5. Bildschirm – Konzerte: Dokumentation – Interpretation (S. 112-113)
Während den „Cinéphonies" als den ersten, künstlerisch eigenständigen und zugleich dokumentarischen Musikfilmen nur eine kurze Dauer beschieden war, wurde die bis in die 80er Jahre weitgehend unambitioniert fortgeführte Verfilmung bedeutender Ereignisse der Interpretationsgeschichte – vorwiegend für die Archive bestimmt, aber auch in Matineen und Beiprogrammen weiterverwertet – allmählich von einem neuen, zunächst auf sachliche Information setzenden und mit einem ungleich größeren Distributionsnetz ausgestatteten Medium übernommen, das bereits um 1990 die primäre Rezeption von Musik überholt hat, nicht zuletzt auch wegen seiner stimulierenden Wirkung auf den Ton- und Bildträgermarkt.
Bereits in den späten 40er Jahren werden zahlreiche Orchesterwerke unter den Dirigenten Toscanini, Monteux, Stokowski und Ormandy als „Wochenendkonzerte" in Teilen der USA ausgestrahlt, in den 50ern sind die Fernsehkonzerte des Chicago Symphony Orchestra unter seinem Chefdirigenten Fritz Reiner sowie den Gastdirigenten Bruno Walter, Ernest Ansermet, Igor Strawinsky und Joseph Krips bereits etablierte Sendungen. Trotz der unterschiedlichen politischen Systeme etabliert sich im Deutschland der 50er Jahre – das tägliche Programm der ARD beginnt am 25. 12. 1952 – ein nahezu einheitlicher Inszenierungsstandard der Konzertpräsentation, der den Reichtum kinematografischer Möglichkeiten zugunsten eines sachlich-dokumentarischen Stils bewußt reduzierte. Begünstigt wurde diese freiwillige stilistische Selbstbeschränkung westlicherseits durch die herrschende Lehre von der „werkimmanenten" Interpretation, östlicherseits durch die sozialistischen Prämissen von „Ehrlichkeit" und „Wissenschaftlichkeit", die einen weitgehenden Verzicht auf Playbacktechniken nahe legten und den Notentext zur letzten und „objektiven" Instanz der Bildregie erklärten (1).
„Sachlichkeit" und „Objektivität" sind dabei allerdings von Anfang an eher Desiderate als einlösbare Regiepraxis. Die neutralste Form der Dokumentation als Konservierung eines musikalischen Ereignisses mithilfe des Tonfilms würde die Kamera zum stellvertretenden Konzertbesucher reduzieren, zum durchschnittlichen Augen- und Ohrenzeugen, der nur das wiedergeben kann, was von einem bestimmten Punkt des Auditoriums aus wahrzunehmen ist: eine Form des Fernsehkonzerts, die bestenfalls den Charme rasch vergilbender Erinnerungsfotos ausstrahlte und weder aus der Sicht der Produzenten noch aus jener der Rezipienten jemals ernsthaft gewünscht war. Fast zeitgleich mit der Ausstrahlung der ersten Konzerte wird darum bereits an eine Fernsehregie gedacht, die wie ein „Opernglas für alle" funktioniert, nicht wie ein subjektiv und nach Belieben einsetzbares Instrument freilich – das bliebe einem interaktiven Medium vorbehalten –, sondern wie eines, das durch seine strukturierende Bildgestaltung so etwas wie eine „kritische Ausgabe" des jeweiligen Musikwerkes hervorbringt (2). Damit ist allerdings die (hypothetische) Phase einer absichtlosen Dokumentation bereits übersprungen und die Inszenierung des Bildschirmkonzerts schon unweigerlich zur Interpretation geworden: zur gelingenden oder mißlingenden Interpretation der Interpretation oder auch des Musikwerks selbst. Das Problem jeder musikalischen Interpretation – daß die Partitur zwar die unverzichtbare Basis, aber eben nicht das Werk selbst, sondern nur dessen Chiffrierung darstellt, die sich erst im Augenblick der Realisation zum sinnhaften Gebilde verwandelt – berührt damit auch die visuelle Ebene.
Die Einsicht, daß jedes Bildschirmkonzert eine eigenständige Deutung nicht nur der aktuellen Einspielung, sondern immer auch des Urtextes darstellt und mit anderen Lesarten konkurriert, spielte freilich für die Praxis einer „Zeigestock-Regie", die jeweils ins Bild rückte, was ohnehin zu hören war, eine ähnlich untergeordnete Rolle wie die aus Eisensteins Theorien in die Filmästhetik Adornos und Eislers eingewanderten Vorstellungen von einem konsequenten Verzicht auf jede Verdopplung und einem nicht analogen, sondern kontrapunktischen Gefüge der Bild-Ton-Beziehungen. Das änderte sich mit der Einrichtung des zweiten (1961/63) und der dritten Programme (1964) in den für die Entwicklung des Fernsehkonzerts bedeutungsvollen 60er Jahren. Zum Innovationsreichtum jener Jahre – Farbfernsehen und MAZ-Technik, die Gründung von Produktionsunternehmen wie Unitel und Cosmotel, die Vergabe von Kompositionsaufträgen seitens der Sender an audiovisuell arbeitende Künstler wie Mauricio Kagel, Luc Ferrari, Hans Otte und Luis de Pablo, das Einbeziehen der Probenarbeit in die Konzertpräsentation – gehören auch und vor allem eine Reihe von herausragenden Regiearbeiten.
1965 verfilmt Henri-Georges Clouzot Herbert von Karajans Interpretation der Vierten Sinfonie von Robert Schumann mit den Wiener Symphonikern. Eine ausführliche Beschreibung dieser Produktion (3) hebt den experimentellen und entmythologisierenden Charakter dieser Arbeit hervor: das Studio-Ambiente der in Schwarzweiß gedrehten Playback-Produktion wird nicht verdrängt, sondern bewußt hervorgekehrt, die Musiker spielen in Straßenkleidung; die Perspektiven lösen sich von der des Konzertbesuchers, die Projektionsfläche wird gelegentlich nur zur Hälfte genutzt und erst nach dem Aufblenden auf einen weiteren Spieler komplettiert. Enger an den musikalischen Ereignissen haftet indessen, trotz ihrer Tendenz zur Monumentalisierung und zu spannungsreichen Perspektivwechseln, die Interpretation von Beethovens Fünfter durch Clouzot, Karajan und die Berliner Philharmoniker.