Inhaltsverzeichnis1. Schul-, Lehr- und Wanderjahre
1906–1925
Kindheit in Köln – Internatsjahr im Badischen – Ausbildung zum Volksbibliothekar – Wandervogel und »Quickborner« zwischen Erlebnis- und Gesinnungsgemeinschaft – »Nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit« – Klappholttal/Sylt – Erste Liebe: Elisabeth Maria Deux
Ein 15-jähriger Preuße – Kaspar Josef Witsch.
Eine zerknitterte Ausweiskarte mit deutlichen Gebrauchsspuren, ausgestellt am 10. April 1922 auf Kaspar Josef Witsch, zählt zu den ersten noch erhaltenen Dokumenten aus der Jugendzeit des späteren Bibliothekars und Verlegers. Der 15-Jährige wird als Preuße geführt. Das katholische Köln zählte damals als Teil der Rheinprovinz noch zur protestantischen Großmacht Preußen, eine Folge der Beschlüsse des Wiener Kongresses von 1815, die eine neue europäische Nachkriegsordnung begründet hatten. Als Josef Witsch seine Ausweiskarte erhielt, waren im Rheinland infolge des verlorenen Ersten Weltkriegs noch alliierte Truppen stationiert und Witsch somit »Einwohner des besetzten Gebietes«, wie der dreisprachige Aufdruck am Kopf des Papiers vermerkt.
Das Lichtbild auf dem Dokument zeigt Witsch als Schüler. Es wurde aus einer etwas größeren Aufnahme herausgeschnitten, die vermutlich in einem Fotoatelier oder draußen unter Atelierbedingungen entstanden ist.[1] Der junge Witsch blickt kühl in die Kamera, als wollte er sein Gegenüber taxieren, selbstbewusst und ohne Scheu. In den noch weichen, kindlichen Zügen deuten sich bereits einige äußere Merkmale der kommenden Lebensjahre an: der energische Zug um den Mund, die markanten großen Ohren, die hohen Wangenknochen und die schmalen Augen, die dem Erwachsenen später leicht asiatisch anmutende Züge verleihen werden. Als »rheinischen Hunnentyp« beschreibt Witschs älteste Tochter, Annette, ihren Vater liebevoll-ironisch.[2]
Was offenbart der Ausweis noch? Den Tag der Geburt zum Beispiel. Witsch erblickte am Dienstag, den 17. Juli 1906, das Licht der Welt, im selben Jahr wie Wolfgang Koeppen, René König, Hannah Arendt oder Herbert Wehner – mit allen vieren wird er später als Verleger Kontakte pflegen.
Witschs elterliche Wohnung lag im rechtsrheinischen Köln-Kalk, in der Kantstraße 13. Der Stadtteil, der heute als sozialer Brennpunkt gilt und seit dem Niedergang seiner Industrien einen zähen Strukturwandel durchlebt, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein selbstständiger, wohlhabender Industriestandort. Josef Witschs Eltern führten hier ein eigenes Gewerbe. »Meine Eltern sind der selbständige Dachdeckermeister und Inhaber eines Baugeschäftes Christian Witsch und Lisa Witsch, geb. Gassen. […] Von 5 Kindern bin ich das zweitälteste«, textete Witsch 1934 für einen Lebenslauf.[3]
Das Gewerbe ernährte die Familie und schuf die Voraussetzung, den Kindern die Ausbildung zu sichern. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs scheint ihr Leben in geregelten Bahnen verlaufen zu sein. Wie mag die Familie Witsch dann den Ausbruch des Krieges aufgenommen haben? War sie »patriotisch« gestimmt, eher gleichgültig oder zählte sie zur kleinen Minderheit der Kriegsgegner? Wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, wie sich der Kriegsausbruch in der Gedankenwelt des im Sommer 1914 gerade acht Jahre alt gewordenen Schülers niedergeschlagen hat und welche Prägungen damit verbunden gewesen sein mögen. Aber es ist legitim, hier ein wenig zu spekulieren. Hilfsweise lassen sich die Eindrücke eines Jungen heranziehen, der den Kriegsausbruch ähnlich wie Witsch erlebt haben könnte und, ausgestattet mit einer scharfen Beobachtungsgabe, seine damalige Weltsicht gut 20 Jahre später zu Papier gebracht hat. Ebenso wie den jungen Joseph Caspar Witsch[4] überraschte der Kriegsbeginn auch ihn, den damals siebenjährigen Sebastian Haffner, in den Sommerferien und traf ihn nach eigenen Worten »wie mit einem Paukenschlag«.[5] Der spätere Jurist und als Publizist zu Bekanntheit gelangte Haffner erlebte eine Zeit, in der plötzlich Begriffe auftauchten, deren Bedeutung er sich zunächst umständlich erklären lassen musste: »›Ultimatum‹, ›Mobilmachung‹, ›Allianz‹, ›die Entente‹. Ein Major […] bekam plötzlich einen ›Orden‹, auch so ein neues Wort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhne unseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hinterher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen ›Sei tapfer!‹, ›Bleib heil und gesund!‹, ›Komm bald wieder!‹. Einer rief: ›Hau die Serben!‹«[6]
In der Reichshauptstadt Berlin, wo die bürgerliche Familie Haffner lebte, dürften die Kriegsjahre von einem Jungen im Alter von sieben bis elf Jahren nicht grundsätzlich anders erlebt worden sein als im rheinischen Köln. Sie waren »unwirklich wie ein Spiel. Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben. Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischen Verbänden.«[7]
An der »Heimatfront« machte sich zu Beginn des Jahres 1915 aber auch bereits die Umstellung auf die Kriegswirtschaft in einer spürbaren Verknappung von Nahrungsmitteln bemerkbar. Lebensmittelkarten begannen den Alltag zu bestimmen, vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen, und die Qualität der ohnehin knappen Waren nahm spürbar ab. Es kam sogar zu Hungerrevolten in den großen Städten. Und einen Höhepunkt erreichte die Versorgungskrise im sogenannten Steckrübenwinter der Jahreswende von 1916 auf 1917, als Rüben für einige Zeit nahezu die gesamte Lebensmittelpalette ersetzen mussten. Die Welt der Jungen konnte diese harte Realität jedoch nur bedingt beeinträchtigen. Sebastian Haffner schreibt: »Was es an wirklichen Härten und fühlbaren Unannehmlichkeiten gab, zählte wenig. Schlechtes Essen – nun ja. Später auch zu wenig Essen, klappernde Holzsohlen an den Schuhen, gewendete Anzüge, Knochen- und Kirschkernsammlungen in der Schule, und, seltsamerweise, häufiges Kranksein. Aber ich muß gestehen, daß mir das alles keinen tiefen Eindruck machte.«
Sebastian Haffner erlebte den Krieg in seiner Kindheit also durchaus nicht als jene »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«[8], als den ihn der US-amerikanische Diplomat und Historiker George Frost Kennan auf eine ebenso griffige wie häufig zitierte Formel gebracht hat, sondern viel eher als ein »großes, aufregend-begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat«.[9] So wendete der junge Haffner die Regeln des Spiels, in dem Erfolge nach Punkten gemessen werden, auf die Meldungen vom Kriegsgeschehen an: »Ich war ein eifriger Leser der Heeresberichte, die ich nach einer Art ›umrechnete‹, nach wiederum sehr geheimnisvollen, irrationalen Regeln, in denen beispielsweise zehn gefangene Russen einen gefangenen Franzosen oder Engländer wert waren, oder 50 Flugzeuge einen Panzerkreuzer.«[10]
Haffner erinnert sich auch, dass der Abbruch der Ferien »das Ärgste« gewesen sei, das ihm »der ganze Krieg persönlich antat«.[11] Und spätestens hier enden die möglichen Parallelen in der Verarbeitung des Kriegsgeschehens der beiden Jungen. Denn anders als für Haffner bleibt der Erste Weltkrieg für Witsch kein abstrakt-fernes Geschehen, sondern zeitigt unmittelbare Folgen für die Familie. Wir wissen, dass Witschs Vater bereits kurz nach Ausbruch des Krieges eingezogen wurde. Von Köln aus gelangte er nach Nord-Frankreich bis in die Nähe von Soissons in der Picardie.[12] Von dort kehrte er nicht mehr zurück. »Mein Vater war schon 1915 in Frankreich gefallen«, notierte Witsch 1934 in seinem Lebenslauf knapp die familiäre Katastrophe, »und das väterliche Geschäft ging, bis dahin recht und schlecht von meiner Mutter weitergeführt, in Konkurs«.[13]
Den frühen Tod des Vaters erlitt Witsch im Alter von gerade einmal acht Jahren, und es ist schwer vorstellbar, dass das Kriegsgeschehen dem Kölner Jungen – anders als dem Berliner – anschließend noch »wie ein Spiel« erschienen sein könnte. Er selbst hat sich zu dem Verlust in späteren Jahren öffentlich nie geäußert. Es scheint eher so, als hätte er diese Erfahrung in sich verkapselt. Und auch weitere persönliche Eindrücke über die Zeit des Ersten Weltkriegs und die Zwischenkriegszeit finden sich selten. Ein einziges Mal spricht er später einen Aspekt an, der von der im Ersten Weltkrieg aufgewachsenen Jugendgeneration als besonders irritierend empfunden worden sein muss. In einer Gesprächsrunde des WDR aus dem Jahr 1961 geht Witsch auf den Verlust des Vertrauens in die bis zum Ende des Krieges unangefochtenen Autoritäten ein: »Wenn man als Kind […] gesehen hat, dass gestern ›Heil Dir im Siegerkranz‹ [gesungen wurde, F. M.] – und […] plötzlich: Dieselben Lehrer, dieselben Autoritäten, dieselben Personen, die auf uns einwirkten, demonstrierten uns ihre eigene Unsicherheit. Sie wussten überhaupt gar nicht, was nun an diese Stelle [treten sollte, F. M.]. Das haben wir doch gemerkt, unsere Instanzen, die waren in sich nicht mehr so fest, wie sie allen Generationen vor uns fest erschienen sein müssen. Und dass das so war, hat später eine ganze Menge, ich glaube, verhängnisvoller Folgen gehabt.«[14] Witsch hat es bei der Andeutung von Folgen belassen, anders als zum...