Das Gemeinschaftsrecht der europäischen Union kann in primäres und sekundäres Europarecht unterteilt werden. Als Primärrecht werden die zwischen den Mitgliedsstaaten geschlossenen Verträge[114] bezeichnet.[115] Das Sekundärrecht umfasst die Rechtsakte, die von den Mitgliedsstaaten auf Basis des Primärrechts erlassen werden. Nach Art. 288 AEUV gehören hierzu Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen.[116] Obwohl die Steuerharmonisierung kein eigenständiges Ziel der europäischen Union ist,[117] hat der Einfluss des Europarechts auf die nationalen Steuergesetze in den letzten Jahren stetig zugenommen.[118] Die Harmonisierung der indirekten Steuern stützt sich hierbei vorrangig auf das Verbot der steuerlichen Diskriminierung bei der Einfuhr nach Art. 110 AEUV, während die Harmonisierung der direkten Steuern auf der allgemeinen Rechtsangleichungsvorschrift des Art. 115 AEUV basiert.[119] Hierbei spielen insbesondere die erlassenen Richtlinien und die Rechtsprechung des EuGH eine große Rolle. Bei der Harmonisierung direkter Steuern mittels Richtlinien sind die Mutter-Tochter-Richtlinie[120], die Fusionsrichtlinie[121] und die Zins- und Lizenzrichtlinie[122] hervorzuheben.[123] Im Bereich der indirekten Steuern ist insbesondere die Umsatzsteuerrichtlinie[124] zu nennen. Neben den erlassenen Richtlinien hat auch die Rechtsprechung des EuGH entscheidenden Einfluss auf die nationalen Steuervorschriften. Diese dürfen nicht gegen die europäischen Grundfreiheiten[125] verstoßen.[126] Sofern eine Regelung im Verdacht steht, gegen eine dieser Grundfreiheiten zu verstoßen, besteht die Möglichkeit für die nationalen Gerichte durch ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV dagegen zu klagen.[127] Die Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten haben hingegen nicht die Möglichkeit, den EuGH direkt anzurufen und sind somit auf die nationalen Gerichte angewiesen.[128] Während die von der EU erlassenen Richtlinien unmittelbaren Einfluss auf alle Mitgliedsstaaten haben, gelten die Entscheidungen des EuGH unmittelbar nur für die im Verfahren betroffenen Mitgliedsstaaten. Dennoch haben die Urteile des obersten europäischen Gerichts Bindungswirkung für die nationalen Gerichte.[129] Wenn eine Gesetzesregelung in einem bestimmten Staat als unionsrechtswidrig deklariert wird und eine vergleichbare Regelung in einem anderen Staat angewendet wird, kann auch diese als unionsrechtswidrig betrachtet werden und muss von den nationalen Gerichten entsprechend behandelt werden.
Zu den oben erwähnten Grundfreiheiten gehört u.a. die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 ff. AEUV. Da diese bei der Harmonisierung der direkten Steuern und insbesondere bei den Entstrickungsnormen eine wichtige Rolle spielt[130], wird ihr Anwendungsbereich im Folgenden näher erläutert. Die Niederlassungsfreiheit soll den Bürgern der EU im Rahmen der sogenannten unternehmerischen Freizügigkeit die auf Dauer angelegte Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Tätigkeit ermöglichen.[131] Damit steht sie im Gegensatz zur Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 ff. AEUV, die nichtselbständige Tätigkeiten in sämtlichen Mitgliedsstaaten ermöglichen soll.[132] Die Niederlassungsfreiheit gilt nicht nur für natürliche Personen, sondern gemäß Art. 54 AEUV auch für Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der europäischen Union haben. Hierbei besitzt die Niederlassungsfreiheit Schutzwirkung sowohl auf der Ebene neu gegründeter Wirtschaftsaktivitäten in anderen Mitgliedsstaaten durch beispielsweise eine Tochtergesellschaft oder Zweigniederlassung[133] als auch auf Ebene der Muttergesellschaft bzw. des Stammhauses[134].[135] Das sogenannte Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV bestimmt außerdem, dass keine Ungleichbehandlung von In- und Ausländern erfolgen darf.[136] Im Bereich der Niederlassungsfreiheit bedeutet das, dass die gleichen Rechtsvorschriften auf Niederlassungen von Inländern wie auf die von Ausländern angewendet werden müssen.[137] Darüber hinaus bestimmt das sogenannte Beschränkungsverbot nach Art. 26 Abs. 2 AEUV, dass nationale Regelungen nicht angewendet werden dürfen, sofern sie die Anwendung einer Grundfreiheit (z. B. der Niederlassungsfreiheit) weniger attraktiv machen.[138]
Wie bereits erwähnt, spielt die Rechtsprechung des EuGH insbesondere in der Sicherung der Grundfreiheiten eine große Rolle. In ständiger Rechtsprechung hat sich daher ein Prüfungsschema entwickelt, mit dem der EuGH feststellt, ob ein Verstoß gegen eine der Grundfreiheiten vorliegt. Da der Fokus in dieser Arbeit aus bereits genannten Gründen auf der Niederlassungsfreiheit liegt, soll im Folgenden das Prüfungsschema für diese Grundfreiheit näher dargestellt werden.[139] Im ersten Schritt prüft der EuGH, ob der Kläger sich überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann, d. h. ob er sich im Schutzbereich von Art. 49 AEUV befindet. Bei natürlichen Personen wird hierbei überprüft, ob der Kläger überhaupt einer selbständigen Tätigkeit in einem der Mitgliedstaaten nachgeht. Wenn sich eine Gesellschaft auf die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV berufen will, muss sie gemäß Art. 54 AEUV u.a. nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet sein und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der europäischen Union haben. Wenn der Kläger das Recht hat, sich auf eine der Grundfreiheiten zu berufen, wird im zweiten Schritt geprüft, ob die entsprechende Regelung, gegen die Beschwerde eingelegt wurde, die Grundfreiheit beeinträchtigt. Die Beeinträchtigung kann beispielsweise durch eine allgemeine Beschränkung oder aber auch durch eine offene oder versteckte Diskriminierung bestehen. Sollte dies der Fall sein, heißt es jedoch nicht zwingend, dass auch ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt. Sollte eine Beeinträchtigung tatsächlich vorliegen, ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob diese gerechtfertigt werden kann. Hierfür gibt es zum einen geschriebene Rechtfertigungsgründe gemäß Art. 52 Abs. 1 AEUV, die für alle Beeinträchtigungen gelten. Zum anderen haben sich durch die ständige Rechtsprechung aber auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe herausgebildet.[140] Hier sind z. B. die Kohärenz des Steuersystems oder die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedsstaaten zu nennen. Sollte ein solcher Rechtfertigungsgrund bestehen, wird im letzten Schritt geprüft, ob die Maßnahme des Mitgliedsstaats, den Rechtfertigungsgrund durchzusetzen auch verhältnismäßig ist oder sogar gegen die Grundrechte verstößt. Verhältnismäßig ist eine Maßnahme nur, wenn sie zur Zielerreichung geeignet ist und nicht über das zur Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgeht.[141]
Da im Rahmen der europarechtlichen Überprüfung der Entstrickungsnormen insbesondere die Niederlassungsfreiheit eine große Rolle spielt, werden im Folgenden die wichtigsten Urteile zum Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit dargestellt, um aufbauend auf den gewonnenen Ergebnissen das aktuelle Urteil in der Rechtssache National Grid Indus kritisch zu analysieren. Zunächst werden die wichtigsten gesellschaftsrechtlichen Urteile zum Weg- bzw. Zuzug von Gesellschaften aufbereitet, bevor die steuerrechtlichen Aspekte des Wegzugs natürlicher Personen beleuchtet werden.
Bei den Urteilen des EuGH zur Niederlassungsfreiheit ist zwischen dem Wegzug- und dem Zuzugsfall zu unterscheiden, d. h. es ist entscheidend, ob ein Verfahren gegen einen Staat geführt wird, in den eine Gesellschaft ziehen möchte oder gegen den Staat, aus dem die Gesellschaft wegziehen möchte. Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Wegzugsfälle dargestellt, um daraufhin die bedeutsamsten Zuzugsfälle zu beleuchten.
Das erste wichtige Urteil zum Wegzug von Gesellschaften wurde bereits im Jahr 1988 gesprochen. In der Rechtssache Daily Mail[142] hatte eine in Großbritannien gegründete Gesellschaft die Absicht, ihren Sitz in die Niederlande zu verlegen.[143] Für die Aufgabe des Sitzes in Großbritannien war nach britischem Recht allerdings...