Im folgenden Teil der Arbeit möchte ich einige Perspektiven zum Wandel einzelner Bildungstheorien aufzeigen. Von der griechischen Antike bis zur Neuzeit, in einzelne geschichtliche Epochen gegliedert, sollen hier die Wurzeln unseres Bildungsdenkens fragmentarisch dargestellt und erläutert werden. Dabei beschränke ich mich auf zentrale Bedeutungsmomente im geschichtlichen Verlauf des Bildungsbegriffs. Um das Bildungsdenken in der heutigen Zeit zu verstehen ist es meines Erachtens nach wichtig, Bildung als historisches Problem aufzuzeigen, denn zum Verstehen gehört notwendigerweise auch das Bewusstsein der Entstehung des Bildungsdenkens. Wie gewann der Bildungsbegriff seine heutige Bedeutung? Welche geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignisse und Veränderungen waren bzw. sind bis heute prägend für den Begriff der Bildung? Welche Bildungstheorien haben heute immer noch Einfluss auf unser Bildungsverständnis und bieten Anlass zur Diskussion?
Die Beschäftigung mit dem Begriff der Bildung kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. In der griechischen Antike war die Idee der paideia (= Erziehung, Bildung) dafür vorgesehen, den Bürger für das Leben im Gemeinwesen, in der »polis« (= Stadtstaat) vorzubereiten. Auch stand die paideia für die Hinwendung des Menschen zum Denken des Maßgeblichen. Philosophisch ausformuliert findet sie sich in Platons Hauptwerken, wie der politeia (= Staat) oder nomoi (= Gesetze) wieder. In seinem berühmten Höhlengleichnis untersuchte Platon die menschliche Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung. Der ungebildete, der gefesselte Mensch, mit dem Gesicht zum Höhleninneren, lebt nicht in der Wirklichkeit. Der Gebildete, der aus den Trugbildern Befreite dagegen findet, auch wenn er große Schmerzen durch Erfahrung und Erkenntnis erleiden muss, den Zugang zur Wirklichkeit. Der Mensch muss herausgeführt werden aus dem Zustand der Unbildung, auf dass er die Befähigung zum Denken und Handeln erlange (vgl. Wehnes 1994, 259).
Bildung wurde in der Antike als das Verhältnis vom Menschen zur Welt gesehen, wo hingegen im Mittelalter darunter hauptsächlich das »Sich-Bilden in Gott« und seinen Werken verstanden wurde. Die mittelalterliche Bildungsidee war somit gänzlich durch die Bindung zum christlichen Gott gekennzeichnet. Der so genannte »Imago-Dei-Gedanke«, also die Vorstellung, Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und nur er selbst könne die Menschen bilden und erziehen, erweist sich als eine der wichtigsten Quellen des Bildungsgedankens.
Der Mensch kann sich, nach damaliger Überzeugung, nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch die Gnade und Liebe Gottes formen (vgl. Wehnes 1994, 260f.).
Bereits der griechische Gelehrte Clemens von Alexandria beschrieb Erziehung wie folgt: „Erziehung ist die Gottesfurcht, die ein Unterricht in der Verehrung Gottes und eine Unterweisung zur Erkenntnis der Wahrheit und eine richtige, zum Himmel emporführende Leitung ist“ (Clemens von Alexandria zit. nach Röhrs 1967, 69). Hieran wird deutlich, in wessen Hand die Bildung und Erziehung der Menschen im Mittelalter lag.
In der Zeit der Renaissance, welche ihren Ursprung in Italien hat und als Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit gilt, entstand ein neues Bildungsdenken. Der Bezug des Menschen zu Gott wurde sozusagen um den Bezug des Menschen zur Welt erweitert. Bildung wurde nun nicht mehr als göttliche Gnade verstanden, sondern als eine Entfaltung der eigenen »inneren Kräfte« (vgl. Wehnes 1994, 260). Zeitgleich entstand durch den Humanismus eine weitere Konzeption von Bildung. Der italienische Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola sah den Menschen dazu berufen, sich nach eigenem Willen zu bilden, damit er die Form, nach der er zu leben wünscht, selbst bestimmen kann (vgl. Wehnes 1994, 260f.).
Im Gegensatz zum christlichen Bildungsdenken wurde hierbei ganz deutlich die freie Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gefordert. Auch der niederländische Humanist Erasmus von Rotterdam kämpfte in dieser Zeit gegen eine „Ungeformtheit in Wissen und Verhalten“ (Wehnes 1994, 261). Er sah die Humanität in der verfeinerten Sprache, in antikem Wissen, in der eigenen Freiheit zu entscheiden und zu urteilen sowie der Gelehrsamkeit realisiert. Er prangerte die fehlende Kultur in seiner Zeit an und erhob Bildung zu einer Qualität der geistigen Elite. Dieses Verständnis vom Menschen stellte eine entscheidende Grundlage für den humanistischen Bildungsbegriff dar (vgl. Wehnes 1994, 261f.).
Das Zeitalter der Aufklärung stand ganz unter dem Zeichen der Vernunft. Diese wurde als der Inbegriff des menschlichen Erkenntnisvermögens bezeichnet. Bildung hieß jetzt Aufgeklärtheit des Menschen über die Kraft seiner eigenen Ratio. Als gebildeter Mensch galt in dieser Zeit, wer sich selbst und sein Verhältnis zur Welt und zur Gesellschaft nach der eigenen Vernunft zu regeln wusste. Dementsprechend wurden überlieferte Werte und Normen in Frage gestellt und die kritische Auseinandersetzung damit stand im Vordergrund (vgl. Wehnes 1994, 263).
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant forderte die Menschen auf, die Gabe der Vernunft zu nutzen, um dadurch Freiheit zu erlangen. Er schrieb dazu: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich des Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen [...] Sapere aude! [= Wage es zu wissen!] Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant 1968, 53).
Ein anderer, bestimmender Pädagoge der Aufklärung war der aus Genf stammende Jean-Jacques Rousseau. In seinem Werk »Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« stellte er die Entwicklung von einer glücklichen Urgesellschaft bis zu einer modernen, ungleichen Gesellschaft dar und beschrieb darin das Wesen des Menschen als von Natur aus gut und erst durch die Zivilisation verdorben. In seiner Abhandlung »Emile- oder über die Erziehung« schrieb er: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen [...] Alles dreht er um, alles entstellt er. [...] Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht“ (Rousseau 1998, 9). Er forderte in seiner Abhandlung die naturbelassene Erziehung des Kindes, ohne dass der Erziehende in den ersten Lebensjahren stark in diese eingreift. Er forderte sogar: „Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muß das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren“ (Rousseau 1998, 72). Das Kind war somit zum sich selbst bildenden Subjekt geworden - der Erzieher oder Lehrer hatte lediglich den Auftrag, Situationen für das Kind zu schaffen, in denen es sich mit der Welt eigenständig auseinander setzen konnte.
Den Anspruch, die Persönlichkeit des einzelnen (Kindes) zu entwickeln, setzte dann auch der deutsche Philanthrop Johann Bernhard Basedow um. Er gründete 1774 in Dessau eine »Philanthropin« genannte Erziehungsanstalt, in der er eine möglichst jugend- und menschenfreundliche Pädagogik verwirklichen wollte. Das Philanthropin und ähnliche Einrichtungen, die in der Folgezeit in anderen Städten gegründet wurden, hatten zum Ziel, die Qualität der Bildung dadurch zu verbessern, dass die Arbeit in der Schule mit der Welt außerhalb des Klassenzimmers verbunden werden sollte. Die Philanthropen strebten die Erziehung zu einem aufgeklärten, weltoffenen, sittlichen und vernünftigen Menschen an (vgl. Hamann 1986, 61f.).
Im 18. Jahrhundert wurde dann schließlich der so genannte „klassische“ Bildungsbegriff geformt. Rousseau aber auch Basedow bereiteten durch ihre Schriften die Idee einer allgemeinen Menschenbildung vor. In der feudalen Ständegesellschaft jedoch wurde Bildung meist von den Zünften und Gilden »erteilt«, das heißt die Bildung war dementsprechend auf den Tätigkeits- und Lebensraum der Kinder bezogen. Der Gedanke einer gemeinsamen Bildung, über diese sozialen Schranken hinweg, lag dieser Zeit noch fern. Wieso sollte man Menschen gemeinsam zu gleichen Zielen erziehen, die keinen gemeinsamen Lebenszusammenhang teilten? Mitte des 18. Jahrhunderts wurde mit dem allmählichen Zusammenbruch der ständischen Ordnung nach und nach eine andere Auffassung von Bildung präsent. Es war die Zeit des deutschen Idealismus, die Zeit Goethes und Schillers, deren zentrales Thema die Entfaltung der Individualität des Menschen war. Nach ihrer Auffassung gehörte zur Individualität auch eine Art der Geistesbildung, welche sich nicht nur auf alltägliche Pflichten beschränke, sondern diesen gegenüber eine Distanz erlauben müsse. Der Mensch könne ihrer Meinung nach wesentlich mehr sein, als seine alltäglichen Pflichten ihm abverlangen (vgl. Giesecke 1998, 19ff.).
Im aufkommenden 19. Jahrhundert wurde durch die so genannten Neuhumanisten, allen voran der preußische Schulreformer und Philosoph Wilhelm von Humboldt, eine humanistische Allgemeinbildung gefordert. „Das Menschenkind zum Menschen zu bilden, nicht den Schusterjungen zum Schuster auszubilden, das ist die Aufgabe der allgemein bildenden staatlichen Schulen, deshalb heißt diese Erziehung humanistisch“ (Borsche 1990, 60)....