Um das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ aus organisationstheoretischer Perspektive zu analysieren, bedarf es zunächst einer Einordnung der EKD als Organisation.
Etzioni grenzt Organisationen von anderen sozialen Einheiten als solche ab, die gebildet wurden, um spezifische Ziele zu erreichen. Organisationen sind dabei für ihn durch drei Merkmale charakterisiert. Organisationen sind gegliedert nach einer bewusst geplanten Arbeitsteilung und somit nach Machtteilung und Verantwortungsdelegation. Es ist mindestens ein Machtzentrum zur Kontrolle der Organisation vorhanden, welches die geleistete Arbeit überprüft und gegebenenfalls den Arbeitsablauf verbessert. Weiterhin sind Arbeitskräfte substituierbar.[76] Für Türk sind Organisationen neuere soziale Gebilde, die erst im Zuge der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entstanden sind und als Vergesellschaftungsform durch ebenfalls drei Kriterien gekennzeichnet werden können: Prinzipiell ist für ihn die Möglichkeit des Ein- und Austritts der Mitglieder freiwillig. Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation können je nach Situation, in der sich die Organisation befindet, frei gestaltet werden. Prinzipiell gibt es außerdem eine freie Zwecksetzung, welche die Organisation auf eine funktionale Spezifizität ausrichtet.[77] Allerdings ist Türks erstes Kriterium in Bezug auf „totale Organisationen“ zu hinterfragen. Weiterhin stellt sich auch in Hinblick auf Kirche als Organisation die Frage des freiwilligen Ein- und Austritts. In den evangelischen Kirchen ist das Eintrittskriterium die vollzogene Taufe. „Die Taufe ist das Sakrament der Initiation. Sie markiert Anfang, Grund und Grenzen des Christseins.“[78] Allerdings ist hierbei immer noch die Kindstaufe allgemein üblich, bei der die Erziehungsberechtigten, in der Regel also die Eltern des Kindes, als deren Vertreter über Eintritt in eine Kirche entscheiden. Die Taufe wird auch in der evangelischen Theologie als ein einmaliger und somit nicht wiederholbarer und endgültiger Akt angesehen.[79] Müller-Jentsch definiert Organisation als „das planmäßig koordinierte und zielorientierte Zusammenwirken von Menschen zur Erstellung eines gemeinsamen materiellen oder immateriellen Produkts.“[80] Er weist daraufhin, dass Organisationen „keine sachlich fassbaren Gegenstände“ sind, sondern vielmehr „aus einem unsichtbaren Netz aufeinander bezogener Handlungen“ bestehen. Zwar besitzen Organisationen lokalisierbare Zentren und Büros, doch gebildet werden sie erst von Menschen.[81] Er folgt damit Luhmann, der davon ausgeht, dass Organisationen nur aus der Kommunikation von Entscheidungen bestehen. So rekrutieren Organisationen ihre Mitglieder durch die Entscheidungen, einerseits neue Mitglieder auszuwählen und andererseits durch die Entscheidung der Mitglieder, der Organisation beizutreten und sich „den Rahmenbedingungen künftiger Entscheidungen [zu] unterwerfen.“[82] Allerdings zeigt sich hier ein grundsätzlicher Zwiespalt. Einerseits bestehen Organisationen aus Rollen, Positionen und sinnhaft aufeinander bezogenen Handlungen, denn Personen an sich sind immer austauschbar in der Organisation. Andererseits wäre eine Organisation ohne die die Rollen ausfüllenden Personen undenkbar.[83]
Kirche als Organisation verwaltet die Institution „Religion“. Daher sollen die Begriffe Institution und Organisation von einander abgrenzt werden, aber dennoch zueinander in Bezug gesetzt.
„Institution ist diejenige gesellschaftliche Einrichtung, die die jeweils historischen Antworten auf menschliche Grundwidersprüche verwaltet.“[84] Diese Grundwidersprüche sind beispielsweise Mensch und Natur, Leben und Tod oder Widersprüche zwischen den Generationen und Geschlechtern. Diese Grundwidersprüche bilden offensichtlich anthropologische Konstanten, die der Antwort bedürfen.[85] „Institutionen „verwalten“ also die Grundwidersprüche, in dem sie vorgeben, sie durch Antworten zu „lösen“.“[86] Diese Lösungen müssen dauerhaft fixiert werden. Um diese dauerhaften Lösungen herzustellen, ist nun eine kollektive Leistung notwendig, die organisiert werden muss. Institutionen benötigen hierzu, also zur Stabilisierung der Lösungen, Rituale und Regeln. Es muss sichergestellt werden, dass Einbrüche von außen abgewehrt werden können und diese Regeln nicht verletzt werden. Institutionen organisieren sich daher ein Abwehrsystem. In Zeiten des Sinnverfalls ihrer Antworten verbraucht die Institution daher oft viel mehr Energie für die Abwehr von Eindringlingen, als für das Anbieten neuer Lösungen.[87] Um diese Lösungen und Antworten dauerhaft zu fixieren und zu schützen, bilden Institutionen unter Umständen formale Organisationsstrukturen aus.
Organisationen lassen sich unter vielen Gesichtspunkten untersuchen. Etzioni nennt drei: Organisationsziele, Aufbau der Organisation und soziale Umwelt der Organisation.[88] Dem Modell von Scott nach gibt es vier Basiselemente, nämlich Organisationsziele, die formale und informelle Struktur, die Mitglieder und die räumliche und sachliche Ausstattung.[89] Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, umfassend auf diese Punkte einzugehen. In aller Kürze sollen hier aber einige zentrale Gedanken hierzu nachgezeichnet werden.
Die Ziele der Organisation bilden die Richtschnur ihrer Tätigkeit, die Quelle ihrer Legitimität und den Maßstab ihrer Effizienz. Etzioni weist hierbei darauf hin, dass die ursprünglichen Ziele irgendwann erweitert, eingeschränkt oder ersetzt werden, da Organisationen, einmal entstanden, neue Bedürfnisse entwickeln. Ziele werden dabei auch von den Zielvorstellungen der Mitglieder beeinflusst, wenn sie auch nicht deckungsgleich sind.[90] Zwar gibt es oft eine formale Instanz, welche Ziele festsetzt, in der Praxis aber sind immer auch verschiedene Interessengruppen innerhalb und außerhalb der Organisation beteiligt.[91] Organisationsziele können daher als Verhandlungsergebnisse von Organisationsteilnehmern aufgefasst werden, da u.a. verschiedene organisationsinterne Interessengruppen Einfluss nehmen, Ziele nicht immer kompatibel sind oder die Umwelt der Organisation auf diese einwirkt.[92]
Nach Etzioni sind Organisationen die effizientesten sozialen Gebilde. Ihr tatsächlicher Erfolg hängt ab von dem Maß, in dem sie ihre Ziele realisieren. Eine wirkliche Erfolgsmessung ist aber schwierig, da Ziele oft vage formuliert oder äußerst komplex sind. Auch die Messung des Erfolgs permanenter Ziele ist schwierig. Probleme gibt es außerdem dann, wenn Ziele nicht quantifiziert werden können. Bei Kirchen beispielsweise besteht der Ertrag nicht aus konkreten Gütern.
Ein weiteres Problem bei der Erfolgskontrolle ist, dass eine zu häufige Kontrolle die Ziele verkehren kann, wenn mehr Kontrolle eines Aspekts beispielsweise dazu führt, dass andere Bereiche vernachlässigt werden. Ziele können auch geändert oder ergänzt werden. Religiöse Organisationen neigen zu letzterem, in dem sie zum Beispiel ihre ursprünglichen Absichten durch soziale Aufgaben ergänzen. Diese Sekundärziele sollen die Primärziele nur unterstützen und ergänzen. Es besteht aber durchaus die Gefahr, dass sie sich verselbstständigen und beherrschend werden.[93]
Effizienz kann allerdings für Kirchen kein alleiniges Kriterium sein, da Dienst am Nächsten zweckfrei ist. Ziele haben Kirchen dennoch, beispielsweise Seelsorge und sakrale Handlungen ausüben, den Menschen Trost spenden und Gemeinschaft bieten.
Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft bestimmen die Grenze der Organisation. Auf diese Weise stellen soziale Systeme ihre Identität her.[94] Dieser Aspekt klingt banal, aber es ist sicher einleuchtend, dass eine Person, die nicht evangelisch getauft ist, nach dem Selbstverständnis der EKD dieser nicht angehören kann und somit nicht Mitglied ist. Charakteristisch ist daher, dass die Mitglieder gewissen Erwartungen an sie ihre Zustimmung nicht verweigern dürfen, ohne ihre Mitgliedschaft zu riskieren.[95] Geht man davon aus, dass Organisationen aus Rollen und Positionen bestehen, so sind auf jeden Rolleninhaber bestimmte Erwartungen gerichtet., so zum Beispiel die formalen Regeln achten, den Zweck der Organisation bejahen, einen Beitrag leisten, Entscheidungen treffen oder solche nur akzeptieren.[96] An dieser Stelle zeigen sich schon erste Schwierigkeiten für die Kirche. Der Beitrag wird über das Finanzamt zwangsweise eingezogen, aber die Nicht-Erfüllung anderer Erwartungen...