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E-Book

Memoiren einer Idealistin

Vollständige Ausgabe

AutorMalwida von Meysenbug
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl936 Seiten
ISBN9783849631741
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Malwida von Meysenbug war eine deutsche Schriftstellerin, die sich auch politisch und als Förderin von Schriftstellern und Künstlern betätigte. Dies ist der erste Band ihrer Memoiren.

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Leseprobe

 


Herumziehendes Leben

 

Ja, es war ein herumziehendes Leben, das für uns anfing und das sich durch mehrere Jahre fortsetzte – ein Leben ohne bestimmten Plan, ohne regelmäßige Studien, ohne irgend ein System. Es war das ein großes Unglück für mich, denn während dieser Zeit erhielt die träumerische Richtung meiner Phantasie ein solches Übergewicht, daß ich die Folgen davon mein ganzes Leben hindurch gespürt habe. Ich bin überzeugt, daß, wenn ich in jener Zeit hätte ernste, fortgesetzte Studien machen können, meine Fähigkeiten sich mit großer Macht entwickelt hätten, anstatt sich in der Spekulation und den Kämpfen der Einbildungskraft zu verbrauchen. Mich verzehrte ein brennender Durst zu lernen und zu wissen. Wie viel Aufmerksamkeit sollte man in der Erziehung auf solch einen Durst des erwachenden Geistes wenden und wie sollte man bemüht sein, ihn in der rechten Weise zu befriedigen! Es gehört gewiß zu den größten moralischen Martern, wenn ein junges Wesen sich mit Inbrunst zu den unbekannten Regionen des Wissens und des Ideals hinsehnt und weder Mensch noch Gott findet, um seinen Wunsch zu erhören und diesen Schrei der Sehnsucht nach dem Manna in der Wüste zu befriedigen. Das sind die Märtyrer der erwachenden Intelligenz, die Führer und Antworten verlangen, und statt dessen unter dem Druck der Mittelmäßigkeit, die sie umgibt, oder der Lasttierarbeit, die man ihnen auferlegt, ersticken.

 

Meine vortrefflichen Eltern konnten zu der Zeit kaum dem Mangel an Unterricht abhelfen. Ihr eigenes Leben war entwurzelt. Der Fürst, dessen Schicksale mein Vater teilte, reiste im südlichen Deutschland umher, ohne sich irgendwo länger als einige Monate niederzulassen. Wir folgten ihm, und so fehlte immer die Zeit, einen Kursus regelmäßiger Studien anzufangen. Von allen Kindern waren nur noch meine jüngste Schwester und ich bei meiner Mutter. Sie konnte sich nicht entschließen, sich von uns zu trennen und uns in eine Pension zu geben. Man beschloß, eine französische Gouvernante zu nehmen, die uns überall hin folgen könnte. Wir sprachen noch nicht gut französisch, und dieser Mangel wurde für mich eine Quelle großer Demütigung. In Frankfurt am Main, wo wir einen Winter zubrachten, konnten meine Eltern, die viele Bekannte da hatten, sich den Besuchen und Einladungen nicht entziehen. Auch meine Schwester und ich wurden in den Kreis jugendlicher Bekanntschaften gezogen und u. a. zu einem Kinderball eingeladen in einem der reichsten Häuser der Stadt, in dem Luxus und verschwenderische Üppigkeit herrschten. Als wir aus dem Wagen stiegen, wurden wir am Fuß der Treppe von den zwei Söhnen des Hauses, Knaben unseres Alters, die mit Glacéhandschuhen und dem Hut in der Hand dort harrten, empfangen und die Treppe hinaufgeführt. Ihre Schwester, unsere junge Wirtin, war von einer bezaubernden Schönheit, sprach mehrere Sprachen in größter Vollkommenheit, tanzte mit unbeschreiblicher Grazie und besaß schon völlig die Sicherheit und die Manieren einer vollendeten Weltdame. Sie empfing uns mit der vornehmen Höflichkeit einer solchen und stellte uns sogleich mehreren ihrer jungen Freundinnen vor, die ihr, wenn auch nicht an Schönheit, doch an Eleganz der Manieren ähnlich waren. Sie schienen mir alle so überlegen, daß es mich förmlich erdrückte. Die Unterhaltung wurde fast fortwährend in französischer Sprache geführt, denn diese jungen Wesen, obgleich alle Deutsche, sprachen diese Sprache geläufiger wie ihre Muttersprache. Ich konnte nur in Monosyllaben antworten und beobachtete ein ängstliches Schweigen, da ich nicht zu gestehen wagte, daß ich noch so wenig Französisch wisse. Meine Demütigung aber erreichte den Gipfel, als der Tanz begann. Ich war ganz unbekannt mit all den modernen Tänzen, die auf einer eleganten Karte verzeichnet waren, die man mir überreicht hatte. Mich unter jene jungen Mädchen zu mischen, die mit vollendeter Tanzkunst ihre Pas ausführten, schien mir unmöglich. Ich beschloß daher rasch, gar nicht zu tanzen, unter dem Vorwand, daß der Tanz mir Kopfweh mache, und blieb den ganzen Abend traurig an meinen Platz gefesselt, die glücklichen Geschöpfe betrachtend, vor denen ich mich wie vernichtet fühlte, ich, die ich mich in meinen Träumen der heroischesten Taten, der großmütigsten Hingebung fähig fühlte. Meine Schwester, die unbefangner, weniger ehrgeizig und in diesem Fall weiser war, tanzte, brachte Verwirrung in die Kontertänze, lachte herzlich darüber, antwortete deutsch, wenn man sie französisch anredete, und belustigte sich sehr. Ich kam enttäuscht und traurig nach Haus, krank vor Verlangen nach dem, was mir plötzlich einen ungeheuren Wert zu haben schien – nach einer modischen Erziehung.

 

Ich begrüßte also den Plan, eine Erzieherin zu nehmen, bei der ich Französisch und überhaupt wieder regelmäßig lernen könne, mit Entzücken. Die Erzieherin kam, aber schon ihr Äußeres entsprach nicht der Idee, die ich mir von ihr gemacht hatte. Nicht nur, daß sie von einer wirklich unangenehmen Häßlichkeit war, auch ihre Manieren hatten etwas so Angelerntes, ihre Höflichkeit war so konventionell, voller Phrasen und so ohne Herz, daß es mir höchst unangenehm auffiel. Ich hatte zu viel Empfindung, um das für gute Manier zu halten. Ich bestrebte mich jedoch, ihr mit Respekt entgegenzugehen, und war glücklich, als am ersten Tag ein Stundenplan gemacht und eine regelmäßige Zeiteinteilung festgestellt wurde. Leider gehörte nur kurze Zeit dazu, um mich zu überzeugen, daß sie nicht die Person war, die meinen Durst nach Wissen befriedigen konnte. Sie wußte nichts, außer einem gewissen Katechismus, auf jedem Felde, wo sie zu lehren unternahm. Eine Frage außerhalb dieses Katechismus fand sie ohne Antwort. Ich fühlte bald eine geheime Empörung gegen dieses armselige Lehren in mir aufsteigen und wandte mich, mit größerer Leidenschaft denn je, zum Lesen. Wir mußten durch den Lesekursus hindurch, den eine französische Gouvernante damals unwiderruflich vorschrieb: die Schriften von Mme. Cottin: Les enfants de l'Abbaye, Caroline de Lichtfield etc. Ich las das alles und lebte in einer eingebildeten Welt exaltierter Tugenden, furchtbarer Verfolgungen und Verbrechen, glorreicher Triumphe des Guten über das Böse.

 

Meine Mutter, der Gesellschaft ihrer erwachsenen Kinder und ihrer alten Freunde beraubt, verschloß sich mehr und mehr in sich selbst. Meine jüngere Schwester, eine sanfte, ruhige Natur, verstand meine inneren Aufregungen und Qualen nicht. Ich fand mich allein mit allen brennenden Fragen meines Innern und wurde nervös und aufgeregt, so daß es endlich meine Gesundheit angriff. Ich hatte besondere Erscheinungen der Einbildungskraft, beinahe Halluzinationen. So konnte ich z. B. lange Zeit nicht von einem Verbrechen oder Laster reden hören, ohne von einer grausamen Aufregung erfaßt zu werden. Es schien mir, daß, weil so abscheuliche Möglichkeiten überhaupt in der menschlichen Natur vorkämen, sie auch sehr wohl im Grunde meines eigenen Wesens schlummern könnten. Diese eitlen Schrecken gewannen oft eine solche Stärke, daß sie meinen Schlaf störten und mich um so grausamer quälten, als ich mit niemand davon sprechen konnte. Das rechte Lernen allein hätte sie zerstreuen können; an dem reinen Lichte der Erkenntnis hätte ich, mit dem freien Gebrauch meiner Fähigkeiten, den Frieden gefunden.

 

Endlich konnte ich die geistlose Mittelmäßigkeit des Unterrichts der Gouvernante nicht mehr aushalten und sprach eines Abends ernstlich davon mit meiner Mutter. Sie stimmte mir bei und versprach, sie zu verabschieden. Unglücklicherweise war die Person, die der Gegenstand dieser Unterhaltung war, im nächsten Zimmer gewesen und hatte alles gehört. Sie war sehr böse und verlangte augenblicklich ihre Entlassung. Ich war sehr froh über den Erfolg, aber ich bedauerte die Art, wie ich ihn erhalten hatte. Irgend jemandem, wer es auch war, wehe zu tun, gehörte immer zu den traurigsten Dingen meines Lebens. Nachdem die Gouvernante einen sehr kühlen Abschied von uns genommen hatte, schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich sie bat, mir zu verzeihen.

 

 

Neuntes Kapitel


 


Wieder ein fester Wohnsitz

 

Dem Wanderleben mußte endlich ein Ziel gesetzt werden. Man mußte einen Ort erwählen, um sich niederzulassen. Dies konnte jedoch nur geschehen, indem wir uns zeitweise wenigstens von unserem Vater trennten, der den Fürsten nicht verlassen konnte, der nie lange an einem Ort weilte. Meine Mutter entschied sich für die Stadt, wo meine älteste verheiratete Schwester lebte – die, die ich in meiner frühesten Kindheit so sehr geliebt hatte. Es war die Stadt Detmold, die Hauptstadt des kleinen Fürstentums Lippe. Mein Vater versprach, von Zeit zu Zeit zu längerem Aufenthalt uns dort zu besuchen. Außerdem versprach er uns fest, daß, wenn alle Söhne in einer unabhängigen Stellung sein würden, er seine Verpflichtung gegen den Fürsten auflösen und sich für immer mit uns vereinigen würde.

 

Ohne den Schmerz dieser Trennung wäre ich über die Wahl des Aufenthaltes hochbeglückt gewesen. Das Familienleben meiner Schwester war der Widerschein ihrer engelhaften Natur; ihre Kinder glichen ihr an Sanftmut und Liebenswürdigkeit. Die Stadt, wo sie lebte, war eine jener kleinen deutschen Residenzen, die die Hauptstadt eines Ländchens sind, das für einen englischen...

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