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E-Book

Zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung im Förderschwerpunkt der Lern- und Leistungsentwicklung

AutorStefan Kolke
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl78 Seiten
ISBN9783656429951
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,3, Universität Leipzig (Institut für Förderpädagogik), Veranstaltung: Lernbehindertenpädagogik, Sprache: Deutsch, Abstract: Hans Eberwein wagt in seinem 1988 erschienen 'Handbuch der Integrationspädagogik' die Prognose, '[...]dass sich die einhundertjährige Geschichte des eigenständigen Sonderschulwesens ihrem Ende zuneigt.' Die sonderpädagogische Theorie habe sich demnach an einer integrativen Beschulung zu orientieren, die neben der Vermeidung von Etikettierungsprozessen und der Förderung von Selbstbestimmung auch ein Stück Normalität für die sogenannten 'Behinderten' und 'Nichtbehinderten' herstellen könnte. Das gemeinsame Lernen, die Förde-rung der Entwicklung, der Identität und Autonomie aller Kinder sollte also künftig im Mittelpunkt aller pädagogischer Handlungen stehen. In der vorliegenden Arbeit wird diese Problematik unter dem besonderen Blickwinkel der Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung im Förderschwerpunkt der Lern- und Leistungsentwicklung aufgegriffen und bearbeitet. Neben der Bestimmung und Abgrenzung zentraler Begriffe, wird vor allem auf die Entstehung einer besonderen Pädagogik bei Lernschwierigkeiten und auf die Entwicklungstendenzen seit den 1970er Jahren eingegangen. Die Integration von Kindern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf Lernen in die Grundschule, einschließlich der dafür notwendigen organisationsstrukturellen Rahmenbedingungen, bildet den Kern der Arbeit. Um den aktuellen Stand integrationspädagogischer Bemühungen zu verdeutlichen, erfolgt im abschließenden Teil die Auseinandersetzung mit bundesdeutschen Bildungsstatistiken sowie die konkrete Projektion der Integration auf das Bundesland Brandenburg.

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Leseprobe

3. Entstehungsgrundlagen der Pädagogik bei Lernschwierigkeiten


 

Da die Geschichte der Pädagogik bei Lernschwierigkeiten bisher überwiegend als Institutionengeschichte angesehen werden kann, ist sie im Wesentlichen an die Entstehung der Hilfs- bzw. Sonderschule gekoppelt. Das Verständnis für die Hilfsschulentwicklung kann nur dann gewährleistet werden, wenn die bildungspolitischen sowie ökonomischen und sozialen Verhältnisse der jeweiligen Zeit Berücksichtigung finden (vgl. Eberwein 2008, S. 41; Werning/ Lütje-Klose 2006, S. 23).

 

Durch die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland einsetzende industrielle Revolution kam es zur Umstrukturierung im wirtschaftlichen Bereich, die wiederum eine veränderte Wahrnehmung schulischer Grundfunktionen nach sich zog. Infolge der zunehmenden Maschinisierung von Produktionsprozessen forderte der Staat eine bessere Volksschulbildung. Die damit verbundenen gestiegenen Leistungsanforderungen wirkten sich auf die Qualifikations-, Legitimations- und Selektionsfunktion der Volksschulen aus. Im Zuge dieser Veränderungen im Bereich des Bildungswesens, kam es zur Entstehung der „Hilfsschulen“. Dabei bleibt jedoch zu erwähnen, dass bereits in den Armenschulen des Mittelalters sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche Berücksichtigung fanden und demnach die Anfänge einer besonderen Erziehung weitaus früher zu datieren sind (vgl. Eberwein 2008a, S. 17; Heimlich 2009, S. 12; Reichmann-Rohr/ Weiser 1996, S. 21).

 

3.1 Von der „Hilfsschule“ zur „Schule für Lernbehinderte“


 

Als Vorläufer der „Hilfsschulen“ wurden während des 19. Jahrhunderts „Nachhilfeklassen“ eingeführt. Das Ziel bestand darin, SchülerInnen mit Schulleistungsproblemen durch intensive Förderung in die Volksschulklassen zurückzuführen. Die mit der Industrialisierung einhergegangenen Qualifikationserfordernisse setzten bei allen SchülerInnen ein Mindestmaß an Fähigkeiten und Fertigkeiten voraus und resultierten folglich in einem Anstieg der Leistungsanforderungen in den Volksschulen. Unter diesen Bedingungen musste der Gedanke der Nachhilfeklassen wieder in Frage gestellt werden, da die angestrebten Erfolge der Rückführung in die Volksschulklassen weitestgehend ausblieben. Vielmehr machten sich auch dort vermehrt Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten bemerkbar. In den personell wie materiell sehr schlecht ausgestatteten Klassen mit Schülerstärken von bis zu 200 Kindern, war eine individuelle Förderung einzelner SchülerInnen kaum möglich. Um die gleichmäßige Leistungssteigerung aller SchülerInnen einer Jahrgangsklasse zu gewährleisten und sie zur Teilnahme am Produktionsprozess zu befähigen, mussten sowohl schulorganisatorische als auch methodische Alternativen für all diejenigen Kinder gefunden werden, die den allgemeinen Anforderungen der Volksschule nicht gerecht wurden. Das es zwangsläufig zu Problemen bei der individuellen Förderung kommen musste, war bei den damals im überwiegenden Maße frontalen Unterrichtspraktiken nicht verwunderlich (vgl. Eberwein 2008a, S. 17; Heimlich 2009, S. 98-100; Reichmann-Rohr/ Weiser 1996, S. 21)

 

Das Volksschuldilemma mündete in Überlegungen zur Errichtung eigenständiger Institutionen für die sogenannten Schulversager, die erstmals von dem Leipziger Taubstummenlehrer Heinrich Ernst Stötzner vorgestellt wurden. Seine 1864 publizierte Schrift „Schulen für schwachbefähigte Kinder – Erster Versuch zur Begründung derselben“ thematisierte sowohl die Notwendigkeit von Nachhilfeschulen[1] als auch allgemeine Grundsätze der Unterrichtung und Erziehung dieser Schulform. Weiterhin legte er neben einem Lehrplanentwurf methodische Richtlinien für die Unterrichtsfächer vor. Die noch heute vor allem in der Sonderpädagogik geltenden Prinzipien formulierte Stötzner wie folgt (vgl. Heimlich 2009, S. 100; , Reichmann-Rohr/ Weiser 1996, S. 22):

 

„So anschaulich – ich möchte fast sagen – so handgreiflich wie möglich! Man gehe nicht nur Schritt für Schritt, sondern Schrittchen für Schrittchen vorwärts! Und zuletzt: Man langweile die Kinder nie, sondern wechsle fleißig mit den Unterrichtsgegenständen ab; im Anfang alle Viertelstunden!“ (Stötzner 1864, zit. n. Reichmann-Rohr/ Weiser 1996, S. 23)

 

Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund kam der Integration der SchülerInnen in die bestehenden politischen Verhältnisse sowie der schulischen Selektion nach Leistungen eine immer größere Bedeutung zu. Aufgrund des veränderten Funktionsverständnisses der Volksschule sollten nach Stötzner schulleistungsschwache Kinder von ihr befreit werden, um unter anderen Bedingungen mehr lernen zu können. Es wurde angenommen, dass leistungsschwächere SchülerInnen die Entwicklung ihrer MitschülerInnen gefährden und umgekehrt die Kinder mit Lernschwierigkeiten unter den gegebenen Umständen nicht hinreichend gefördert werden können. Darin sahen „HilfsschulbefürworterInnen“ die Gefährdung der Selektions- und Integrationsfunktion der Volksschule. Aus diesem Verständnis heraus können drei Aspekte für die Entwicklung der „Hilfsschulen“ formuliert werden: Die Forderung nach einer eigenständigen Schulform resultierte aus der ausweglosen Situation der Kinder, die den Anforderungen der allgemeinen Schule nicht entsprachen, sowie aus der Entlastungsfunktion gegenüber den Volksschulen. Letztlich sollte aber auch der als biologisch-medizinisch definierte Schwachsinn die Notwendigkeit einer separierten Beschulung[2] dieser SchülerInnengruppe legitimieren (vgl. Eberwein 2008a, S. 17, Reichmann-Rohr/ Weiser 1996, S. 23; Werning/ Lütje-Klose 2006, S. 24-28). Durch die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Schulleistungsproblemen in „Hilfsschulen“ kam es erstmals zur äußeren Differenzierung, statt die schulischen Rahmenbedingungen der Volksschule so zu verändern, dass alle SchülerInnen gemeinsam lernen können (vgl. Eberwein 2008a, S. 18). Aufgrund des zu jener Zeit überwiegend frontal geführten Unterrichts in den stark überfüllten Klassen der allgemeinen Schule, war ein individuelles Eingehen auf die Kinder mit Lernproblemen jedoch kaum denkbar, sodass der Hilfsschulunterricht zunächst die Möglichkeit der Aneignung einer grundlegenden Bildung für diese SchülerInnengruppe darstellte. Darüber hinaus bestand die Chance der separierten Beschulung in der individuellen Förderung vorhandener Kompetenzen. Davon versprach man sich die Entwicklung einer grundlegenden Motivationshaltung gegenüber den schulischen Leistungsanforderungen sowie die Stärkung des Selbstkonzeptes der „HilfsschülerInnen“. Eine kleinere Lerngruppe, ein reduzierter Lehrplan, innere Differenzierung sowie speziell ausgebildete Lehrkräfte bildeten dabei die Basis des Unterrichts im Schonraum „Hilfsschule“ (vgl. Heimlich 2003, S. 139; Heimlich 2009, S. 102; Werning/ Lütje-Klose 2006, S. 27).

 

Knapp 20 Jahre nach Stötzners Aufruf kam es zur Gründung von „Hilfsklassen“, die zunächst als Bestandteil der Volksschulen über einen jahrgangsmäßgen Aufbau zu eigenständigen Institutionen ausgebaut werden sollten – den „Hilfschulen“. Die ersten „Hilfsklassen“ entstanden in Elberfeld (1879), Leipzig (1881) und Braunschweig (1881) (vgl. Heimlich 2009, S. 102). In der am 1. Mai 1881 in Braunschweig eingerichteten „Hilfsklasse“ ist vor allem die Arbeit von Heinrich Kielhorn hervorzuheben. Er griff mit seinem anschauungs- und handlungsorientierten Unterrichtskonzept bereits Elemente der erst noch bevorstehenden Reformpädagogik auf. Der deutsche Hilfsschulpädagoge Arno Fuchs arbeitete schließlich das Konzept der „Hilfsschule“ didaktisch und organisatorisch weiter auf. Neben einem Organisationsplan entwirft er ein Konzept der „Hilfsschulerziehung“, welches unter anderem durch Prinzipien der Anschauung, der vielfältigen Sinnesübungen und der Reduzierung der Lehrpläne sowie der Klassenfrequenz geprägt ist. Vor allem letzteres ermöglicht ein höheres Maß an Differenzierung und Individualisierung. Auch Arno Fuchs vertrat zu seiner Zeit die defizitäre Sichtweise, indem er das „Hilfsschulkind“ als krank bezeichnete und den vorliegenden „Schwachsinn“ auf eine nicht heilbare, angeborene hirnorganische Schädigung zurückführte. Aufgrund der sich manifestierten „Schwachsinnshypothese“ in den Köpfen der „Hilfsschulbefür-worterInnen“, kam es in den Folgejahren zur Verbreitung der „Hilfsschulen“ in allen deutschen Städten (vgl. Heimlich 2009, S. 103-105). Das gesellschaftliche Interesse an der Entwicklung der „Hilfsschule“ bestand vor allem in der sozialen Brauchbarmachung der Kinder und Jugendlichen. Deshalb war es vorrangiges Ziel der „HilfsschulpädagogInnen“, alle SchülerInnen zur Ausübung eines Berufs zu befähigen. Ein weiteres Anliegen der separierten Beschulung war die gesellschaftliche Integration, da ein Großteil der damaligen „HilfsschülerInnen“ - wie heute auch – aus sozial schwachen Milieus stammte (vgl. Werning/ Lütje-Klose 2006, S. 28-29).

 

Es bleibt festzuhalten, dass bereits Stötzners Entwurf den Zwangscharakter einer Aussonderung aufweist (Werning/ Lütje-Klose 2006, S. 24). Die Problematik der Separierung von SchülerInnen mit gravierenden Lernschwierigkeiten erkannten einige PädagogInnen und vor allem...

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