Obwohl der Burnout-Begriff, wie im letzten Kapitel erwähnt, mittlerweile auf alle Berufsgruppen ausgeweitet worden ist, ist der Lehrerberuf von besonderem Interesse für die Belastungsforschung. Ein Grund sind die weiter gestiegenen Zahlen über Dienstunfähigkeit und vorgezogenen Ruhestand. So wurden laut Versorgungsbericht der Bundesregierung 55 % der Lehrer und 70 % der Lehrerinnen im Jahre 1999 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt (vgl. BMI 2001, 33-34). Während bei den Beamtinnen aus anderen Bereichen ein ähnlich großer Anteil krankheitsbedingt in den Ruhestand geschickt wurde, liegt der Anteil der männlichen Lehrpersonen deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 41 % (vgl. ebd, 34). Obwohl der Anteil der aus Krankheitsgründen pensionierten Lehrer drei Jahre später insgesamt rückläufig war[10], wurden jedoch anteilsmäßig mehr Lehrer aufgrund von psychischen oder Verhaltensstörungen in den Ruhestand geschickt[11]. Insgesamt verblieben laut Versorgungsbericht 2001 nur ca. 5 % der Lehrer mit vollem Arbeitsvolumen bis zur Altersgrenze von 65 Jahren im Beruf (vgl. Schaarschmidt 2005b, 17).
Den expliziten speziellen Belastungen im Lehrerberuf im vierten Abschnitt dieses Kapitels wird sich genähert, indem zunächst allgemeine Belastungen in personenbezogenen Dienstleistungen genannt werden. Lehrer scheinen weiterhin ein interessanter Gegenstand der Belastungsforschung zu sein, weil ihnen häufig bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, die in anderen Berufsgruppen nicht in dieser Ausprägung oder Kombination vorhanden sein sollen, weshalb diese Lehrerpersönlichkeit wird im zweiten Abschnitt kurz dargestellt wird. Steigende Burnout-Raten können auch eine Folge von sozialen Veränderungen sein. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wird daher der Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Schule betrachtet.
Eine Ursache für die Zunahme der weltweiten Stressbelastung (vgl. WHO 2001, 7) ist aus Sicht einer „Soziologie der Gefühlsregulierung“ nach Badura (vgl.1990, 317) der Interaktionsstress in personenbezogenen Dienstleistungsberufen[12]. Im direkten Kontakt von Mensch zu Mensch (face-to-face) kann man bekanntlich „nicht nicht kommunizieren“ (Badura 1990, 318): Es ist die „tagtägliche ‚Bombardierung‘ mit mehr oder weniger intensiven Gefühlsäußerungen, bedingt durch permanenten Kommunikations- und Kontaktzwang nicht nur mit Arbeitskollegen und Vorgesetzten, sondern – und dies vor allem – mit Patienten, Schülern, Klienten usw.“ (ebd.) Dabei wird sich ganz den sozialen und emotionalen Bedürfnissen anderer Personen gewidmet, wobei die eigenen (vielleicht negativen bis feindseligen) Gefühle unterdrückt werden (vgl. ebd.).
Badura definiert Stress im Sinne von Lazarus et al. als Ungleichgewicht zwischen äußeren/inneren Anforderungen und den gegebenen Bewältigungsmöglichkeiten. Interaktionsstress ist nach Badura (vgl. ebd., 320) ein Widerspruch zwischen den tatsächlichen Gefühlen gegenüber Personen (z. B. Angst, Feindseligkeit, Schuldgefühle) und der beruflich zwingend gebotenen emotionalen Zuwendung und sozialen Anerkennung. In Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern tritt eine ‚Überdosis‘ an Interaktionsstress auf, da hier „permanent auf Kosten eigener auf Gefühle anderer eingegangen werden muß“ (ebd.).
Makrosoziologisch gesehen gilt für jeden zivilisierten Menschen diese Beschränkung des Hangs zur ‚anarchischen Triebbefriedigung‘ (vgl. ebd., 322). Auch aus mikrosoziologischer Sicht versuchen wir ständig, unsere Gefühle zu regulieren (vgl. ebd.). Erving Goffman behauptet sogar, dass wir ständig an unserer Selbstdarstellung arbeiten und anderen gegenüber versuchen, das Gesicht zu wahren (vgl. ebd.). Gleichgültig ob die Möglichkeiten zur Gefühlsregulierung in der heutigen Gesellschaft insgesamt unausreichend sind, sind Menschen, die in ständigem Kontakt zu ihren Klienten stehen, aufgrund berufsnotwendiger Selbstkontrolle besonders davon betroffen, dass der Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen geschwächt wird oder sogar ganz abbricht (vgl. ebd., 325). Diese Selbstentfremdung verbunden mit der Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer Menschen, mit denen uns keine positiven Gefühle verbinden, verstärkt wiederum die Gefahr des Burnouts (vgl. ebd., 326).
Obwohl dies eigentlich als gegensätzlich zum Interaktionsstress angenommen werden könnte, herrscht gerade in Lehrerkollegien oft ein Kommunikationsdefizit: Für viele Lehrer sind Pausen oder vereinzelte Freistunden die einzige Möglichkeit neben den Konferenzen, sich mit Kollegen zu unterhalten. Da diese aber häufig für unterrichtsunabhängige und -abhängige Aufgaben in Anspruch[13] genommen und selbst als Belastungsfaktor wahrgenommen werden, findet hier höchstens eine Art „Nebenkommunikation“ (Rothland 2004, 164) statt, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung oder Absprache über das pädagogische Konzept, gemeinsame Standards etc. Dies verstärkt sich dadurch, dass man als Lehrer häufig nur mit den als sympathisch empfundenen Kollegen spricht, die ähnliche pädagogische Vorstellungen besitzen (vgl. ebd.).
Die Ursachen für diesen Zustand liegen unter anderem darin begründet, dass das Kollegium zufällig zusammengestellt und daher mit großer Wahrscheinlichkeit sehr heterogen ist (vgl. ebd., 161). Zudem besteht die Ambivalenz zwischen der äußerlichen rechtlichen und bürokratischen Reglementierung von Schulen und den individuellen eigenverantwortlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Unterrichts andererseits (vgl. ebd., 162). Fehlende Rückmeldungen[14] über den Erfolg der unterrichtlichen Tätigkeit und das negative Image des Lehrerberufs allgemein erhöhen die Verunsicherung des Lehrers weiter (vgl. ebd., 163). Hinzu kommt, dass sich eine Vielzahl von Sekundärinformationen über jeden Lehrer aufspüren lassen, seien es Klassenbucheinträge, Tafelbilder, der Lärmpegel des Unterrichts, verbale Äußerungen der Schüler und der Eltern usw. „Das Bewusstsein, dass Lehrer einer Schule gegenseitig ihre Spuren entdecken können, mahnt im Kollegium zur Vorsicht und kritischer Distanz“ (ebd., 164). Kann man sich gegen unberechtigte Vorwürfe oder Anfeindungen dauerhaft nicht genügend zur Wehr setzen, wird man unter Umständen zum Mobbingopfer (vgl. Hillert 2004, 125). Weiterhin ist die Arbeit des Lehrers stark an dessen Persönlichkeit gekoppelt: Werden berufliche Probleme im Kollegium erörtert, wird dies oft als Bedrohung der ganzen Person erlebt und die Nichteinmischungsnorm wird umso strikter eingehalten (vgl. Rothland 2004, 165).
Die Persönlichkeit eines Lehrers ist im Zusammenhang mit Burnout aus verschiedenen Gründen interessant: Zum einen, weil sie erheblichen Einfluss auf seine Schüler[15] und so auch auf die Rückmeldungen von Schülern und Eltern hat. Wie wir im nächsten Kapitel noch im Zusammenhang mit den Bewältigungsmustern nach Schaarschmidt sehen werden, hat die Persönlichkeit auch Einfluss auf die Stressbewältigung. Mönninghoff (1992) stellt zudem eine provokante Kausalkette auf, die den Einfluss der Charaktereigenschaften von Lehrpersonen auf das Stresserleben nahelegt.
Junglehrer haben nach Mönninghoff (vgl. 1992, 13) in ihrem Leben nur die Schule und die Schülerrolle[16] kennen gelernt, wollen aber auf das Leben vorbereiten: „Kein Berufsanfänger steht vor der Notwendigkeit einer so radikalen Umkehrung aller identitätsstiftenden Bezüge wie der Lehrer zu Beginn seiner Laufbahn“ (ebd., 14). Der neue Lehrer steht auf einmal all dem gegenüber, was er bisher war und nicht mehr sein darf. Deshalb verdrängt er seine vorherige „ganze[] Rolle des Schülers“ und formuliert eine „Teilrolle Schüler, die im Grunde nichts anderes als eine lehreradäquate Schülerrolle ist“ (ebd., 23). So wird die Verantwortung für die eigene Enttäuschung an den Schüler weitergegeben und der Lehrer flüchtet sich in die Opferrolle (vgl. ebd.). Das macht es ihm auch unmöglich, die Vorteile des Lehrerberufs „mit Stolz als Ausweis der eigenen Cleverness zu tragen“ (ebd., 24): Er jammert über all die beruflichen Nachteile und ist unfähig, die Privilegien seines Berufes wahrzunehmen – dient er doch „an der gesellschaftlichen ‚Front‘“ (ebd.). Auf diese Weise konstruiert der Lehrer seine Belastung permanent selbst, so „daß all das, was er tut – so wenig es auch sein mag – tatsächlich zur Belastung wird“ (ebd., 26). Die vorangegangenen Darstellungen sind sicherlich überspitzt, dennoch könnten sie möglicherweise für den einen oder anderen Lehrer Hinweise darauf liefern, warum die eigene Situation überhaupt als so belastend wahrgenommen wird und zu angemessenen Lösungsstrategien führen...