Das Phänomen des Dysgrammatismus[5] wird nicht nur von Psychologen, Linguisten, Logopäden und Sprachheilpädagogen untersucht, sondern auch von Neurophysiologen und Neuropsychologen. Um das Phänomen des Dysgrammatismus angemessen erfassen zu können, ist es von Bedeutung, dass die verschiedenen Wissenschaftsbereiche integriert werden, da sie eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung aufweisen[6]. Hierbei sollten auch die neuesten Befunde der Hirnforschung berücksichtigt werden, da sie wichtige Hinweise für den Umgang mit dysgrammatischen Kindern liefern können. Daher soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen Gehirn und Sprache aufgezeigt werden sowie der kindliche Grammatikerwerb unter den Aspekten der Hirnforschung betrachtet werden, um dann auf mögliche Therapieansätze bzw. Umgangsformen verweisen zu können, die diese Aspekte berücksichtigen.
Die Evolution der menschlichen Sprachfähigkeit wurde vor allem aus dem Zusammentreffen dreier Ereignisse ermöglicht: Zum einen vollzog sich eine starke Vergrößerung des präfrontalen Cortex (Großhirnrinde), der (die) für die verbale Sprache zuständig ist und somit für die Grammatik und Syntax von besonderer Bedeutung ist. Zum anderen fand durch die Aufrichtung des menschlichen Körpers eine Umbildung des Kehlkopfes statt. Die relativ niedrige Lage des Kehlkopfes im Verhältnis zum weichen Gaumen und zur Zunge gestattet eine Ausweitung der Möglichkeiten der Lauterzeugung, insbesondere der Produktion von Vokalen. Darüber hinaus fand eine Weiterentwicklung der Sprachzentren statt, sodass die Menschen derzeit eine komplexe vokale Sprache besitzen[7].
Das Gehirn besteht aus einer riesigen Zahl an Neuronen, die untereinander synaptisch verschaltet sind. Diese neuronalen Verschaltungen bilden „neuronale Netzwerke“[8], die bereits 1894 von dem Wiener Physiologen Sigmund Exner beschrieben wurden. Er ging davon aus, dass das Gehirn aus Zentren besteht, die durch die Verbindung der neuronalen Faserzüge entstehen. Den verschiedenen Zentren kommen jeweils besondere Funktionen zu. Die Bedeutung von Exners Buch wurde erst heute erkannt[9].
Der Mathematiker Walter Pitts und der Physiologe Warren McCulloch demonstrierten 1943 anhand eines Rechnermodells, „[…] that every idea and every sensation is realized by activity within that net“ [10]. Die komplexen Aufgaben des Alltags können jedoch nur bewältigt werden, wenn die elementaren Recheneinheiten richtig miteinander verbunden sind. Auch sie weisen auf den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion hin. Ist die Struktur des Netzes zerstört, wirkt sich dies auf die jeweilige Funktion aus[11]. Das heißt, dass im Gehirn die richtigen Verschaltungen vorhanden sein müssen, wenn alle Aktivitäten richtig ausgeführt werden sollen[12]. Oláh geht im Hinblick auf den Dysgrammatismus davon aus, dass der Aufbau des sprachspezifischen Modules gestört wird, und dass „[…] es […] zu einer abweichenden Vernetzung kommt, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption beeinträchtigen kann“[13]. Untersuchungen des Berliner Physiologen Hermann Munk (1839-1912) haben jedoch gezeigt, dass die Hirnrinde fähig ist, gestörte bzw. „[…] verlorene Funktionen zu ersetzen, indem andere Hirnregionen die Rolle der zerstörten Hirnpartien übernehmen“[14].
„Allgemein entstehen die Grundlagen unseres Denkens und Erlebens während der ersten zehn Lebensjahre, da sich die neuronalen Verschaltungen im Gehirn zunächst nur vorläufig herausbilden und durch emotionale und motorische Erfahrungen erst noch gefestigt werden müssen“[15]. Deshalb ist es für die kindliche Entwicklung von besonderer Bedeutung, dass in den ersten Lebensjahren eine Vielfalt an Erfahrungen und Eindrücken gesammelt werden können, sodass sich die richtigen Verschaltungen bilden[16]. Der Hirnforscher Gerhard Roth weist ferner darauf hin, dass die Menschen bereits mit einer „psychischen Grundausstattung[17]“ auf die Welt kommen. Ab der sechsten Schwangerschaftswoche entsteht das „[…] limbische System, eine Art Schaltzentrale der Gefühle […]“[18], das das Gehirn des Embryos für sein ganzes Leben prägt. Die ersten drei bis sechs Lebensjahre nach der Geburt sind weitere prägende Jahre, die von lebenslanger Bedeutung sind[19]. Die Neurone und deren Schaltkreise besitzen zwar eine „neuronale Plastizität“[20], also die Fähigkeit, sich verändern zu können, jedoch ist das emotionale Grundgerüst zum Teil schon vorgeburtlich bestimmt und vor allem durch die Erfahrungen der ersten Lebensjahre geprägt. Das rationale Wissen hingegen ist am längsten veränderbar. Im Hinblick auf Sprachentwicklung, Kommunikation und Diplomatie können sich immer wieder neue Verschaltungen bilden. Das akademische Wissen ist ein Leben lang veränderbar[21].
Zusammengefasst lässt sich demnach festhalten, dass bereits vorgeburtlich ein ‚genetisches Grundgerüst’ vorhanden ist, welches in den ersten Lebensjahren noch einmal verändert und geprägt wird. Unser Gehirn besteht aus einem neuronalen Netzwerk, welches durch synaptische Verschaltungen entsteht. Ferner besitzen verschiedene Regionen des Cortex unterschiedliche Funktionen. Geistige Funktionen sind demzufolge in ganz bestimmten Regionen lokalisiert[22]. Auch die Sprache lässt sich im Gehirn lokalisieren. Bei den meisten Menschen ist vor allem die linke Hirnhälfte für die Sprache zuständig (bei 98 % der Rechtshänder wird Sprache stärker in der linken Hirnhälfte verarbeitet, jedoch trifft dies nur auf zwei drittel der Linkshänder zu)[23].
1861 hat der Pariser Anthropologe und Neurologe Paul Broca feststellen können, dass die Entstehung der Sprache im linken Teil der Großhirnrinde angesiedelt ist. Das Konzept des ‚Sprachzentrums’ in der linken Großhirnrinde hat sich bis heute gehalten und das ‚Sprachzentrum’ wurde nach Broca benannt[24]. Lange Zeit ging man davon aus, dass das Broca-Areal zentral an der Erzeugung der Sprache beteiligt ist, wohingegen das Wernicke-Areal (obere Windung des linken Schläfenlappens) am Verstehen von Sprache beteiligt ist. Neuere Untersuchungen ergaben allerdings, dass dieses Modell nicht mit der Komplexität des Gehirns zu vereinen ist. Sprachfunktionen beschränken sich nicht auf eng begrenzte Orte, sondern verteilen sich über einen beträchtlichen Teil der Großhirnrinde. Auch wurde mithilfe neuerer Methoden nachgewiesen, dass die linke und die rechte Hemisphäre eng zusammenarbeiten müssen, um gesprochene Sprache effektiv verarbeiten zu können. Für die Grammatik ist laut Friederici vor allem die linke Hemisphäre zuständig[25].
Die Grammatik ist das entscheidende Merkmal, das uns Menschen von den Tieren unterscheidet. Im Gegensatz zu den Tieren sind wir in der Lage, komplexe Satzstrukturen - wie
zum Beispiel Nebensätze - zu bilden[26].
Es ist erstaunlich, wie mühelos und zielstrebig Kinder in den ersten Lebensjahren das abstrakte und komplexe System der Grammatik ihrer Muttersprache erlernen. Schon nach den ersten vier bis fünf Jahren haben sie sich eine weitgehend regelrechte Basisgrammatik aufgebaut, sodass sie sich den Mitgliedern ihrer Sprachgemeinschaft mitteilen können und ihre Intentionen zum Ausdruck bringen können. Bis ins Jugendalter hinein wird das aufgebaute grammatische Regelsystem dann erweitert, um auch komplexere Strukturen, wie zum Beispiel das Passiv, verwenden zu können. Das Erlernen der ‚Basisgrammatik’ erfolgt zudem in einer Zeit, in der „[…] Kinder simultan eine eminente Fülle weiterer Reifungs- und Lernprozesse zu vollziehen haben“[27]. Der kindliche Spracherwerb vollzieht sich im Kontext der Ausdifferenzierung der sensorischen und motorischen Funktionen, im Kontext des Erwerbs von Weltwissen, der Verinnerlichung von sozio-kulturellen Konventionen von Kommunikation, im Kontext des Aufbaus von sozialen Beziehungen zu sich selbst und zur Umwelt und weiteren Reifungs- und Lernprozessen. Der Spracherwerb stellt dabei selber ein komplexes Geschehen dar und umfasst neben der Ausbildung syntaktischer Strukturen (Grammatikebene) die Morphologie (Wortebene), die Semantik (Bedeutungsebene), die Phonologie (Lautebene) sowie die Pragmatik (Handlungsebene bzw. kontextangemessene Verwendung sprachlicher Mittel). Die verschiedenen Ebenen werden dabei nicht abgegrenzt voneinander erworben, sondern beeinflussen sich gegenseitig und sind bis zu einem gewissen Grad auch voneinander abhängig[28]. So besteht nach Clahsen zum Beispiel ein enger Zusammenhang zwischen den syntaktischen und den morphologischen Regeln. Er hat beobachtet, dass die Verbzweitstellung im Deutschen für die Kinder dann kein Problem mehr ist, wenn das morphologische Paradigma für die Person- und Numerusflexion am Verb verfügbar ist[29].
Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass es Kindern schnell gelingt ein komplexes grammatisches System aufzubauen, obwohl das...