Die Entwicklung der Verschuldung lässt sich in drei Phasen untergliedern. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis hin zum Anfang der siebziger Jahre bildet die erste Phase, in der die Schuldenstandsquote mehr oder weniger konstant bei 20% des BIP verblieb. Die zweite Phase, beginnend mit den siebziger Jahren, verzeichnete eine rasch ansteigende Schuldenstandsquote. Belastet durch die Ölpreiskrisen der Jahre 1974 und 1980, führte die dramatische Verteuerung des Rohstoffs zu steigenden Produktionskosten, steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Wachstum. Die Beantwortung der Krise mit kreditfinanzierten Ausgabenprogrammen ließ die Schuldenstandsquote auf 40% zu Beginn der achtziger Jahre steigen und verblieb unter der Regierung Helmut Kohls, etwa bei 41% bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1989. Die Wiedervereinigung leitet somit die dritte Phase in der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Staatsverschuldung ein.[162] In der Zeit zwischen 1989 und 1995 hat sich die Staatsschuld von 474 Milliarden Euro (31.12.1989) auf 1.018 Milliarden Euro (31.12.1995) mehr als verdoppelt. Bereits Ende 2006 wurde die Schuldenmarke von 1.527 Milliarden Euro überschritten. [163] Zum Ende des dritten Quartals 2012 beliefen sich die öffentlichen Schulden von Bund, Länder und Gemeinden auf 2.064,1 Milliarden Euro.[164] Auch wenn alle Schuldenuhren lediglich Schätzungen unterliegen, offenbaren sie auf anschauliche Weise ein ständiges Wachstum. Zum Zeitpunkt der Abfrage belegen sie einen Schuldenstand in Höhe von 2.119 Milliarden Euro.[165]
Innerhalb von 7 Jahren ist die Schuldenstandsquote zum Ende des Jahres 1996 auf 60,5% angewachsen. Die Wiedervereinigung Deutschlands implizierte auch die Übernahme der Verbindlichkeiten der DDR, welche in Höhe von annähernd 340 Milliarden DM veranschlagt wurden. Die vereinigungsbedingten laufenden Defizite, wie auch die zur Finanzierung notwendige Neuverschuldung lassen sich nur teilweise bestimmen. Die finanzpolitischen Anforderungen waren unvorhergesehen aufgetreten und wurden in ihrer Größenordnung unterschätzt. Zwar ist ein Teil der Aufwendungen durch die Erhöhung von Steuern und Sozialabgaben sowie durch Ausgabeneinsparungen finanziert worden, doch trug die Kreditaufnahme wesentlich zur Integration der neuen Bundesländer bei.[166] Zusätzliche Einnahmen waren notwendig, um die Verschuldung des Bundes zu begrenzen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15% zum 01. Januar 1993 wurde ergänzt, um die Erhebung des Solidaritätszuschlags zum 01. Juli 1991. Im Jahre 1998 wurde die Mehrwertsteuer auf 16% erhöht und hat seit der letzten Erhöhung per 01. Januar 2007 ihren Höchststand bei 19%.[167] Die Wiedervereinigung mag als Ausnahmeereignis eine Begründung des Anstiegs der Staatsverschuldung liefern, doch ist der Gipfel der Verschuldung damit nicht erreicht. Der nächstgrößere Schuldenzuwachs kann im Jahr 2001 verzeichnet werden. Die geplatzte Internetblase leitete die folgende Rezession ein und führte zu einem neuen Höchststand der Schuldenquote im Jahr 2005 von 67,8% der Wirtschaftsleistung.[168] Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte war Auslöser für den Rückgang auf 65,2% im Jahr 2007.[169] Der Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 löste einen konjunkturellen Einbruch in Europa aus. Obwohl in Deutschland kein Immobilienboom stattgefunden hatte, waren dennoch einige deutsche Banken an spekulativen Geschäften beteiligt. Durch umfangreiche staatliche Rettungsmaßnahmen konnte ein Zusammenbruch des Finanzmarktes verhindert werden. Eine Teilverstaatlichung der Commerzbank und gar eine vollständige Übernahme der Hypo Real Estate vom Staat waren notwendig.[170] In Folge der Einrichtung von Abwicklungsanstalten für die Banken Hypo Real Estate und die WestLB, sowie die Zurechnung deren Verbindlichkeiten in den staatlichen Schuldenstand, stieg die Schuldenstandsquote von 74,4% im Jahr 2009 auf 83,2% im Jahr 2010.[171]
Neben diesen kostspieligen Bankenrettungen wurden weitere Konjunkturprogramme eingeleitet. Die Ausweitung der Liquidität und eine Ausdehnung der staatlichen Nachfrage sollten zur Stimulierung des Absatzes und zur Dämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen. Die drastische Erhöhung der Staatsschulden zeigt die Schattenseite dieser Maßnahmen, die im schlimmsten Falle in einer Schuldenfalle münden. Bereits 2010 musste Griechenland durch massive Kreditgarantien vor einer Zahlungsunfähigkeit gerettet werden. Die Probleme der Staatsschuldenkrisen haben sich drastisch zugespitzt. Die Stabilitätsregeln der Euro-Zone wurden außer Kraft gesetzt. Die EZB kaufte Staatsanleihen der Krisenländer, obwohl dieses Vorgehen strikt untersagt ist. Die gebildeten Rettungsschirme und die Vergemeinschaftung der Schulden sollen zur Stabilisierung des Euro-Raums beitragen. Die Hauptlast der europäischen Währungskrise liegt dabei auf der Bundesrepublik Deutschland. Trotz der vielen Innovationen und der starken Industrie, die der Bundesrepublik derzeit einen besseren Stand attestiert, ist dies angesichts der hohen Staatsverschuldung dennoch eine schwere Hypothek.[172]
Für 2012 prognostizierte der Sachverständigenrat einen Zuwachs der Schuldenstandsquote auf 82,1%.[173] Im Jahr 2013 wird erwartet, dass die Schuldenstandsquote zwar auf 80,3% sinkt, doch dieser Wert liegt weiterhin deutlich über dem Referenzwert des Stabilitäts- und Wachstumspakts in Höhe von 60%.[174]
Abbildung 4: Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der Bundesrepublik Deutschland[175]
Begründet wird der prognostizierte Rückgang der Schuldenstandsquote mit einer Defizitquote von 0,1% und mit einem steigenden, nominalen Bruttoinlandsprodukt von voraussichtlich 2,4%.[176] Dennoch liegt in Deutschland die Schuldenstandsquote seit 2002 stets über der auch im Grundgesetz verankerten Schuldenregel (siehe Abbildung 4). Mittlerweile liegt sie sogar deutlich höher als vorgesehen. Diese Regel hat das Ziel, die Schuldenstandsquote nachhaltig zurückzuführen.[177] Ebenso soll der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) zukünftig eine Möglichkeit darstellen Problemländern des Euro-Raums und deren Banken zu unterstützen, ohne dass dies Auswirkungen auf die deutsche Schuldenstandsquote hat.[178]
Bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Auswirkungen von Staatsverschuldung ist es wesentlich, zu berücksichtigen wie die aufgenommenen Schulden verwendet werden und wie die Reaktion des privaten Sektors der Volkswirtschaft, als auch die der Güter- und Finanzmärkte auf die aktuellen Finanzierungsdefizite und die zukünftigen Finanzierungsverpflichtungen des Staates ausfällt. Hierbei können die kurz- bis mittelfristigen Wirkungen von den langfristigen Wirkungen unterschieden werden.[179]
Die Entscheidung über die Art der Finanzierung von zusätzlichen Staatsausgaben bedeutet für die politischen Entscheidungsträger auch die Einbeziehung von potenziellen Schwierigkeiten und Widerständen. Es herrscht ein Interessenkonflikt zwischen den wohlhabenden Bürgern, welche ein Interesse an niedrigeren Steuern haben, und der Mittelschicht, die umfangreiche Staatsleistungen bevorzugen. Ein Kompromiss, um den Interessen beider Seiten entgegenzukommen, liefert die Aufnahme von Schulden.[180] Gleichwohl ist die Art und Weise der Haushaltssanierung ebenso eine politische Entscheidung und hat unterschiedlich starke Auswirkungen auf verschiedene Personengruppen. Diese können nach dem Harvard-Professor Alberto Alesina in drei politisch relevante Gruppen differenziert werden. Zu diesen Gruppen gehören Zinseinkommensbezieher (Sparer), welche ihr Einkommen aus Gelvermögen oder Staatsschuldtiteln erhalten; Lohneinkommensbezieher, die ihr Einkommen durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft beziehen; und Gewinneinkommensbezieher, also Eigentümer von Unternehmen, Unternehmensanteilen oder anderen Arten von Realkapital (Aktionäre, Unternehmer, Immobilienbesitzer).[181]
Zinseinkommensbezieher
Den gravierendsten Einschnitt, den der Staat aus Sicht des Sparers vornehmen kann, ist die aktuell viel diskutierte Zwangsabgabe. Für zyprische Sparer ist dies bereits Realität. Im Rahmen der Hilfsgelder für Zypern erwarten die Finanzminister der Eurozone eine einmalige Abgabe auf Spareinlagen. Geldautomaten und Möglichkeiten der Transaktion, z.B. Online-Banking wurden zwischenzeitlich gesperrt, um einen Bankensturm zu verhindern.[182] Inzwischen ist es erlaubt pro Person und pro Bank maximal 300 Euro pro Tag vom Girokonto abzuheben.[183] Vermögensabgaben oder Zwangsanleihen können Modelle sein, um den privaten Sektor mit in Konsolidierungsstrategien einzubeziehen....