„[…], während ein Tier nach Ablauf einiger Monate das ist, was es sein ganzes Leben lang sein wird, und seine Gattung nach tausend Jahren das, was sie im ersten Jahr dieser tausend Jahre war. Warum ist der Mensch allein der Möglichkeit unterworfen, schwachsinnig zu werden?“[1] So hat schon Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1754 in seiner zweiten Preisschrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen über den Menschen und seinen vermeintlichen Naturzustand philosophiert, und sich gefragt, wieso der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich in jede erdenkliche Richtung entwickeln und formen kann. Auch im 21. Jahrhundert ist die anthropologische Urfrage, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht und inwieweit dieser durch seine genetischen Grundlagen determiniert ist oder welchen verhaltens- und wesensändernden Einfluss die Umwelt bei der Entwicklung des Säuglings zum erwachsenen Menschen hat, immer noch nicht definitiv beantwortet. Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität einer solchen Fragestellung scheint eine eindeutige Beantwortung allerdings auch praktisch unmöglich. Nichts desto trotz bemühen sich anthropologische Wissenschaftler seit Jahrhunderten den Menschen und seine Eigenschaften, Besonderheiten und außergewöhnlichen Fähigkeiten zu analysieren und die elementaren Unterschiede, die in seiner Natur liegen und einzigartig im Vergleich zu allen anderen Tieren auf der Welt sind, herauszuarbeiten, um das Wesen des Menschen zu bestimmen. Besondere Eigenheiten, die dem Menschen zugeschrieben werden, und die ihn in einmaliger Art und Weise vom Tier abgrenzen, sind allen voran die Sprache, die Kultur, die Entscheidungsfreiheit und Weltoffenheit, die Vorstellungskraft und die Geschichtlichkeit des Menschen. All diese Eigenschaften des einzelnen Menschen und seiner gesamten Gattung sorgen für die Vormachtstellung des Menschen in der Natur, und werden in Kapitel 2 eingehend diskutiert. Die Frage ist nun, was bedeutet die Aussage, dass diese elementaren Unterschiede in der Natur des Menschen liegen, und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Schlummern diese Eigenschaften schon im Säugling ab dem Zeitpunkt seiner Geburt, und warten nur darauf sich entwickeln zu dürfen, oder bedarf es einer bestimmten Umwelt, die diese anfangs verborgenen Merkmale des Menschen erst zum Vorschein bringen? Und welche Rolle spielt dabei die Erziehung? In diesem Zusammenhang sind auch die zwei größten gegensätzlichen Menschenbilder zu nennen, die die pädagogische Anthropologie in zwei Lager teilt: Ist der Mensch wie eine Pflanze, die von selbst gedeiht, wenn man sie nur ausreichend gießt? Oder muss der Erziehende als eine Art Bildhauer fungieren, der nach persönlichem Ermessen, seinen Zögling zurechtformt und prägt? Entsprechend dem Bild, das der Erziehende vom Menschen hat, wird sich auch seine Erziehungspraxis an dieses Bild anpassen: Erziehung folglich entweder im Sinne eines »begleitenden Wachsen lassen« oder als ein »herstellendes Machen«.[2] Sicher ist, dass der Mensch eine menschliche Umwelt in seiner Entwicklung braucht, um die allgemeinen, grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, wie z. B. Sprache oder einen aufrechten Gang, zu erwerben. Eine verwandte Frage, die auch in diesem Zusammenhang relevant ist, ist die, nach dem Beginn des Menschseins – nicht zu verwechseln mit dem Beginn des Lebens eines Menschen. Ist der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt oder gar schon im Mutterleib ein Mensch oder wird dieser erst im Laufe seiner Entwicklung und im Umgang mit anderen Menschen zu einem „vollkommenen“ Menschen? Es ist äußerst schwierig, diese Frage zu beantworten, vor allem da es auch keine einheitliche Definition des Menschseins gibt, und eine Interpretation immer im Ermessen des Einzelnen liegt.
Aber wie könnte man diese Frage besser beantworten, als einen Menschen zu betrachten, der ohne menschlichen Kontakt, abseits von Gesellschaft und Zivilisation und ohne je zu irgendetwas erzogen worden zu sein, aufwächst. Ist der Mensch alleine überhaupt überlebensfähig? Diese Thematik hat seit jeher die Menschen interessiert und einige sind auch nicht davor zurückgeschreckt grausame Experimente mit Säuglingen zu unternehmen, die das naturhafte Wesen des Menschen bestimmen sollten, wie z. B. der Versuch von Friedrich II im Jahre 1211, der jedoch anstatt die alles entscheidende Antwort zu finden, sieben Neugeborenen das Leben kostete. In Kapitel 3. 1. wird dieses Experiment näher beschrieben.
Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Erzählungen und Berichte von Kindern, die aus verschiedensten Gründen ohne menschlichen Kontakt, in völliger Isolation oder sogar im Verbund mit Tieren aufgewachsen sein sollen. Bereits in den Mythen der Antike finden sich etliche solcher Geschichten, die damals von den Menschen geglaubt wurden, denen heute jedoch kein authentischer Gehalt nachgewiesen werden kann, wie z. B. „Der wild aufgewachsene Cyrus; die Aussetzung des Moses am Fluss; die Kindheit der Semiramis, der Gründerin Babylons, die von Vögeln großgezogen wurde; die Geschichte des Ödipus, dem man als Säugling die Füße durchstochen und ihn dann auf den Berg Kithairon ausgesetzt hat; die Kindheit der Zwillinge Amphion und Zethos, die von ihrer Mutter im Gebirge ausgesetzt wurden; der von seinem Vater auf dem Berg Ida ausgesetzte Paris, den fünf Tage lang eine Bärin säugte; die Geschichten des Tyrons, des Neleus und des Pelias; der junge Aleas, den eine Hirschkuh säugte; und sogar die Geburt Christi.“[3] Allein die zahlreiche Fülle dieser Erzählungen deutet auf die Faszination und das große Interesse hin, das die zivilisierte Bevölkerung an diesen „wilden Menschen“ hatte. Sicherlich sind diese Mythen erfundene Geschichten, aber die Tatsache, dass ab ungefähr dem 12 Jahrhundert tatsächliche Berichte von Kindern auftauchten, die isoliert in der Wildnis aufgefunden, oder in der Gruppe mit wilden Tieren gesichtet wurden, wirft die Frage auf, ob diese alten Mythen wirklich nur frei erfundene Gedankenexperimente sind, oder nicht vielleicht doch zum Teil einen wahren Kern aufweisen könnten. Die Authentizität dieser Sagen ist jedoch trotzdem sehr fraglich.
Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, bemühen sich interessierte Wissenschaftler und Anthropologen, die leider meist nur aus zweiter Hand, überlieferten Berichte von wilden Kindern aus den vergangenen Jahrhunderten, auf ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. In vielen Fällen ist dies äußerst schwierig, doch in einigen Berichten existieren detaillierte Aufzeichnungen und sogar Fotos, wie im Falle von Amala und Kamala, die eigentlich die Existenz dieser wilden Kinder belegen sollten. Dennoch gibt es – auch bei diesen relativ sicheren Quellen – immer Skeptiker, die die Glaubwürdigkeit dieser Fälle bzw. vielmehr die Schlussfolgerungen, die aus der Existenz der wilden Kinder gezogen werden, anzweifeln. Sicher ist nicht von der Hand zu weisen, dass die meisten Überlieferungen bisher nie vollständig verifiziert werden konnten, sowie dass die daraus gezogenen Konsequenzen immer nur subjektive, spekulative Interpretationen waren, und deshalb auch nicht als wissenschaftliches Faktum gelten konnten. Dennoch wäre es ein großer Verlust für die Forschung, gar nicht erst zu versuchen, diese faszinierenden Geschichten zu durchleuchten, deren sinnstiftenden Gehalt herauszufiltern und für die Zwecke der anthropologischen Wissenschaft zu nutzen. So entschied sich auch der bedeutende Anthropologe Adolf Portmann sich in dem Vorwort zu dem Tagebuch des Missionars Singh, der die beiden Wolfskinder von Midnapore, Amala und Kamala, gefunden hatte, zu äußern: „Im Wechsel der Stimmungen dieser Jahre waren indessen zwei wesentliche Konstanten entscheidend: einmal die Überzeugung, der Bericht des Reverend Singh verdiene in seinem Kern Vertrauen, dann aber die Gewissheit, es sei unrichtig, wenn ein solches Dokument – wie man auch zu ihm stehen mag – nicht wenigstens allgemein zugänglich wäre.“[4]
So lassen sich heute in den Medien, seien es Bücher, Internet oder Filmdokumentationen, zahlreiche Berichte von wilden Kindern und deren Interpretationen finden, die der Öffentlichkeit diese Thematik näher bringen wollen. Bei der Betrachtung derartiger Darstellungen sollte eine kritische Grundstellung jedoch immer bewahrt werden.
Der Überbegriff „Wilde Kinder“ umfasst drei verschiedene Kategorien von Kindern, die abseits der Gesellschaft aufgewachsen sind:
1. Isolierte Kinder, die eine Zeit lang in der Wildnis, ohne menschliche oder tierische Hilfe gelebt haben.
2. Wolfskinder, die nicht zwangsläufig mit Wölfen, jedoch im Verbund mit Tieren aufgewachsen sind.
3. Eingesperrte Kinder, die vorsätzlich eingesperrt und ohne Kontakt zur Gesellschaft aufgewachsen sind.
Die folgende Arbeit wird zunächst allgemeine anthropologische Grundlagen darlegen, sich mit elementaren Besonderheiten der menschlichen Natur beschäftigen, sowie die Anlage – Umweltproblematik anreißen, um dem Phänomen der extremen Wesens- und Verhaltensänderung der wilden Kinder eine wissenschaftliche Basis zugrunde zu legen. Das eigentliche Zentrum des Interesses dieser Arbeit liegt in der Analyse und der vergleichenden Untersuchung ausgewählter Fallbeispiele wilder Kinder, unter anderem mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und ähnliche Entwicklungsmuster bei den verschiedenen, von der Gesellschaft isolierten Kindern festzustellen und auch...