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Angezogen

Das Geheimnis der Mode

AutorBarbara Vinken
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783608105797
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ist der Wandel der Moden eine unvorhersehbare Laune der Kultur? Mitnichten, sagt Barbara Vinken, auch wenn wir, die diese Moden tragen, meist keine Ahnung davon haben, was wir tun, wenn wir uns anziehen. Modewandel hat System. Fragt sich nur, welches? Sobald eine Mode vergessen ist und damit nicht mehr altmodisch wirkt, kann sie zum letzten Schrei wachgeküsst werden. Man hat deswegen von der Tyrannei der Mode gesprochen, die aus dem Blauen heraus ihre Launen diktiert. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sie sich als ein Spiel nach Regeln - und als ein differenziertes Zeichensystem im historischen Wandel. Im bürgerlichen Zeitalter ist Mode weiblich geworden, Männer kommen unscheinbar im Anzug daher. Doch das war nicht immer so. Heute ist der angeblich herrschende Trend der zum Unisex. Doch wenn sich Frauen wie Männer anziehen, ziehen sich dann beide gleich an?

Barbara Vinken, ist Professorin für Allgemeine -Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maxi-milians-Universität -München. Sie ist Gastkolumnistin in 'DIE ZEIT', 'NZZ' und -'CICERO' und häufig bei Gert Scobel zu Gast.

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Leseprobe

Die neuen Beine der Frauen


Manhattan im März: Ich sehe aus dem Fenster auf den Washington Square. Es ist neun Uhr morgens. Zielstrebig laufen die Leute über den Platz, in die Schule, zu den Seminaren an der Universität, zur Arbeit in die Geschäfte. Die Portiers tragen Arbeitsuniform und kümmern sich um Straße und Vorgärten. Die jüngeren Latinos unter ihnen haben raffiniert dünn rasierte Bärte. Bei den Männern, die keine Arbeitsuniform tragen, bestimmen zwei Silhouetten das Straßenbild: Anzug, eher schmal geschnitten, mit kurzem Mantel, gedeckte Farben. Blazer mit Flanellhose oder Chinos. Klassische Halbschuhe, Budapester, alternativ Loafers. Oder Jeans, Cordhosen mit Blouson, der unter der Taille oder unter dem Po abschließt, dazu Turnschuhe oder turnschuhartige Halbschuhe, dunkel, beides nicht enganliegend, kurze Haare. Die Jungs im Gangster-Style sind noch nicht unterwegs. Ihre weit hängenden Jogginganzüge sind jedenfalls eines nicht: körperbetont.

Bei den weiblichen Silhouetten geht es nur um Beine, Beine, Beine. Lang, sehr lang, oft bis zum Schritt sichtbar. Beine in Leggings oder engen Hosen. Beine mit blickdichten Strümpfen in Shorts oder sehr kurzen Röcken. Und dazu Stiefel in allen Längen, oft bis übers Knie. Diese langen Stiefel sind meistens flach. Die kürzeren Stiefel, weit in Falten fallend oder grob klotzig, fast martialisch, haben einen kantigen Absatz. Oft werden die dann noch endloser wirkenden Beine durch Plateausohlen verlängert. UGGs werden in allen Lebenslagen und Varianten rund um den Globus getragen: klassisch aus schwarzem oder braunem Schafsleder, paillettenbesetzt, mit Knöpfen wie ein Pullover. Mit solchen Schuhen trippelt und stöckelt man nicht; man tritt bestimmt auf. Die Stiefel in weichen Falten gemahnen an Landsknechte, die gröberen, klotzigen an Trapper im wilden Westen: »These boots are made for walking.«

Diese Beine haben offensichtlich wenig gemein mit den klassischen Frauenbeinen, die in durchsichtigen, hauchdünnen Strümpfen durch das Spiel von Nacktheit und Verhülltsein bestimmt waren. Generell sind die Nylonstrümpfe in den letzten 30 Jahren durch Phantasiestrümpfe verdrängt worden. Netz und Häkel, aufwendige Spitze, raffinierte Muster und bestickte Strümpfe, dicke bunte Wollstrumpfhosen, Leggings und Overknees haben den Strümpfen und Strumpfhosen ein viel größeres Eigengewicht gegeben. Nicht das nackte Bein, das durch den Nylonstrumpf noch seidig nackter wirken sollte, sondern das angezogene, geschmückte, bestrickte Bein trat in den Vordergrund. Damit wurde die bestimmende, die Geschichte des Rocks und damit die des Seidenstrumpfs begleitende Frage: Wie hoch kann man das Bein sehen? Wie kurz oder wie hoch geschlitzt ist der Rock? ad acta gelegt. Die Frage, ob man beim Schaukeln, Sitzen oder Bücken gar unter den Rock gucken kann, ob er zu hoch hinaufrutscht, ob er enganliegend zu viel preisgibt, zu durchsichtig ist oder gar schwingend über den Kopf geweht wird, hat sich erledigt.

Marilyn Monroe im heißen New Yorker Sommer auf dem U-Bahnschacht, dessen kühle Luft ihr den Rock hochbläst, wurde zu der erotischen Ikone des letzten Jahrhunderts. Das Sichtbarwerden der Schenkel signalisierte, dass man am Ziel seiner Wünsche angekommen war. Von Marlene Dietrich im Blauen Engel bis zur Serie Mad Men, die in den Sechzigerjahren spielt, ist der Straps zur Kurzformel für das Liebemachen geworden. Mehr als ein Strumpfband bekommt man nicht zu sehen, aber das sagte zwischen Diderots Jacques le Fataliste – von dem man gesagt hat, es sei ein endloser Roman über ein Nichts, das Strumpfband – und Mad Men alles. Aufgabe des Rocks war es, das Bein nur bis zu einem bestimmten Punkt bloßzulegen und das Geschlecht zu verhüllen. Diese Funktion ist bei den Beinen, die über den Washington Square laufen, irrelevant geworden. Das weibliche Geschlecht ist als Schamzone aus dem Blick geraten.

Was da weit ausschreitend, bestimmt auftretend über den Platz geht, ist eine neue Art von Bein, das seit gut zehn Jahren das Straßenbild bestimmt. Bisher sind alle Versuche, diese Silhouette durch eine andere zu ersetzen – Schlaghosen, länger werdende, das Knie umspielende, schwingende Röcke – fehlgeschlagen. Dass Plisséröcke in den Pastellfarben der Sechziger und im Vespa-Setting (etwa von Prada) an die Frau gebracht werden sollen, zeigt mehr als alles andere, dass der Rock jetzt als Zitat, als Vintage, wiederkommt. Deswegen kann man umso koketter mit dieser neuen, alten Weiblichkeit – à la »viva la mamma« – spielen.

Die Oberteile, eher weit, schließen knapp unter dem Po ab. Manchmal sieht man eine Andeutung von ganz kurzem Ballonrock. Auch wenn, traditioneller, ein schmaler, kurzer Mantel wie ein Gehrock mit Halbschuhen getragen wird, liegt die Betonung auf dem langen, blickdicht bestrumpften oder hauteng behosten Bein. Im Sommer werden die Stiefel durch Ballerinas oder besser durch Plateauholzschuhe ersetzt. Die Farbe – wir sind in New York – meistens schwarz. Die luxuriösere Variante zu diesem Look sind enge Lederhosen mit Ankle-Boots, die dann mit einem weiten Kaschmirpullover und einer kurzen, federartigen Pelzweste getragen werden. Oder Stiefel, die, aus feinem, schmiegsamem Leder, so elastisch wie Strümpfe, hoch über dem Knie enden.

Fast alle Frauen sind geschminkt, Make-up, Lippenstift, die jüngeren oft mit flüssigem Lidstrich. Falsche Wimpern liegen im Trend. Fast alle tragen Schmuck: Ohrringe, Halsketten und Armbänder mit Charms. Der Schmuck kommt nicht mehr im Set, Ohrringe passen nicht mehr zu Halsketten. Bloß keine aufwendigen, raffinierten Fassungen und Schliffe. Dieser Schmuck wirkt nicht mehr wie das, was Schmuck einst war: Inbegriff von téchne, von Kunst und Kunstfertigkeit. Jetzt kommt er als objet trouvé; zufällig zusammengestellt suggeriert er, nichts als individuelles Erinnerungszeichen zu sein. Manchmal hat er etwas Selbstgebasteltes und gibt sich als Geschenk eines kleinen Mädchens. Manchmal wirkt er wie ein ethnologisches Exponat, das Indianer oder andere »Primitive« von Hand hergestellt haben sollen. Oder wie ein Relikt aus dem heroischen Zeitalter der Industrialisierung, das man in einer Fabrikhalle als Antiquität der Moderne gefunden hat. Selbstgemacht zufällig und nicht kunstfertig planvoll wie der Schmuck unserer Mütter und Großmütter.

Manche, meist junge, sehr schlanke und offensichtlich auf gutes Angezogensein bedachte Männer betonen die Beine auch mit ganz engen Hosen und Mänteln, die über dem Knie enden. Aber die kommen erst später am Tag zum Flanieren auf den Square. Diese Kontur, die die Hüftlinie nach unten verschiebt, akzentuiert die Proportionen anders. Ist diese Verschiebung der Silhouette eine grundsätzliche Veränderung? Die männliche Silhouette hat im modernen Anzug ihre klassische Form gefunden. Der Anzug modelliert den Körper nicht eng, sondern idealisiert ihn in die antike V-Form. Mit schmalen Hüften und breiten Schultern wird der Bürger zum athletischen Helden. Gesäß und Geschlecht sind durch die Anzugjacke bedeckt. Es gibt kein Spiel zwischen nackter Haut und Stoff; bis auf die Hände und das Gesicht sieht man vom Körper nichts. Die engen Hosen der jungen Männer variieren diese klassische Männersilhouette. Die weibliche Silhouette mit den endlos langen, blickdicht bestrumpften oder behosten Beinen ist hingegen neu. Frauen waren noch nie so angezogen.

Während die männliche Silhouette minimalen Variationen unterliegt und in ihren grundsätzlichen Proportionen seit fast 200 Jahren von klassischer Zeitlosigkeit ist, zeigt die weibliche Silhouette in dieser Zeitspanne rasante Wechsel. Der klassischen und klassisch modernen Herrenmode steht eine historistische Damenmode gegenüber, die aus einem unendlichen Zitatfundus der Mode wie aus einer Klamottenkiste auf dem Speicher beliebig zu schöpfen scheint. Klassisch-moderne Zeitlosigkeit auf der männlichen Seite steht einem historistischen Recycling auf der weiblichen gegenüber, das manche als ebenso willkürlich wie ermüdend empfinden. Nicht modern, sondern anachronistisch ist die weibliche Mode.

Beliebig, so scheint es, ist alles längst zur Masche geworden. Wir leben in einer Zeit des Revivals der Vierziger-, Fünfziger- oder Sechzigerjahre; man weiß manchmal nicht mehr genau, ob die Siebziger oder die Achtziger gerade ein Comeback feiern. Mit Watteaus Pierrot oder Marie Antoinette, die wie ein Gespenst in den Schaufenstern von Barneys erscheint, kommt das 18. Jahrhundert zurück. Sobald eine Mode vergessen ist und damit nicht mehr altmodisch wirkt, kann sie zum letzten Schrei wachgeküsst werden. Man hat deswegen von der tyrannischen Beliebigkeit der Mode gesprochen, die aus dem Blauen heraus ihre Launen diktiert.

Doch der Eindruck täuscht: Die Moden entwickeln sich nicht völlig unvorhersehbar. Sie verdanken sich nicht dem blinden Zufall. Deshalb ist es durchaus möglich, die Mode zu denken.1 Der Modewandel zeigt bestimmte Strukturmerkmale und folgt bestimmten Gesetzen. Das heißt nicht, dass die Mode in ihrer konkreten Entwicklung vorhersehbar sei. Ihre Entwicklung ist jedoch nur innerhalb bestimmter Muster möglich. Welche der Möglichkeiten ausgewählt und wie sie konkret realisiert werden, das ist nur im Nachhinein zu bestimmen. Der Rückgriff etwa auf einen historischen Modefundus ist weder beliebig – alles so schön bunt hier, ich kann mich gar nicht entscheiden – noch bedeutungslos. Auch wenn wir, die wir diese Moden tragen, meistens natürlich keine Ahnung davon haben, was wir tun, wenn wir uns anziehen: Modewandel hat System. Fragt sich bloß, welches.

Zurück zu den neuen Beinen der Frauen. Sie helfen uns vielleicht auf die Sprünge. Man hat die neue Hochbeinigkeit mit den staksigen Beinen von Füllen...

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