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E-Book

Ich bekenne

Vollständige Ausgabe

AutorClara Müller-Jahnke
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl179 Seiten
ISBN9783849632328
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Im Jahre 1904 erschien Clara Müller-Jahnkes autobiographische Prosa 'Ich bekenne'. Darin verarbeitet sie ihre bitteren Fabrik-Erlebnisse und Demütigungen durch die uneheliche Mutterschaft. Es ist aber auch ein Buch von Liebe, eine Beschwörung innerer Freiheit.

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Leseprobe

 

Um 8 Uhr begann der Kursus der Handelsschule. Zuerst wurde eine Prüfung vorgenommen, und die Schülerinnen wurden nach dem Grade ihres geistigen Vermögens gesetzt. Ich erhielt Nummer Eins. Anna Nicolai saß ganz unten. In der ersten Stunde sah sie mit ziemlich schiefen Blicken auf mich hin. Aber sie ist niemals neidisch, sondern stets bestrebt gewesen, mit Gottes Hilfe mein bißchen Ueberlegenheit zu ihren Gunsten auszunutzen.

 

Und na: ganz schlecht war ich auch nicht, und Anna Nicolai hat so manches schwierige Exempel zu Herrn Sandemanns Verwunderung tadellos gelöst.

 

Unser Lehrer, Liebling? – Mary Deike hatte ihn richtig eingeschätzt. Er war tatsächlich ein »netter Kerl«. Der unverfälschte Berliner: »pratschig«, harmlos, von Herzen gut. Galant und grob, je nach Bedürfnis. Wir beide haben uns allzeit famos gestanden.

 

Unsere Sprachlehrerin war eine Nachteule. Das heißt: nur, was ihr Aeußeres anbetrifft. Mein Schönheitsgefühl wurde förmlich geknickt, als ich sie zum ersten Male sah. Mein Herz aber wurde gänzlich mit ihrer Erscheinung ausgesöhnt in dem Augenblick, als sie bei der Zurückgabe unseres ersten Aufsatzes: »Ueber die Panslawierung des europäischen Ostens im Hinblick auf den russisch-türkischen Krieg« mit zufriedenem Lächeln erklärte:

 

»Fräulein Wilma ist ein Genie.«

 

Wo das »Genie« in diesem Aufsatz zutage getreten ist, weiß ich nicht zu sagen. Fest steht nur, daß ich von da ab ihr Nachteulengesicht ganz erträglich fand.

 

Die Mädels in der Schule, Herze? – Aus allen Kreisen rekrutierten sie sich. Sogar eine Generalstochter hatten wir unter uns und eine adlige junge Dame aus der französischen Kolonie. Und die Tochter einer Grünzeughändlerin aus Schöneberg. Der »Star« unserer Schule war eine fesche, blonde, hochtoupierte Berlinerin, die nicht gut zu rechnen verstand, dafür aber auf die schwachen Seiten Herrn Sandemanns so unverschämt spekulierte, daß dieser ihr eines Tages rundweg und ehrlich grob erklärte: »Bei mir sollen Sie lernen, Fräulein Tietz. Wenn ich mal was lernen will, suche ich mir eine andere aus.« Von dieser Stunde an konnte Fräulein Tietz rechnen.

 

So stellten wir im kleinen den richtigen sozialistischen Zukunftsstaat dar. Wir waren alle gleich. Und es ging in Wahrheit ein starker sozialistischer Zug durch diese Schule, der erwachsen war aus dem gemeinsamen Gefühl, arbeiten zu müssen, um leben zu können.

 

Damals, Seele, empfand ich das nicht so genau. Nur das Neue, das ganz Neue kam überwältigend über mich.

 

Und – die lachende, prickelnde, sechzehnjährige Lebenslust!

 

Ich war in Berlin.

 

Und hatte sechzig Mark in der Tasche, die ich aus den Einkünften meiner Privatschule übrig behalten hatte.

 

Ich war Kapitalistin und hatte eine Freistelle im Heimathaus. Meine Kameradinnen – allen voran Mary Deike – waren ehrlich bestrebt, mich in die Vergnügungen der Kaiserstadt einzuführen. Ich wehrte ab. Das sollte erst kommen, wenn ich eine Stellung hatte. Bis dahin hieß es: sparen!

 

Pferdebahnfahren leistete ich mir nicht, nicht einmal den Omnibus. Ich lief zu Fuß und lief stundenlang, um das drückende Gefühl loszuwerden, in meiner Umgebung nicht genau Bescheid zu wissen. Trotz dieses stundenlangen Laufens aber sah ich nur das glänzende Berlin, das Berlin der Kaiserstadt. Ich sah die funkelnden Läden, die Kunstgalerien, die kein Eintrittsgeld kosteten, kannte hundert verschiedene Straßennamen und hatte mich im Gassengewirr mit Leichtigkeit zurechtzufinden gelernt. Bescheid aber wußte ich noch lange nicht.

 

Bis dann eines Abends. –

 

Es war ein heißer Tag gewesen. Die Luft flimmerte und die Hitze flirrte. Gegen Abend machte Fräulein Märtens eine Erholungsfahrt in einer Droschke. Drei ihrer Schutzbefohlenen wählte sie zu ihrer Begleitung aus, darunter auch mich. Wir fuhren wohl eine gute Stunde lang....

 

Aus den glänzenden Straßen heraus in enge, düstere Gassen. An Baracken vorbei, die das heutige Berlin nicht mehr aufzuweisen hat. Wir sahen Häuser – wenn sie überhaupt diesen Namen verdienten – die zur Hälfte nur über der Erde standen; die untere Hälfte schien in den Boden versunken zu sein. An den zerbrochenen Türen lehnten Männer mit blassen Gesichtern, verwildertem Barthaar und dunklem Blick.

 

Meine Kameradinnen schauderten. Sie hatten Furcht. Veronika Märtens sah die kindliche Regung dieser jungen Seelen.

 

»Ja,« sagte sie langsam, als wollte sie auf eine an sie gerichtete Frage Antwort geben, »ich würde Euch nicht raten, Kinder, des Abends allein durch diese Straßen zu gehen....«

 

»Warum nicht?« fragte ich rasch.

 

»Aber Wilma! Schau doch nur diese Kerle an; sehen sie nicht genau so aus, als ob sie Dich niederstechen möchten, wenn sie Dir irgendwo allein begegneten?«

 

Ich mußte lachen. Diese Kerle! Was war's denn mit ihnen? Das Leben hatte ihnen übel mitgespielt; sie hatten für ihr Ringen keinen Lohn gefunden, sie hatten die Arbeit verabscheuen gelernt, die ihnen keine Frucht gebracht, und standen nun an zerbrochenen Türen herum, rochen nach Alkohol und sahen mit schweren, stumpfen Blicken in die sterbende Welt.

 

Und »diese Kerle« sollten mich niederstechen wollen, wenn sie mir begegneten, – mich, die ich an der Schwelle des Lebens stand, die ich die gleichen Enttäuschungen, dieselben bitteren Hoffnungslosigkeiten noch zu durchkosten hatte, für die derselbe bittere Trank bereit stand, den sie bereits bis zur Neige geleert, bis zur Besinnungslosigkeit getrunken hatten?! –

 

Sie hätten höchstens schadenfroh und höhnisch über mich gelacht!

 

Jetzt glaube nicht, daß ich phantasiere, Herze! Ich empfand so. Ein Gefühl der Reife war über mich gekommen: seltsam, bedrückend, gewitterschwer. Schwül wie die Atmosphäre dieses Oktoberabends....

 

Und selbst Veronika Märtens sah mich verständnislos an.

 

Ich habe keine Ahnung mehr davon, warum unsere Oberin mit uns durch die Straßen fuhr, die heute lange schon der großen Zeit zum Opfer gefallen sind. Prachtbauten sind an ihrer Stelle entstanden, und statt jener Unglückseligen mit dem erloschenen Blick stehen Männer auf der Schwelle – mit dem Hammer in der Hand und dem lohenden Blitz in den Augen!

 

Und wir fuhren weiter, immer weiter, Du: von Norden nach Osten.

 

Breit wurden die Straßen und die Häuser hoch. Von den Wänden bröckelte der Kalk. Die Treppen waren schief getreten, die Balkone blumenleer. Hinter ihren Fenstern schlief das Glück nicht mehr.

 

Die Mädels sahen interessiert aus der Droschke. Auf den breiten Trottoirs huschte ein blasses, scheues Leben dahin. Und vor einem dieser himmelhohen Häuser hielt unsere Droschke still.

 

Fräulein Märtens stieg hinaus. Sie hatte einen Besuch in diesem Hause zu machen.

 

Während der fünfzehn Minuten, die wir vor diesem Hause verweilen mußten, habe ich viel gesehen....

 

Ich sah in eine offene Wunde hinein. Und am Grunde dieser Wunde sah ich den Blutstrom des Lebens pulsen.

 

Aus meinen sechzehn Jahren wurden sechzig.

 

Am Straßenrande stand ein Weib.

 

Ihr einstmals himmelblaues Kleid war beschmutzt und zerrissen. Auf dem Kopfe trug sie einen hellen, zerdrückten Filzhut, mit roten Rosen geschmückt; in den Nacken hinunter hing eine von der Feuchtigkeit glatt gewordene, weiße Straußenfeder.

 

Das Weib stand gerade im Laternenschein und spähte die Straße hinab.

 

Von jenseits kam ein Mann.

 

Ein Herr erschien er mir. Er ging quer über die Straße und blieb neben dem Weibe stehen.

 

Ich beugte mich vor. Mein Herz schlug laut und heftig. Meine Gefährtinnen kicherten.

 

Wieder verstand ich ihr Kichern so wenig wie vordem ihre Furcht.

 

Der Mann drängte sich dicht an das Weib heran. Es schien beinahe, als beabsichtige er, den Arm um sie zu legen. Und nun beugte er sich tief...

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