Einleitung
Lothar König? Natürlich hatte ich den Namen schon gehört. Er stand ja in allen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten über ihn. Der Mann aus Jena war im Februar des Jahres 2011 als evangelischer Pfarrer bei einer Demonstration gegen Rechtsextremisten in Dresden mit der sächsischen Polizei zusammengeraten. Oder die Staatsmacht mit ihm? Da waren offenbar starke Emotionen im Spiel, auf beiden Seiten. Die Dresdner Behörden hatten nach dem Ereignis jedenfalls Handlungsbedarf gesehen und die weltliche Gerichtsbarkeit gegen den Gottesmann in Marsch gesetzt. Mit massiver Präsenz rückten sie eines frühen Morgens im Sommer 2011 im benachbarten Freistaat Thüringen ein und stellten die Dienstwohnung des abwesenden Lothar König auf den Kopf – fern aller Gemütlichkeit, die man den Sachsen als Landsmannschaft gern ungeprüft attestiert.
Doch die Nachfahren Augusts des Starken, des angeblich so überpotenten Kurfürsten und späteren Königs von Polen, des christlich bewegten Abenteuerschriftstellers, Exganoven und Fantasten Karl May und des kommunistischen Spitzenfunktionärs und Berliner Mauerbauers Walter Ulbricht sind mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht per se freundlicher als anderer Länder Kinder. Außerdem: Vielleicht sind es ja gar keine (oder nicht ausschließlich) Sachsen gewesen, die mit ihrer Razzia in der Evangelischen Studentengemeinde bis heute von sich reden machen. Immerhin muss seit dem Fall der Mauer vor mehr als 20 Jahren verstärkt davon ausgegangen werden, dass nicht jeder in Dresden, Leipzig oder Kötzschenbroda lebende Bürger auch ein genuiner Sachse ist.
Nichts Genaues weiß man nicht. Jedenfalls in dieser Frage. Sicher hingegen ist: Die Beamten kamen aus Dresden. Und ihr Vorgehen fand enorme Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Die Empörung reichte von linken Gruppen und Parteigängern bis in die schwarzrote Thüringer Landesregierung. Auch Königs Dienstherrin Ilse Junkermann, die Bischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, meldete sich in dieser Angelegenheit befremdet zu Wort.
Am stärksten betroffen fühlte sich naturgemäß Lothar König selbst. Ihm ging es freilich nicht nur um die politische Wirkung der Aktion – es war ja seine Privatsphäre, durch die die Staatsanwälte und Polizisten marschiert waren, ungeachtet der Proteste seiner Tochter Katharina, die Zeugin der Durchsuchung seiner Wohnung war. Lothar König war verreist, er wanderte in diesen Tagen in Südtirol, um Frieden zu finden und den Kopf freizubekommen.
Ich kann allenfalls ahnen, wie ich mich gefühlt hätte, wäre ich an seiner Stelle gewesen und hätte am Telefon von den alles andere als friedlichen Ereignissen gehört, die sich indessen zu Hause zugetragen hatten. Diese Ahnung aber reicht aus: Es muss einen Schock ausgelöst haben, der wahrscheinlich lange nachwirken wird. Später, nachdem wir schon ein paar Mal ausführlich miteinander gesprochen und einen Draht gefunden haben werden, wird er über seine Gefühle sagen, es habe ihn dies, was damals in seiner Jenaer Wohnung geschehen war, an Ängste aus den letzten Jahren der DDR erinnert: nicht zu wissen, was eine Macht plant.
Allerdings haben ihn diese Gedanken nicht beirrt in seinem Tun. Damals nicht. Und heute nicht. Erschrecken kann man Lothar König wohl, aber nicht von seiner Überzeugung abbringen, wenn er sie gründlich geprüft und für Wert befunden hat, verteidigt zu werden. Christen, Gläubige überhaupt, können sich in ihrem Gottvertrauen als äußerst harte Nüsse erweisen. Und sie müssen deshalb keine Fundamentalisten sein. Fundamentalismus ist antiaufklärerisch, borniert und engstirnig. Auf Lothar König trifft nichts von alledem zu, im Gegenteil. Denn er hat ein großes Herz und so viel Liebe darin, wie man es jedem Zeitgenossen wünschen sollte.
Ob ich nicht Lust hätte, über Lothar König zu schreiben, fragte der Kreuz Verlag um die Jahreswende 2011/12 an. Ich war interessiert, die Neugier des Journalisten und Schriftstellers auf Menschen hat sich im schnellläufigen Tageszeitungsgeschäft nicht abgeschliffen, in dem ich seit ostdeutschen Nachwendetagen tätig bin. Wenn ein friedfertiger Mann, der die Lämmer des Herrn zu hüten berufen ist, sich bei den Zornigen einreiht und angesichts der scheinbaren oder tatsächlichen Selbstverständlichkeit, mit der neue Nazis einen Platz in der Mitte der Gesellschaft beanspruchen, Ehrlichkeit im Umgang mit der eigenen, der deutschen Geschichte fordert, ist allein dies Grund genug, ihn kennenlernen zu wollen.
Gerät er dann aber wegen seines Handelns gar in den schwerwiegenden Verdacht des Landfriedensbruchs, wird es umso spannender: Wie erklärt er das? Hat er als Pastor und Christ hier nicht tatsächlich seine Kompetenz überschritten? Oder muss er, gerade weil er gläubig ist, alle Bedenken über Bord werfen und handeln? Das biblische Gleichnis von Nathan, der dem König David den Spiegel vorhält, wird Lothar König ins Feld führen, um sein Motiv zu erklären. Das meint er in allem Ernst, weil ihm die Bibel nicht nur rhetorisch, sondern wahrhaftig das Buch der Bücher ist. Noch ein Grund mehr, ihn ein wenig besser kennenzulernen.
Geschrieben wurde freilich schon viel über ihn, Journalisten stehen Schlange bei Lothar König. Er ist ein bunter Hund, ein Mann, der immer für einen unangepassten Satz gut ist. Das kommt gut an beim Publikum. Und er will seine Sätze natürlich auch loswerden. Das gehört zur Wahrheit dazu: Lothar König ist nicht zum Märtyrer geschaffen, der stumm leidend in der Ecke steht und darauf hofft, dass jemand seine Not bemerken wird, sondern er geht hinaus und macht seinem Herzen Luft.
Ein Buch aber gab es bisher noch nicht über den Mann mit der rebellischen Seele. Die hier vorliegenden Anmerkungen zur Person wird man als eine Annäherung an Lothar König verstehen müssen, eine umfassende Biografie ist es nicht, schon gar keine letztgültige. König ist, ungeachtet der Tatsache, dass er auf die Sechzig zugeht, ja immer noch unterwegs zu sich, wobei er sich seinem Gott ganz und gar in die Hände gibt. Dieser Gott ist nicht der strafende, mit dem man früher die Kinder geängstigt hat. Es ist der Gott der Liebe und der Freundlichkeit. Das, was nun geschrieben worden ist, wäre nicht ohne Verständnis, schon gar nicht ohne Sympathie zu Papier gekommen. Denn es gibt eine Reihe von Parallelen und Schnittmengen zwischen Lothar König und mir, die ich, ginge es hier um einen Text für eine Zeitung, tunlichst beiseite und unerwähnt lassen müsste. Rückt dem Journalisten der Gegenstand seiner Betrachtung persönlich nahe, muss er auf Distanz gehen – oder sich ganz und gar von dem Thema verabschieden. Es sei denn, er schreibt einen Kommentar. In einem Buch hingegen, das die persönliche Betrachtung von Menschen und Zeitumständen ausdrücklich bezweckt, ist das anders. Wahrhaftig soll es sein, natürlich. Aber es darf eben auch Nähe verraten, wenn sie denn entstanden ist. So ist es mir mit Lothar König ergangen.
Wie er stamme ich aus Thüringen. Wahrscheinlich hört man mir diese Herkunft noch immer ebenso unmittelbar an wie ihm, es ist die etwas breite, dumpfe Artikulation, die den Thüringer ausmacht – deretwegen er von argwie ahnungslosen Westlern gern den Sachsen zugeschlagen wird. Wir sind annähernd gleichaltrig, auch wenn Lothar König mit seinem Geburtsjahr 1954 die Nase um zwei Jahre vorn hat. Er ist evangelischer Theologe geworden, was ich, wäre es nach dem Wunsch meiner Großmutter, einer lebenspraktischen, frommen Frau, gegangen, auch hätte werden sollen.
Was uns außerdem verbindet: Ein ausgeprägtes, vielleicht sogar extremes Empfinden von Ungerechtigkeit. Lothar König hat gegen die DDR-Obrigkeit und den von ihr verordneten Gehorsam aufgemuckt. Ich war (und bin) weniger impulsiv, schon gar nicht draufgängerisch – dafür bestimmt ängstlicher, als Lothar König es jemals gewesen ist. Doch als 1976 der Dichter und Sänger Wolf Biermann nach seinem Kölner Konzert, das die ARD übertragen und damit auch in den Osten Deutschlands gesendet hatte, von den SED-Häuptlingen ausgebürgert wurde aus dem gelobten Land der Arbeiter und Bauern, schloss ich mich als 20-jähriger Bibliothekarsstudent und junger Autor dem Protest der prominenten Schriftsteller und Künstler gegen diese Willkürmaßnahme an. Das brachte mir viel Ärger und das vorzeitige Ende einer beruflichen Karriere ein, bevor sie richtig beginnen konnte; aber es stärkte auch meine Selbstachtung.
Der gebürtige Hamburger Biermann hatte die Führung der Einheitspartei immer wieder durch allerfrechste, allerköstlichste Offenheit provoziert – und sich diese auch über längere Zeit leisten können. Als Sohn eines Arbeiters und jüdischen Kommunisten, der von den Nazis verfolgt und umgebracht worden war, hatte Biermann einen großen Bonus, aber mit Versen wie »Sindermann, blinder Mann« über einen der Ostberliner Spitzenfunktionäre traf er den Nerv des Systems dann doch zu empfindlich. Biermann war quasi ein Feind geworden und wurde deshalb 1965 mit Berufsverbot belegt, das bis zu seiner Ausbürgerung elf Jahre später in Kraft blieb.
Menschen wie Wolf Biermann und Lothar König, denen es ein natürliches Bedürfnis ist, wider den Stachel zu löcken, weil sie ihren Kopf zu seiner vornehmsten Aufgabe, dem Denken, radikal benutzen, kommen deswegen schnell in den Verdacht, Radikale zu sein. Ein Missverständnis, das vielleicht gar nicht so zufällig entsteht, wie Gutgläubige annehmen mögen.
Ich habe Lothar König als einen nachdenklichen, hochsensiblen, skrupulösen Sinnenmensch kennengelernt, der sich mit polternden Auftritten vor Nachstellungen und Zudringlichkeit zu schützen versucht. Auch von Seiten jener, auf deren Seite er eigentlich steht. Er liebt Fußball...