3 Bildung
„Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“[30]
„Nicht überall, wo Bildung draufsteht, ist auch Bildung drin. So könnte man salopp die Schwierigkeit beschreiben, die über manche sprachliche Verwirrung hinaus die sachliche Beschäftigung mit Bildung erschwert.“[31] Jedermann und -frau redet von Bildung: Man kann sich diesem Begriff kaum entziehen, ob man nun die tagesaktuelle Politik verfolgt oder sich im privaten Rahmen mit anderen Eltern über Schule und Kinder unterhält: Bildungssystem, Bildungspolitik, Bildungsexperten, Bildungsserver, Bildungsgutscheine, Bildungskonferenzen, Bildungsempfehlungen und Bildungspläne, Bildungswerke, Bildungszentren und Bildungsstätten. Bei so viel versammelter Kompetenz[32] (auch so ein „Unwort“ in der deutschen Bildungslandschaft) muss die Frage gestellt werden, was es mit diesem viel strapazierten Begriff denn eigentlich auf sich hat. Was ist „wa(h)re Bildung“? Oder ist Bildung eine Ware?[33] Bildung ist der vielleicht unklarste Begriff im gegenwärtigen pädagogischen Sprachgebrauch. Im Grunde genomme bräuchte es eine umfassende historisch-kritische Bildungsgeschichte, die den Begriff vor dem Hintergrund der jeweiligen zeitgeschichtlichen Gegebenheiten analysiert und reflektiert. Das kann und soll in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden. Es soll jedoch ein Schlaglich auf die unterschiedlichen Entwicklungsstränge und die daraus resultierende Bedeutungsbreite des Begriffes Bildung geworfen werden.
Der deutsche Bildungsbegriff[34], für den es in anderen Sprachräumen kein Äquivalent gibt, kann also nicht zeitlos definiert, sondern nur in seiner historisch-systematisch-dynamischen Vielschichtigkeit erschlossen werden.[35] Insbesondere die Unterscheidung von Bildung zu Ausbildung und Erziehung[36], die es in anderen Sprachen in solcher Klarheit nicht gibt, spiegelt die Einzigartigkeit und Komplexität dieses Begriffes wider, der nur vor dem Hintergund historischer und gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse in Deutschland zu verstehen ist.[37] Es bietet sich also an, einen kurzen Abriss der historischen Entwicklung der Wortbedeutung zu geben. Wie hat sich der Begriff der Bildung von seinem Auftauchen bis zum heutigen Zeitpunkt entwickelt, welche Bedeutungsverschiebungen hat er möglicherweise erfahren und was muss man unter einem zeitgemäßen Bildungsbegriff verstehen?[38] Exemplarisch sollen hier und da Theoretiker der Bildung zu Wort kommen, die den Bildungsbegriff in besonderem Maße und in ihrer jeweiligen Zeit geprägt haben.
3.1 Bildung: eine kleine Begriffsgeschichte
3.1.1 Die Bedeutungsbreite des deutschen Wortes Bildung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
Das Wort Bildung findet sich bereits in den ältesten deutschprachigen Schriftzeugnissen. Schon im Spätalthochdeutschen findet man es in der Form bildunga und im Mittelhochdeutschen als bildunge[39], was so viel wie Bildnis, Gestalt oder (mystisch sinnliche) Vorstellung bedeutet[40]. Der Begriff Bildung und das zugehörige Verb bilden[41] waren zentrale Begriffe für die spätmittelalterlichen Kirchenväter, die hier nicht nur eine der vier traditionellen Tugenden, die imaginatio eingedeutscht, sondern vielmehr den Begriff um ihre mystisch-religiösen Erfahrungen in seiner abstrakten Bedeutung erheblich erweitert hatten.[42]
3.1.2 18. Jahrhundert: Bildung und Erziehung als Schlüsselbegriffe der entstehenden Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung
In der pädagogischen Fachsprache tauchte der Begriff Bildung erstmals in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang der entstehenden wissenschaftlichen Pädagogik[43] auf.[44] In dieser Zeit erfuhr der Begriff eine einzigartige und bis in die Gegenwart reichende philosophisch-ästhetische, pädagogische und ideologische Aufladung bis hin zur Überhöhung. Für die Autoren des 18. Jahrhunderts war Bildung dabei meist noch gleichbedeutend mit Erziehung und Ausbildung der Verstandeskräfte. Auch Immanuel Kant (1724-1804) ordnete die Bildung in seiner Schrift „Über Pädagogik“ der Erziehung zu: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß. Unter Erziehung nämlich, verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhalt), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst der Bildung.“ Bildung und Erziehung dienten dazu, den Menschen besser und glücklicher zu machen. Diese Art von Bildung sollte dafür sorgen, dass eine wachsende Zahl besserer Menschen auch die Gesellschaft insgesamt verbessern würde.[45].
Das Bildungsverständnis der Philanthropen
Für Philanthropen wie Johann Heinrich Campe (1764-1818) war vorrangiges Ziel von Bildung die nutzbringende Eingliederung des Menschen in die Gesellschaft.[46] Hauptsächliche Intention der Pädagogik der Aufklärung war die „Glückseligkeit des einzelnen Menschen“ und des „allgemeinen Erdbodens“. Sie sollte durch eine professionelle Erziehung gefördert werden, für die wiederum ein wissenschaftlich fundiertes und sicheres Wissen erforderlich war. Bildung im Zeitalter der Aufklärung, diente dazu, die „vernünftig angelegten Seelen verständig zu machen“. Sie erfolgte durch Lehre, die Kenntnisse vermitteln und zum Denken bilden sollte. Dabei war unbestritten, dass Bildung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Klassen und Stände, entsprechend ihrer jeweils unterschiedlich geistigen Vermögen und Bedürfnisse, zu erfolgen hatte.[47] Konsens war: „Der Mensch muß für den Staat gebildet werden; das ist dem strengsten und unwidersprechlichsten Rechte gemäß“.[48]
Johann Gottfried Herder: Bildung als zunehmend eigenständiger Begriff
Mit Johann Gottfried Herder (1744-1803) gewann der Bildungsbegriff ein stärkeres Eigenleben und grenzte sich zunehmend vom Erziehungsbegriff ab. Für Herder war Bildung nicht mehr gleichzusetzen mit Erziehung oder Lehre, sondern ein eigenständiger und zielgerichteter Prozess, der sich im Menschen selbst ereignete und damit in die Nähe von „Geist“, „Kultur“ und „Humanität“ rückte. Ihm ging es um die Verbesserung der Seelenkräfte und der Humanität des Menschengeschlechts. In seinem Werk „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ betrachtet Herder die Bildung als Werk von Natur und Geschichte, als „Werk des Schicksals“ und „Resultat tausend mitwirkender Ursachen“. Bildung bei Herder ist Geschichte. Der Mensch ist noch nicht Subjekt, sondern Objekt eines Prozesses, dem er sich nicht entziehen kann.[49]
Goethe, Hegel und die Bedeutung der Griechen: Bildung um die Jahrhundertwende
Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewann der Bildungsbegriff allmählich seine „klassische“ Ausprägung. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) schuf mit „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ den Typus des Bildungsromanes und gab dem Begriff der Bildung durch ihn gleichzeitig eine idealtypische Form: In ihm spiegelt sich das Ergebnis eines gewandelten Menschenbildes, aus dem sich neue Erziehungs- und Bildungskonzeptionen heraus entwickelten. Bildung bezog sich fortan nicht mehr nur auf Seele und Geist, sondern auch auf das äußere Erscheinungsbild eines Menschen, seine Gestalt, sein Auftreten und seine Rede. Die antiken Griechen, die nach Ansicht Goethes in der bisherigen...