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Worum sich alles dreht
«Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten; hätten gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie gerade taten; – dass es dabei nicht nur um die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens ging, sondern dass womöglich die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Körpers; vielleicht sein Genie und just die Färbung seines Gemüts; – und gar, denn Gegenteiliges war ihnen nicht bekannt, die Wohlfahrt des ganzen Hauses ihre Wendung nach den Säften und Dispositionen nehmen könnten, die gerade obenauf waren:
Hätten sie all dies gebührend in Erwägung und Betracht gezogen und wären demgemäß verfahren … ich bin wahrhaftig überzeugt, ich würde in der Welt eine ganz andere Figur vorgestellt haben …»
LAURENCE STERNE
Bevor unser Leben begann, war der wirkliche Anfang unserer Existenz jener magische Moment, als die Liebe eine Frau und einen Mann ergriff und ein besonderes Paar erschuf: unsere Eltern.
Nicht die Geburt – das weiß man seit den Einsichten in das intrauterine Seelenleben –, auch nicht das Verschmelzen der Eizelle mit dem siegreichen Spermium, nicht einmal der Zeugungsakt ist unser Start ins Leben, nein, der Ursprung unseres Ursprungs ist die Liebe, der Augenblick also, der zwei Menschen aneinander band. Trotz der weltweiten Paarkatastrophe wachsen wir mehrheitlich immer noch in diesen von der Liebe gegebenen, großen seelischen Raum der elterlichen Paarbindung hinein, der wie von Absencen umnebelt so seltsam verschwiegen bleibt.
Wenn wir die Liebe zweier Menschen als ihre Art von wortunabhängiger Sprache ansehen, eine besondere Atmosphäre, die uns umgibt, so entwickeln wir uns in diesen Sprachraum hinein, werden von ihm gestaltet und gestalten ihn in uns um. Wir individualisieren diese elterliche Sprache, die so wenig direkt zur Sprache findet, wie vor uns nicht nur unsere Eltern und Großeltern, sondern Tausende von Generationen unserer Menschenart vor uns – seit Entstehen der Liebe wahrscheinlich aber nur zweitausend. – Das ist der große menschheitserzeugende, wirklichkeitsschaffende Lauf der Liebe.
Nichts ist dabei nebulös – wie es oft Männern erscheint. Das Seelenleben mit seinen Vorstellungen und Gefühlen ist von höherer Präzision als die Mathematik, auch wenn diese Präzision vor allem unbewusst bleibt. In kürzester Zeit entwerfen wir beispielsweise das präzise Panorama eines komplexen Traums, fünf sinnliche Träume pro Nacht, einhundertfünfzigtausend in unserem Leben.
Was geschieht, wenn es zwischen zweien funkt? Die Liebe auf den ersten Blick zeigt es in aller Offenheit: In wenigen Sekunden unbewusster Kommunikation ist alles geschehen, das heißt wechselseitig vermittelt. Was? Die Gesamtheit zweier Lebensgeschichten. Das Bewusstsein vieler hinkt hinterher und merkt erst Tage, Wochen, Monate, ja oft genug Jahre später, was wirklich war.
Was wir von Anbeginn unseres Lebens erlebt haben, bildet unsere Erfahrung und seelische Struktur. Das ist nichts anderes als der Gewinn aus einem andauernden Lernprozess. Bestimmte Bindungsbereitschaften, bestimmte Lustbereitschaften, bestimmte Angstbereitschaften, bestimmte Abwehrformen, bestimmte Entwicklungsbereitschaften kennzeichnen die vielfältigen Valenzen eines jeden Menschen. Jede Person, der ich begegne, spricht bei mir andere Beziehungsbereitschaften an. Fasziniert mich jemand stark, dann korrespondiert sein Unbewusstes mit meinem Unbewussten erstens besonders umfangreich (quantitativer Aspekt) und zweitens sehr speziell (qualitativer Aspekt). «Unbewusstes erkennt Unbewusstes irrtumslos», sagt die Psychoanalyse. Das ist für mich die Haupteinsicht in die Paardynamik. Denn sie bedeutet beispielsweise: Von Anfang an erfasst die Partnerwahl den ganzen Menschen – auch wenn wir später zu klagen beginnen, dieses und jenes hätten wir einfach nicht gesehen. Auf nicht wiederholbare Weise bilden die ersten Sekunden eine einzigartige Beziehungsstruktur aus, die als gemeinsames Unbewusstes zeitlebens bestehen bleibt und so gut wie alles prägt: unser Wahrnehmen, Entscheiden, Fühlen, Verhalten, Handeln und Träumen. Das heißt im Alltag: Ich fühle und meine nur so und nicht anders, solange du so fühlst, wie du fühlst, obwohl wir uns dessen nicht bewusst sein müssen und das, worum es geht, nicht einmal ausgesprochen haben.
Aber nicht nur unser Leben wird durch diesen magischen Moment zeitlebens geprägt. Denn die seelische Struktur unserer Kinder entsteht vor allem durch die Verinnerlichung der bedeutenden Bindungen in den ersten sechs Lebensjahren. Von der Qualität der Elternpaarbeziehung werden also auch Erleben, Verhalten, Einstellungen, Denken und Fühlen der nächsten und der folgenden Generationen bestimmt. Durch eine solche Identifikation sind natürlich auch wir selbst geworden, was wir seelisch sind. Die früheste Grundlage ist dabei nicht die konkrete verinnerlichte Gestalt eines Menschen (in der Regel der Mutter), es sind vielmehr internalisierte Beziehungen zu einer Art Atmosphäre, die so ähnlich funktionieren wie unser Empfinden für Wasser und Luft beispielsweise. Als Grundstimmungen oder affektive Einstellungen verleihen sie allem, was wir wahrnehmen und erleben, seine Bedeutung und Färbung. Optimismus und Pessimismus, Depressivität und Urvertrauen gehören in ein Familienklima, in das unsere Mutterbeziehung eingebettet ist.
Begegnen sich zwei und verlieben sich ineinander, dann werden bei beiden durch blitzschnelle Oszillationen ganz bestimmte, lebensgeschichtlich erworbene Beziehungsvalenzen mobilisiert und verknüpft. Es entsteht ein gemeinsames Unbewusstes innerhalb einer Beziehungsstruktur, als deren zentrales Zeichen das neu aktualisierte Selbst des einen und des anderen gelten kann. Mit einem anderen Partner sähe mein Selbst anders aus, weil es anders aktualisiert wäre und sich vor allem anders entwickelte. Frau und Mann, die sich etwas bedeuten, bilden also eine Art seelisches Magnetfeld aus, dessen Dipol sie selbst darstellen. Bewegt sich etwas in einem, ist der andere immer mitbetroffen. Ein abgegrenztes Ich und ein abgegrenztes Du ist eine illusionäre Verkennung des Bewusstseins, weil es so viel Wert auf Unabhängigkeit legt.
Man kann auch sagen: Mit dem Akt des Verliebens legt das Leben zu jeder Minute weltweit millionenfach seine eigenen Fundamente. Das Paar kann sich diese Lage zugute kommen lassen, wenn es die beschriebenen Schritte geht, um die besten persönlichen Lebens- und Liebesbedingungen aus der eigenen Geschichte zu erkunden. Denn die Verliebtheit entsteht durch die Passform und die günstigen Bedingungen. Sie ist in gewisser Weise ein Garant, dass zwei zusammenpassen. Und das gilt auch für jene späteren Jahre, in denen nichts mehr zu stimmen scheint. Der Kardinalfehler ergibt sich aus der Bewusstlosigkeit für die Bedingungen der eigenen bedeutendsten Bindung und aus der Ahnungslosigkeit, wie eine Beziehung zu führen ist. Daraus resultiert eine Fehlentwicklung. Diese aber ist bei guten Bedingungen viel häufiger, als man denkt, aufzuheben.
Beispiele von Paaren illustrieren diesen Weg: Zunächst in ersten Gesprächen mit mir und in Zusammenfassungen, zuletzt in einem themenzentrierten Zwiegespräch (Kapitel 5, Seite 183). Dazu gibt es Fragebogenbefunde von über tausend Personen zu den Eigenschaften, die verliebt machten. Wo verliebten sie sich, und wodurch endete die Verliebtheitszeit? Das japanische Sprichwort «Das Huhn ist es, das den Hahn krähen lässt» konnte die Flirtforschung belegen. Weit über die eigene Lebensgeschichte hinaus – und doch von ihr nicht zu trennen – ist das, was uns attraktiv macht und was wir attraktiv finden, evolutionspsychologisch mitbestimmt. Die Struktur des Flirts ist weltweit verbreitet, eine anthropologische Universalie. Die Struktur der künftigen Bindung ist weitgehend schon festgelegt, bevor sich die Partner überhaupt sehen. Die sechs Hauptwurzeln jedes Paares sind die beiden Mutterbeziehungen, die beiden Vaterbeziehungen und die beiden Elternpaarbeziehungen, deren Ebenbild die eigene Bindung oft genug ist. Das ist die seelische Mitgift, die wir in unsere Beziehung einbringen, wertvoller und mächtiger als alle materiellen Werte.
Wenn so viel von der Liebe abhängt, kann die Liebe selbst nicht unbeachtet bleiben. Darum folgt im zweiten Kapitel ein Essay über Verliebtheit und Liebe: ihre zentralen Merkmale und die Dimensionen, nach denen sie eingeschätzt werden können. Ihren Boden bilden alle bedeutenden Beziehungen besonders der frühen Kindheit, zu denen erstmals ein umfassender Überblick aus einem Shorty (Kürzestfragebogen zu Brennpunkten der eigenen Beziehung) vorgelegt wird. Es zeigt sich, dass wir vor allem Gruppenwesen sind. Das wird noch deutlicher, wenn das Liebesfeld zur Sprache kommt, jenes Beziehungsnetz nämlich, das eine Liebe überhaupt erst möglich macht. Auch dieses Liebesfeld hat seine Mehrgenerationengeschichte. Geht man nur hundert Jahre zurück, gründet unsere eigene Liebe seelisch minuziös nachvollziehbar auf 30 Liebesbeziehungen von Eltern, Großeltern und weiteren Vorfahren. Daraufhin öffnet sich ein faszinierendes und heikles Thema: Wie entstand die Liebe urgeschichtlich? Sie hat tiefe Wurzeln bis in die früheste Säugerzeit, ja sogar bis hin zu den Reptilien. Das aber ist nicht die menschliche Liebe. Ein kurzer Abriss macht deutlich, dass die Liebe des Homo sapiens nicht anders entstanden sein kann als in einem Netz vielfältiger sozialer und kultureller Phänomene – vom Werkzeug über Musik und Gruppenbildung, vom...