarzt Harriet eingeschläfert hatte. Ich hatte sie ins Haus gebracht, damit der Tierarzt seine Arbeit ungestört verrichten konnte. Tulips Aufgabe ist es, die Schafe vor den Kojoten und streunenden Hunden zu beschützen, die sich überall im ländlichen Wisconsin umhertreiben. Tulips Liebe zur Gewalt- losigkeit ist beeindruckend, aber man kann darauf zählen, dass sie ihre Schafe beschützen wird, wenn diese sie brauchen. Die normalerweise sanftmütige Tulip kann sich in einer Mikrosekunde von einem freundlichen Kindermädchen zum Kriegshund Xena verwandeln. In den zehn Jahren ihres Herdenschutzdienstes auf meiner Farm hat sie noch nie einen Menschen, einen Hund oder ein Schaf verletzt, aber sie ging dazwischen wie eine Furie, als mich einmal ein hundertdreißig Kilo schwerer Widder angriff, als einmal ein fremder Hund einen meiner Hunde attackierte oder als ein dummer Border Collie in seinem jugendlichen Übermut einmal vom Schafehüten zum Schafejagen überging. Weil sie außerdem verspielt und neugierig ist, erschien es mir klüger, den Tierarzt seine Arbeit ohne sie tun zu lassen. Tulip hatte also nicht gesehen, wie Harriet vom Leben zum Tod wechselte, und als sie ihren Körper im Gras liegen fand, schien sie zutiefst betroffen zu sein.
Sie roch daran, umkreiste ihn schnüffelnd und stieß ihn immer wieder mit der Nase an. Nach ein paar Minuten legte sie sich neben das tote Schaf. Sie legte ihren großen, weißen Kopf auf ihre Pfoten, seufzte einmal – ein langes, langsames Ausatmen, das wir beim Menschen als Zeichen für Resignation deuten würden – und weigerte sich dann, sich weiter zu bewegen. Als meine Border Collies sich näherten, knurrte sie sie an, woraufhin diese sich zurückzogen und herkamen, um sich in angemessener Entfernung zu mir zu setzen. Ich weiß nicht mehr, wie lange Tulip neben Harriet lag, aber freiwillig wollte sie von ihr nicht fort. Als dann schließlich die Dämmerung den Himmel weicher machte, nahm ich sie sanft beim Halsband und führte sie zurück ins Haus.
Tulip sah ganz genauso aus, als wüsste sie, dass Harriet gestorben war und sie wirkte genauso traurig, wie ich mich fühlte. Es gibt nur einen Haken: Sie benimmt sich ganz ähnlich gegenüber den Tauben, die sie selbst gerissen hat. Und letzte Woche benahm sie sich so gegenüber einem Maiskolben, den ich ihr zum Kauen gegeben hatte. Während meine drei Border Collies fröhlich an ihren Maiskolben nagten und ihnen der milchige Saft das Kinn herablief, trug Tulip ihren mit großer Gravität zu ihrem Lieblingsplatz, legte ihn sanft und vorsichtig zwischen ihre Pfoten und bewachte ihn von allen Seiten. Sie knabberte nicht daran. Sie leckte nicht daran. Sie lag daneben, das Gesicht ruhig und bedeutungsvoll, genauso, wie sie an jenem traurigen Morgen auf Redstart Farm neben der toten Harriet gelegen hatte.
Ich würde mir nur zu sehr wünschen, dass Tulips Verhalten gegenüber Harriet der Ausdruck von etwas Bedeutungsvollerem war als der ihres Umgangs mit einem Maiskolben. Ein respektvolles Bewusstsein von Harriets Leben passt zu meinem Bild davon, wer Tulip ist – oder vielmehr davon, wie ich sie gerne hätte. Vielleicht hat es etwas zu bedeuten, dass Tulips Verhalten gegenüber Harriet nicht ganz genau identisch war mit dem, was sie gegenüber toten Tauben oder Maiskolben zeigte. Sie hatte nie ihren Kopf auf die Pfoten gelegt, wie sie es bei Harriet getan hatte, und sie hatte nie einen tiefen, langen Seufzer ausgestoßen, wenn sie sich vor eine tote Taube gestellt hatte. Ich kann kaum glauben, dass mein großäugiger, seelenvoller Hund auf Harriets toten Körper hin die gleiche Reaktion gezeigt haben sollte wie auf ein Stück Gemüse.
Die nackte Wahrheit aber ist, dass ich keine Ahnung habe, was in Tulips Kopf vorging, als sie sich neben die tote Harriet legte. Wusste sie, dass Harriet tot war und was das für die Zukunft bedeutete? Ich wüsste nur zu gern, was sie an diesem ruhigen Sommerabend nach Harriets Tod dachte, aber wie kann ich eine Möglichkeit finden, in ihren Kopf zu schauen? Was kann überhaupt irgendjemand von uns über das Gefühlsleben von Hunden wissen? Es ist ja schon schwierig genug, herauszufinden, was im Kopf eines anderen Menschen vorgeht, wie viel weniger kann das dann bei einem Wesen einer anderen Art gelingen.
Wir möchten es aber gerne wissen. Zu verstehen, was ein anderer gerade erlebt, ist der Schlüssel zum Gefühl der Verbundenheit, und Verbundenheitsgefühl ist ein integraler Bestandteil jeder guten Beziehung. »Könnte ich nur deine Gedanken lesen« ist mehr als ein altmodischer Ausspruch – es ist der Ausdruck unseres Wunsches, die Gedanken und Gefühle derjenigen zu verstehen, die wir lieben. Wir Menschen sind soziale Lebewesen, unser Wunsch nach Verbundenheit ist tief und drängend.
Diejenigen von uns, die ihre Hunde zutiefst lieben und sie als ihre Freunde und Familie betrachten, möchten wissen, was in ihrem Kopf vorgeht – genauso, wie wir das von Menschen wissen möchten, die uns etwas bedeuten. Wir müssen uns Hunde nicht als bepelzte kleine Menschen vorstellen, um verstehen zu wollen, wie ihr Gefühlsleben im Vergleich zu unserem aussieht. Ich, genau wie viele andere, möchte nichts mit sprachlosen, unordentlichen Menschen zu tun haben, die auf vier Beinen laufen und sich in Kuhfladen wälzen. Wir mögen es, dass unsere Hunde Hunde sind. Die Unterschiede zwischen uns bereichern unsere Beziehungen und verstärken unser Gefühl der Verbundenheit mit der Welt um uns herum. Aber der genetische Graben zwischen uns macht es noch schwieriger, zu erfahren, was unsere Hunde denken und fühlen, als es das bei unseren menschlichen Freunden ist. Kein Wunder, dass Tierkommunikatoren, die für sich beanspruchen, Zugang zu den Gedanken unserer Haustiere zu haben, so beliebt geworden sind.
Manchmal knüpfen wir auch ohne die Hilfe gesprochener Sprache tiefgehende Verbindungen zu den Hunden in unserem Leben. Zu anderen Zeiten läuft – wie in jeder Beziehung – vielleicht nicht alles so gut. Ich werde nie diesen Hund vergessen – einen von denen mit diesem ganz durchdringenden Blick – der einfach aufhörte, seinen Besitzer anzusehen. Ich beobachtete die beiden auf einem Hütehundkurs mehrere Stunden lang: Eine kleine, grauhaarige Frau mit einem schmucken, schwarz-weißen Border Collie an einer leuchtend roten Leine. Der Hund schaute überall hin, nur nicht zu der Frau, die ihn liebte. Er saß sogar fast eine ganze Stunde lang ruhig an ihrer Seite, aber mit dem Kopf um hundertachtzig Grad weggedreht.
Die Frau, die diesen Hund besaß und liebte, hatte die besten Absichten, aber ihre Worte und Bewegungen waren so verwirrend, dass selbst ich keine Ahnung hatte, was sie mitzuteilen versuchte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wozu sie ihren Hund bringen wollte, und schon gar nicht davon, was sie dachte. Ich nehme an, dass dieser schlaue, willige kleine Hund seine Besitzerin so frustrierend fand, dass er es nicht mehr ertragen konnte, weitere Verständigungsversuche zu unternehmen und deshalb beschloss, jeder Kontaktaufnahme gleich ganz aus dem Weg zu gehen. Es erinnerte mich daran, wie ich schon so manches Mal das Autoradio ausgeschaltet habe, weil der Empfang so schlecht und das Rauschen so laut war, dass ich das Zuhören nicht mehr ertrug.
Die unpassende Konstellation ging mir so ans Herz, dass ich die Dame am Ende des Tages fragte, ob ich ihren Hund kaufen könnte. Ich war nicht überrascht, als sie nein sagte, denn sie schien ihren Hund sehr zu lieben. Man kann ja auch nicht unbedingt geradewegs auf einen Fremden zugehen, ihm mitteilen, dass er unabsichtlich seinen Hund quält und dann erwarten, dass er einem dankt und die Leine überreicht. Aber ich kann immer noch das liebe, ehrliche Gesicht dieser Hündin vor mir sehen und frage mich, ob sie wohl noch lebt, ob sie immer noch in den Himmel schaut und versucht, das Rauschen so gut es geht abzustellen.
Den meisten von uns gelingt es besser als der oben beschriebenen Frau, die Lücke zwischen unserem Geist und dem unserer Hunde zu schließen, aber das heißt nicht, dass es einfach wäre. Wir meinen...