Die Geburtsstunde der Neuapostolischen Kirche (NAK) geht mit vielen Verwirrungen, Ungereimtheiten und menschlichen Unzulänglichkeiten einher. Kaum eine andere Sekte hat in den Jahren ihres Bestehens so viele Spaltungen und Abspaltungen erlebt wie die NAK. Ihre Geschichte beginnt 1826 in England mit dem ‚Albury-Kreis‘. In diesem Kreis erlebte man Zungenrede, Prophetie und Glaubensheilungen. Die Teilnehmer dieses Kreises waren geprägt von einer Endzeitstimmung und hofften auf eine Erneuerung der Kirche. 1835 sandten sie ‚12 Apostel der Neuzeit‘ in die christliche Welt.[42]
1860 spaltete sich in Deutschland eine Gruppe ab, um eigene Apostel zu berufen. Daraus entstand die NAK mit einer Ämterhierarchie, an deren Spitze seit 1898 der Stammapostel steht.[43]
Unter der Amtszeit des späteren Stammapostels Hermann Niehaus wurde 1930 die Bezeichnung ‚Neuapostolische Kirche‘ eingeführt. Sein Nachfolger Johann Gottfried Bischoff stürzte Sektenmitglieder in große Verwirrung, als er 1951 öffentlich die Niederkunft Christi mit den Worten ankündigte: ‚Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr‘. Nach dessen Tod reagierten viele Anhänger mit Unverständnis, so daß es wieder zu Abspaltungen kam. Doch die meisten hielten auch dem neuen Stammapostel Walter Schmidt die Treue. Seit 1975 ist das Stammapostelamt in den Händen von Schweizern und der Hauptsitz wurde von Dortmund nach Zürich verlegt. Schätzungen zufolge, soll es vier Millionen Anhänger geben, welche in 25.000 Gemeinden organisiert sind. Diese werden von 200 Aposteln geleitet und vom derzeitigen Stammapostelführer Richard Fehr geführt. Die offizielle Bezeichnung der Sekte lautet ‚Neuapostolische Kirche – Internationaler Apostelbund‘. In der Bundesrepublik Deutschland hat die NAK den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.[44]
Die NAK versteht sich als göttliches Gnaden- und Erlösungswerk, in dem die von Jesus begonnene Erlösung vollendet werden soll. Gott bedient sich nach Meinung der NAK des wiederhergestellten Apstelamtes, um seinen Heilsplan mit den Menschen in die Tat umzusetzen. Über den Aposteln steht der Stammapostel, welcher als ‚Repräsentant des Herrn‘ gilt und ihn ‚in vollkommenem Maße verkörpert‘.[45]
Die Schöpfungsgeschichte der Bibel wird wörtlich genommen wie – aufgrund der fundamentalistischen Grundhaltung – alles biblische Ge-schehen generell. Nach der Lehre der NAK kann ohne das wiederaufgerichtete Apostelamt kein Mensch den heiligen Geist empfangen und damit ein Gotteskind werden. Durch die Heilsnot-wendigkeit des Apostelamtes, welches nur in der NAK existiert, sind alle anderen Kirchen abqualifiziert.[46]
Die NAK steht in der Tradition der ‚christlichen‘ Endzeit-gemeinschaften[47], die sich für Gottes Elite halten, welche darauf warten, daß Jesus wiederkommen wird, um die Seinen [die NAK-Gläubigen] zu holen.[48]
Schon in den ersten Lebenswochen, werden Kleinkinder mit in die Gottesdienste genommen. In vielen Gemeinden existiert ein ‚Müttersaal‘, welcher als Disziplinierungsraum genutzt wird. Um den Sanktionen der Gemeindemitglieder zu entgehen, können die Mütter sich hierhin zurückziehen um ihre Kinder auf unterschiedlichste Weise zu maßregeln und zu züchtigen. Oft entlädt sich die Wut über die Sanktionen der Gemeinde (z.B. böse Blicke oder Ermahnung zur Ruhe) auf die Kinder.[49]
Stoffel bezieht sich im weiteren auf eine Richtlinie für Amtsträger in der NAK, welche schon vor Beginn des Gottesdienstes eine heilige Stille und ehrfürchtiges Erwarten verlangt. Hierzu führt er an, daß solch eine Regelung nur dann durchführbar ist, wenn Mütter Züchtigungsmittel einsetzten, um ihre Kinder ruhigzustellen.[50] Der natürliche Bewe-gungsdrang des Kindes, welcher die motorischen Fähigkeiten fördern soll, wird hierbei völlig außer acht gelassen. So läßt sich vermuten, daß Kinder u.U. Ängste entwickeln, sich in ihrer natürlichen Weise zu bewegen.
Nach Erikson baut sich Urvertrauen bei Kindern durch die Verläßlichkeit und Zuneigung der Pflegeperson auf.[51] Doch durch züchtigende Maßnahmen, welche die Kinder in der NAK erleben, weil sie ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben, erscheint es eher unwahr-scheinlich, daß sie dieses Urvertrauen aufbauen, zumal den Kindern in diesem Alter die verbalen Fähigkeiten fehlen „Anweisungen“ zu befolgen, die nicht ihrer natürlichen Entwicklung entsprechen.
Das Urvertrauen, welches sich durch das Gewährenlassen der Bezugs-person aufbaut und welche die wachsende Autonomiebestrebungen des Kindes verstärken soll, wird durch die autoritären Gehorsamsforderungen in der NAK stark beeinträchtigt. Die Ein-schränkungen, welche die Kinder in der NAK erleben, sind prägend für ihre Zukunft und lassen sie ängstlich gegenüber eigenen Entschei-dungsbestrebungen werden. Diese Unfähigkeit eigene Entscheidungen zu treffen, macht sie noch stärker vom NAK-System abhängig.
Als Beispiel für die Indoktrination führt Stoffel die klassische Konditionierung an, bei der Kinder schon mit dem Anblick der Kirche Ängste entwickeln. Das ‚Gotteshaus‘ wird gleichbedeutend mit Repression und der Einengung grundlegender kindlicher Bedürfnisse. So entstehen solche Konditionierungen, wenn das Kleinkind immer wieder in der zweimal pro Woche stattfindenden Predigten für nicht wohlgefälliges Verhalten bestraft wird. Der ursprünglich neutrale Reiz ‚Predigt‘ wird assoziiert mit angeborenen Reizen wie Schmerz (aufgrund von physischer Gewalt durch die Eltern) oder Schreien. Diese Kopplung zwischen Schlagen/Schreien und Predigt wird im Bewußtsein des Kindes der ursprüngliche Reiz ‚Predigt‘ zum gelernten Reiz und löst die gelernte Reaktion ‚Angst‘ aus. Das Kind verbindet die Predigt mit Unterdrückung und Gewaltausübung. Die Eltern, die selbst in das Werte- und Dogmensystem der NAK sozialisiert wurden, reduzieren die Sichtweise bezüglich ihres Kindes häufig auf eine völlig instrumentell-funktionale Ebene. Kinder werden nicht als Wesen mit Bedürfnissen nach Liebe und Zärtlichkeit wahrgenommen, sondern sie haben sich den Erfordernissen der NAK-Doktrin zu unterwerfen.[52]
Erikson beschreibt in seiner ersten Phase das, was in der Bindungstheorie als sichere Bindung an die Mutter genannt wird.[53] Die Bindungstheorie geht davon aus, daß das Kind innerhalb der ersten drei Monate ohne Unterschied der Person allgemein sozial ansprechbar ist. Nach drei Monaten beschränken sich die sozialen Kontakte auf wenige vertraute Personen.
Ainsworth spricht von der eigentlichen Bindung erst ab dem 7./8. Lebensmonat, bei der sich das Kind aktiv in die Nähe von Bezugspersonen bringen kann und diese bei Abwesenheit vermißt.[54]
Nach dem dritten Lebensjahr, sind die Kinder üblicherweise in der Lage die Abwesenheit von Bezugspersonen zu bewältigen.[55] Das Kind versucht das Verhalten von anderen zu beeinflussen. Dieses Modell unterscheidet zwischen sicherer und unsicherer Bindungsbeziehung.[56]
„Kinder mit sicherer Bindung sind generell freundlicher zu unbekannten Menschen. Sie erweisen sich als kompetenter bezüglich der Fähigkeit des Problemlösens und ihren sozialen und motorischen Fertigkeiten.[57] „Sie haben ein höheres Selbstwertgefühl und kommen im allgemeinen besser mit Gleichaltrigen aus.“[58] Bei unsicherer Bindung wird zwischen vermeidend-unsicherer und ambivalent-unsicherer Bindungsbeziehung differenziert.[59]
Bei NAK-Kindern kann sich aufgrund des unverhältnismäßigen Strafens der Mutter eine unsicher-ambivalente Beziehung zwischen Kind und Mutter bilden, da die NAK-Doktrin und das Verhalten der Mutter als Angst bei dem Kind internalisiert wird. Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung neigen später zu Ängstlichkeit und Scheu und fallen als Sechsjährige mit erhöhter Wahrscheinlichkeit als emotional gestört auf.[60]
Eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung setzt von Seiten des Kleinkindes ein Urvertrauen zu seinen Bezugspersonen voraus. Dieses entsteht aus der Grunderfahrung heraus geliebt zu werden. Doch Voraussetzung für die Entwicklung von Urvertrauen ist die Liebesfähigkeit der Eltern. Wenn Eltern aber selbst eine Sozialisation im Kontext der NAK erlebt haben, besteht die Gefahr einer verinnerlichten Bedingungsliebe, welche an die eigenen Kinder weitergegeben wird.[61]
Die Lehre der NAK ist davon überzeugt, daß Jesus kommen wird, um ‚die Seinen zu holen‘, um zu diesen Auserwählten zu gehören, müssen sich die Gläubigen den rigiden Regeln der...