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E-Book

Der Stille Raum geben

Ein Weg der Kirche im 21. Jahrhundert

AutorAnne Gidion, Irmgard Nauck
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl170 Seiten
ISBN9783451346545
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Stille, Weite, Raum - drei Zauberworte, die den christlichen Glauben verwandeln. Immer mehr Menschen suchen nach einer Spiritualität, die Körper, Seele und Geist gleichermaßen anspricht. Die Kirche der Stille in Hamburg-Altona zeigt, wie das gehen kann. Das Buch lässt Menschen zu Wort kommen, die das Angebot dieser Gemeinde als eine Frischzellenkur ihres Glaubens erleben. Es versammelt Praxisbeispiele und lädt zur Nachahmung ein. Ein Beispiel, das Schule macht.

Anne Gidion, geb. 1971, Pastorin am 'gottesdienst institut nordelbien', Hamburg. Irmgard Nauck, geb. 1957, Pastorin, leitet seit 2009 die Kirche der Stille in Hamburg-Altona. Gesprächs- und Familientherapeutin, erfahren in Meditationsbegleitung und dem Herzensgebet.

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Leseprobe

1. Kapitel

Die Menschen in der Kirche der Stille


»Stille im Gewirr der Großstadt,

Kraft sammeln, Liebe bündeln

und dann zurück ins Gewirr.«

Eintrag im Gästebuch

der Kirche der Stille

Begegnungen eines Nachmittags


Frühmorgens ruft Renate mich an. Sie ist eine der rund 30 Ehrenamtlichen, die dafür sorgen, dass die Kirche der Stille jeden Tag geöffnet werden kann. Doch sie ist krank und bittet mich, von 14 bis 16 Uhr den Kirchenhütedienst zu übernehmen. Glücklicherweise habe ich Zeit, und so schwinge ich mich nachmittags aufs Rad, um zur Kirche zu fahren.

Dort treffe ich im Vorraum auf Helga. Sie hütet seit 12 Uhr die Stille. Sie sitzt auf einer alten Kirchenbank. Auf dem Tisch vor ihr stehen eine Kanne Kräutertee und Teeschalen bereit. Manche Besucherinnen freuen sich über eine Tasse Tee und manchmal auch ein Gespräch. Helga hat wie immer ein Buch dabei. Wir plaudern noch ein paar Minuten: Sie ist 69 Jahre alt und Rentnerin. Ihr wöchentlicher Hütetermin hilft ihr, die Woche zu strukturieren. Sie freut sich, dass sie hier etwas Sinnvolles beitragen kann. Außerdem begegnet sie vielen netten Menschen entweder im Hüte-Team oder in Gesprächen mit den Besuchern.

Sie sagt: »Für mich ist das ein Platz des Reichtums in jeder Hinsicht. Ich durfte mein Bild von Kirche korrigieren. Mittlerweile bewundere ich die Kirche, dass sie den Mut hat, sich für andere Religionen zu öffnen. Und wenn ich aus meiner inneren Stille gefallen bin, komme ich hier wieder zu ihr.« – Wir verabschieden uns, jetzt sitze ich an ihrem Platz.

 

Die Kirche hat einen Garderobenraum, den wir durch eine Abtrennung unter der Empore gewonnen haben. Dort stehen zwei alte Kirchenbänke, Garderobenstangen und -schränke für die Jacken und Taschen der Besucherinnen und Besucher. Die Schuhe werden möglichst gegen Socken eingetauscht, die in einem großen Korb bereitstehen. Wer nicht von seinen Schuhen lassen will, kann Überzieher leihen – ähnlich wie in einem Museum.

Ich setze mich, atme durch und weiß: Zwei Stunden keine Mails, kein Telefon, einfach nur sitzen, vielleicht im mitgebrachten Buch lesen und die Stille hüten.

 

Ein Mann kommt aus dem Kirchenraum, er strahlt: »War das wieder schön, ich freue mich so über diese Kirche.« Er trägt Anzug und Krawatte, die Schuhe, die er sich gerade anzieht, sehen topchic aus, ich schätze ihn auf Anfang 40. Wir stellen uns einander vor. Er ist Geschäftsführer einer Firma in der Nähe. Vor einem Monat hat er die Kirche zufällig bei einem Spaziergang entdeckt. Seitdem verbringt er fast jeden Tag seine Mittagspause hier. Er wäre eigentlich kein Kirchgänger, aber nun sei er doch einer geworden, lacht er. Erst habe er nur die Stille genossen, die geschützte Ruhe. Das sei wie Burnout-Vorsorge. Aber jetzt merke er, dass da doch noch etwas hängen geblieben ist aus seinen evangelischen Zeiten. Ihn zieht mehr als nur die Stille.

Schon in Hut und Mantel, fragt er noch nach Möglichkeiten, Meditation einzuüben. Ich erkläre ihm kurz unsere Angebote im Zen, Herzensgebet und in der Kontemplation. Dann verabschiedet er sich eilig, der nächste Termin ruft.

 

Emma kommt öfter nach der Schule. Heute ist sie wieder da, streift Ranzen und Schuhe ab und schlüpft in die Kirche. Ich hab das Gefühl, dass sie jedes Mal länger bleibt und mit der Stille immer vertrauter wird. Wenn sie da war, brennen immer viele Kerzen in der Lichterschale. Manchmal schreibt sie auch etwas ins Gästebuch: »Schöhne Kirche der Stille. Hier konnte ich mich entspannen und den Stres drausen vergesen.« Oder: »Ich wünsche Gott Friden und Gesundheit. Filen dank Gott das du so lieb zu den Menschen bist!«

Ich frage Emma, ob sie einen Keks haben will. Sie nickt und kommt zu meiner Bank. Beim Knabbern plaudern wir, und plötzlich entfährt ihr: »Meine Eltern sollten mal hierher kommen. Die haben ein Restaurant und sind immer so gestresst. Sie haben keine Zeit für so was.« Ein bisschen nachdenklich zieht sie davon.

 

Jetzt bin ich alleine. Da ich gerade niemanden störe, schaue ich drinnen rasch nach den abgebrannten Kerzen und lese die letzten Einträge im Gästebuch: »Dieser Ort kommt genau im richtigen Moment. Wenn das nicht Kirche ist, was dann? Ich habe diesen Ort vermisst, ohne zu wissen, dass es ihn geben kann. Danke!« Ein anderer Eintrag: »Hoffentlich bleibt das hier auch wirklich eine Kirche. Mantren-Gesänge, Sufi-Meditation? Wie gut, dass es eine Bibel und ein Kreuz gibt.« Ich lese mich mal wieder fest. Wie unterschiedlich die Handschriften sind. Unwillkürlich stellt man sich Menschen vor, meint alt und jung, weiblich und männlich unterscheiden zu können. Und was diese Menschen an Erfahrungen, Wissen, Lebensgeschichte mit hineintragen in diese Kirche, das kann ich nur raten: »Danke für das Licht dieses Ortes, das weit in die Tiefe strahlt.« »Ein guter Ort, um etwas vor der Tür zu lassen.« »Ich schreibe nicht ›lieber Gott‹. Ich weiß gar nicht, ob ich an dich glaube. Ich bin jetzt hier in der Kirche ganz alleine. Aber eigentlich bin ich das gar nicht. Danke!« Wie viele Gefühle werden hier hineingetragen, denke ich. Manche bleiben hier, manche werden wieder mitgenommen: »Mach es gut, Peter. Du bist am Ziel, bist bei Ihm. Hast deine Aufgabe erledigt. Sehen uns hinten rechts am Ausgang wieder. Mach’s gut!«

Die Kirche der Stille liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hospiz Hamburg e. V. Einige der Gäste schaffen es zu kommen. Angehörige, aber auch Mitarbeitende im Hospiz suchen gern die Stille auf, zünden eine Kerze an, sitzen, weinen, schreiben etwas in unser Buch: »Wolfgang, ich vermisse dich so sehr – der Schmerz ist so beißend … Möge deine Seele Ruhe und Frieden gefunden haben. Gottes Liebe umhülle dich.« »Danke für deine Hilfe in den zurückliegenden schweren Tagen, lieber Herr.«

 

Als ich den Kirchraum wieder verlasse, kommt gerade ein ganzer Schwung Leute in die Garderobe. Manche kennen sich aus, verstauen ihre Habseligkeiten im Schrank und gehen zielstrebig in die Kirche.

Zwei Frauen, vermutlich Anfang 50, sind zum ersten Mal da. Sie haben schon viel von der Kirche gehört. Heute haben sie sich hier verabredet. Sie sind im Buddhistischen Stadtzentrum zu Hause, meditieren dort seit Jahren. Nun wollen sie mal sehen, was diese Kirche anbietet im weiten Feld der Meditation.

»Ganz ehrlich, das hätte ich der Kirche nicht zugetraut. Oder sind Sie ein Verein?«, fragt eine der Frauen. Ich erkläre, dass diese Kirche eine der drei Kirchen der evangelischen Gemeinde Altona-Ost ist. »Und die erlauben, dass Sie hier auch Veranstaltungen von anderen Religionen haben? Da bekommen Sie sicherlich viel Gegenwind!«, vermutet die andere und sieht mich herausfordernd an. Ich mag nicht diskutieren, jetzt noch nicht, und rate ihnen: »Schauen Sie doch erst mal in die Kirche, nachher können wir noch ein wenig reden.«

 

Als ich wieder allein bin, merke ich, wie sehr mich diese Vorurteile über »Kirche« nerven. Wie tief sie sitzen – gerade bei Menschen zwischen 40 und 60, die sich in ihrer Jugend gegen »Kirche« entschieden haben. Sie selber haben sich weiterentwickelt, aber ihre Bilder von der Kirche von damals, die sind sehr stabil. Und die werfen sie mir, uns vor die Füße. Mit »uns« meine ich Menschen in dem selben Alter, die aber dabei geblieben oder zurückgekommen sind und für eine Kirche kämpfen, die all das nicht ist: verstaubt, moralfixiert, konservativ und unbeweglich. Gut, denkt mein ungenervter, geduldigerer Teil, gut, dass sie überhaupt noch kommen. Dass sie die offenen Türen immerhin noch bemerken und sich einen Rest Neugier erhalten haben, wenigstens das.

 

Erst nach geraumer Zeit, mein Dienst ist schon fast zu Ende, kommen die beiden wieder zu mir. Ihr Ausdruck ist ein anderer: »Das ist ja eine Oase der Stille mitten in der Stadt! Was für ein wunderbarer Raum, so hell und weit, und doch fühlt man sich in ihm geborgen.« Und die andere knüpft an ihre Frage von vorhin an: »Und das tun Sie alles mit der Erlaubnis Ihrer Kirchenleitung? Bänke, Kanzel und Altar raus, stattdessen Matten und Kissen rein?!« Und zu ihrer Freundin gewandt: »Ich glaub’, wir haben da etwas verpasst.« Sie nehmen sich jede ein Programm, wollen es zu Hause genau studieren. Der Abschied ist sehr freundlich: »Viel Mut weiter für diese Arbeit!«

 

Meine Ablösung kommt. Georg war Lehrer und ist jetzt pensioniert. Aber er arbeitet weiter, ehrenamtlich. Schülerinnen und Schüler kommen zu ihm, die mit der Schule nicht zurechtkommen. Seit der Eröffnung der Kirche der Stille ist er auch im Hüte-Team, ganz regelmäßig. Er packt seine Zeitschrift aus und freut sich auf zwei ruhige Lesestündchen.

Wer kommt? Versuch einer Typisierung


Zunächst: Wo ist die Kirche der Stille? Wie ist ihr Umfeld? Die Gemeinde Altona-Ost hat knapp 8000 Gemeindemitglieder, das sind 25 Prozent der rund 32 800 Einwohner unseres Gemeindegebiets. Es ist eine junge Bevölkerung, die Fluktuation ist dementsprechend hoch. Gut 25 Prozent sind unter 18 Jahren; fast 22 Prozent sind älter als 65 Jahre. Das bedeutet, 53 Prozent der Wohnbevölkerung sind zwischen 19 und 64 Jahre alt....

Blick ins Buch

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