Die Vermessung der Weißwurst
Ein kulturelles Überlebenstraining für Bayern-Besucher
Von Jörg Steinleitner
Einleitende Worte – Was die afrikanische Savanne mit Bayern zu tun hat
Das Reisen nach und in Bayern ist gefährlich. Dies ist für jeden Betrachter unschwer bereits am großen bayerischen Staatswappen zu erkennen: Das Wappen bildet zwei Löwen ab, mithin Raubtiere, die auch Menschenfleisch nicht verschmähen. Entgegen vielen anderen wissenschaftlichen Interpretationen, die behaupten, die heraldischen Löwen seien auf die Pfalzgrafen bei Rhein bzw. die Wittelsbacher zurückzuführen, dienen die Löwen auf dem Wappen der Warnung allzu blauäugiger Bayern-Urlauber: Der Reisende soll beim Betreten des auf den ersten Blick paradiesisch unschuldig wirkenden Landstrichs mindestens so vorsichtig sein wie beim Besuch der eigentlichen Heimat des Löwen, der afrikanischen Savanne. Oder finden Sie es nicht auffällig, dass das Bayerische Landesamt für Statistik zwar jedes Jahr die Anzahl der Gästeankünfte veröffentlicht (derzeit rund 30 Millionen), aber nicht verrät, wie viele auch wieder lebend das Land verließen? Sagen wir es geradeheraus: Das Reisen in Bayern ist eine Kunst, die erlernt sein will. Die folgenden Ausführungen mögen nicht bayerischen Reisenden dabei helfen, sich mit sicherer Höflichkeit im Land des Löwen zu bewegen – und es möglichst lebendig wieder zu verlassen.
Das Geheimnis bayerischer Gastfreundschaft –Es war schon immer so
Lassen Sie uns zunächst an der Grundeinstellung arbeiten, mit der Sie die grünen Landschaften mit den vielen Seen und Wäldern betreten. Sie könnten versucht sein, zu vermuten, dass ein Land, das so sehr vom Tourismus profitiert wie Bayern, seine Gäste besonders freudig begrüßt. Dies ist ein Irrtum. Der Kabarettist Bruno Jonas, geboren im niederbayerischen Passau, formuliert es mit betörender Klarheit: »Gastfreundschaft gibt es nicht in Bayern.« Und Jonas begründet diese These auch mit bestechender Logik: Der Bayer halte Gastfreundschaft für unmenschlich. Denn letztlich könne man nur daheim glücklich sein. Und weil der Bayer wolle, dass alle Menschen glücklich sind, sage er zu dem Fremden, so hält es Bruno Jonas in seiner Gebrauchsanweisung für Bayern fest: »Schau, daß du hoamkommst.«
Wer diese Theorie für eine abseitige Mindermeinung hält, befindet sich übrigens auf dem Holzweg. Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Feldforschungen fragte ich den aus dem oberbayerischen Garmisch-Partenkirchen stammenden Alpenkrimikönig Jörg Maurer, aus welchen vielfältigen Gründen denn der Nicht-Bayer in Bayern willkommen sei. Ohne nachzudenken konterte der Nachfahre eines Wilderers mit der Gegenfrage: »Ist er das?«
Tatsächlich muss man zur Kenntnis nehmen, dass der Bayer schon immer lieber zu Hause war als anderswo. Bereits Aventinus schrieb 1526 über den Bajuwaren: »Pleibt gern daheim, raist nit vast auß in frembde land.« Daran hat sich im letzten halben Jahrtausend nichts geändert. Übrigens zeigen sich Bayern auch ihrerseits höchst überrascht, wenn sie außerhalb ihrer Felder und Gauen mit freudigem Blick und Freundlichkeit im Herzen begrüßt werden. Eine im Landkreis Rosenheim durchaus prominente Ärztin erzählte mir, ihr sei in einer Bäckerei in Köln kürzlich etwas »total Verrücktes« passiert: Als sie nach einer »Semmel« verlangt habe, so nennt man in Bayern das Gebäck, welches anderswo »Brötchen«, »Schrippe« oder »Weckle« heißt (zu weiteren sprachlichen Feinheiten kommen wir später noch), sei ihr die Verkäuferin beinahe um den Hals gefallen: Sie sage ja »Semmel« – ob sie denn aus dem schönen Bayern sei? Nachdem die bayerische Doktorin dies bejaht hatte, erzählte ihr die Kölnerin begeistert, sie fahre jedes Jahr nach Bayern, es sei dort paradiesisch. Dem konnte die bayerische Ärztin trotz der ihr aus katholischer Sicht sachte aufstoßenden Übertreibung zustimmen – und so schenkte ihr die Verkäuferin den gesamten Frühstückseinkauf. Dieses unerhörte Erlebnis kommentierte die Rosenheimerin mit der Aussage: »Es ist unglaublich: Wenn mir [sic] bei denen sind, schenken’s uns Semmeln. Wenn die bei uns sind, simma froh, wenn’s wieder fahren.«
Man könnte als Nicht-Bayer nun geneigt sein, einen großen Bogen um dieses Land zu machen, welches Kölner für das Paradies halten. Tatsächlich gibt es aber nicht nur Niederschmetterndes bezüglich der bayerischen Gastfreundschaft zu vermelden. Der emeritierte Münchner Amerikanistik-Professor Gerd Raeithel, der unter dem Pseudonym des texanischen Ethnolinguisten R. W. B. McCormack vor vielen Jahren über den süddeutschen Volksstamm das Standardwerk Tief in Bayern verfasst hat, berichtet auch Tröstliches. Bayern habe gelegentlich gute Erfahrungen mit Ausländern gemacht: Herzog Max etwa habe in den 1830er-Jahren auf dem Kairoer Sklavenmarkt vier Mohren gekauft und sie mit nach Hause genommen. »Nachdem sie in der Frauenkirche aus der Hand des Erzbischofs das Sakrament der kl. Taufe empfangen hatten, dienten sie zur vollsten Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber.« Wenngleich dies schon lange her ist, so gibt es doch Anlass zur Hoffnung. Sicher ist, dass der Bayer umso gastfreundlicher ist, je mehr der Urlauber sich den Landessitten anpasst.
Sprachliche Finessen – Die geheime Verbindung zwischen Gott, dem Ohrenwuzler und Schalke 04
Wie bei allen Reisen in exotische Länder erhöht es die Wahrscheinlichkeit, die Sommerfrische oder den Skiurlaub lebend und ohne größere Blessuren oder »Watschn« zu überstehen, wenn man sich einige Grundkenntnisse des Bairischen angeeignet hat. Hierbei ist als erste und wichtigste Regel vorauszuschicken, dass ein Ureinwohner des nadelwaldreichen Hügellandes nichts fürchterlicher findet, als wenn ein Nicht-Bayer versucht, Bairisch zu reden. Der bereits zitierte Jörg Maurer sagt hierzu: »Ganz schlimm ist es, wenn ein Nicht-Bayer – reden wir doch Klartext: ein Preuße! –, von einer ›Mouss Bier‹ oder einer ›Maaoss Bier‹ redet. Das geht immer schief.« Das helldunkel schwingende, locker alplerische, fast juchzende, trotzdem nachdenklich-phlegmatische »a« in »Maß« sei für jemanden, der nicht mindestens drei Generationen in Bayern gelebt habe, nicht zu packen, meint der Krimikönig aus den Bergen.
Alle Gesprächspartner, die ich während meiner empirischen Forschungen befragte, bestätigten mir diese These. Allerdings verriet mir eine aus dem höchsten Norden stammende Probandin, die als Maklerin tagtäglich auf Eingeborene des Bajuwarenstamms trifft, nach Genuss einiger Halben Bier, folgendes Geheimnis: Sie habe festgestellt, dass bayerische Gesprächspartner sehr wohlwollend reagierten, wenn sie typisch bairische Wörter in ihren nordischen Redefluss einbaue. Als erfolgreich eingesetzte Vokabeln nannte die blonde Preußin die Begriffe »Ohrenwuzler« (Ohrwurm) und »Oachkatzl« (Eichhörnchen). Wenngleich ich mich frage, bei welchen Gelegenheiten eine Immobilienmaklerin derartige aus der Zoologie stammende Wörter in ihrem Alltag verwendet, nehme ich diese Anregung gerne in meine Lehrschrift auf. Gleichzeitig merke ich aber an, dass Ausländer die bairischen Wörter zwar in hochdeutscher Aussprache verwenden dürfen, aber im Rahmen der Möglichkeiten des Sprechers oder der Sprecherin sich dann doch wieder einigermaßen nahe an der Grammatik des Bairischen orientieren sollten: Wer sagt, »Ich gehe jetzt zur Wiese« wird gerade zur Zeit des Oktoberfests ratlose Blicke ernten. Wenn schon, dann geht man bitte »auf die Wiesn«, ganz gleich, ob man aus Plattdeutschland oder Burkina Faso stammt.
Die Kunst der Konversation mit Einheimischen besteht zweifellos darin, ihre Sprache nicht kopieren zu wollen, aber in den jeweiligen Situationen flexibel zu reagieren. Dazu gehört, dass man auf unerwartete Überraschungen gelassen reagiert. So sollte ein Fremder keinesfalls beleidigt sein, wenn er von einem Bayern geduzt wird. Im Gegenteil. In einem Dorf geduzt zu werden kann auch bedeuten, dass man als dazugehörend oder zumindest nicht störend empfunden wird. Früher duzten sich alle bayerischen Einwohner in allen bayerischen Dörfern. In Orten, deren Bevölkerungsstruktur noch nicht durch starken Zuzug verwässert wurde, ist dies auch heute noch so. Der aus Bad Aibling stammende Sprachforscher Gunther Chmela stellt hierzu fest: »Das althergebrachte Land-Du gab es schon immer.« Aber er warnt auch vor fatalen Fehlschlüssen: »Das traditionelle Land-Du ist ein anderes als das neuerdings um sich greifende, kumpelhafte Stadt-Du.« Den zu Duzenden erkenne man auf dem bayerischen Land an seiner Sprache oder gegebenenfalls an seiner Kleidung. »Wenn der Fremde bairisch redet, dann gehört es sich schon, ihn zu duzen. Wenn nicht, dann nicht«, so der Dialektexperte.
Auch Ansprachen, die man als Nicht-Bayer durchaus als beleidigend empfinden könnte, sind in Bayern mitunter das genaue Gegenteil. Hört ein Reisender den einheimischen Wirt über ihn, den Reisenden, sagen »Aber ein Hund ist er schon«, dann kann dies heißen, dass der Bayer den Fremden durchaus für eine Respektsperson hält, die in der Lage ist, sich mit Bauernschläue durchzusetzen. In Bayern als Hund zu gelten kann also eine Auszeichnung sein. Der Vollständigkeit halber sollte angefügt werden, dass es Sprachforscher gibt, die den »Hund« aus besagtem Sprichwort gar nicht auf ein Tier zurückführen, sondern auf das Wort »Hunne«, womit der fahrende Händler aus dem Osten bezeichnet wurde – ein Mann, dem man eine gewisse Geschäftstüchtigkeit nachsagte.
Häufigen Anlass zu gefährlichen Missverständnissen bietet auch die Grußformel »Grüß Gott«. Viele Nicht-Bayern tendieren dazu, sich...