1. Die geschichtliche Situation
Das Mittelalter war kein radikaler Neubeginn; es hat sich von Anfang an auf antike Formen bezogen. Es war zunächst die christliche Spätantike, die ihm Lebensmuster und Auslegungsformen gab. Was sich anbot, waren vor allem die Werke Augustins, sodann die Schriften des Boethius und des Dionysius Areopagita. Um die philosophische Entwicklung des Mittelalters zu verstehen, muss man herausfinden, was in diesen Texten philosophisch erreicht war, denn sie bildeten den geschichtlichen Ausgangspunkt für Bemühungen, die über das Kompilationsstadium hinausführen.
Nun lässt sich für die vorliegende Einleitung das Denken Augustins, des Boethius und des Dionysius nicht in der wünschenswerten Ausführlichkeit darstellen. Ich beschränke mich auf eine grobe Charakterisierung ihrer gedanklichen Welt und ihrer geschichtlichen Stellung. Sie stammten alle aus der Zeit zwischen dem Ende des 4. und dem Anfang des 6. Jahrhunderts. Durch ihre charakteristische Verschiedenheit schufen diese drei Autoren eine legitimierte, christlich-philosophische Verschiedenheit. Alle drei schrieben innerhalb des Rahmens, den die wirtschaftliche, die soziale und die politische Entwicklung der Spätantike geschaffen hatte. Die philosophischen Konzepte und die Werttafeln der Antike waren für sie noch erreichbar; aber sie waren durch die dogmengeschichtliche und die religionspolitische Entwicklung in Frage gestellt.
Der einheitliche Kulturraum der Mittelmeerwelt begann zu zerbrechen: Konstantin hatte seit 324 seinen Sitz in das von ihm gegründete Konstantinopel verlegt. Er hatte damit eine Entwicklung bestätigt und beschleunigt, welche die östliche und die westliche Reichshälfte zunehmend trennte. Besonders seit dem Ende des 4. Jahrhunderts, also gerade seit dem Beginn des uns interessierenden Zeitraums, vertiefte sich die politische und die kulturelle Trennung: Es gab im Westen immer weniger Menschen, die griechische Bücher lesen konnten; auch Augustin hat dies nicht mehr getan. Damit riss die Verbindung zur klassisch-griechischen Wissenschaft und Philosophie ab; nur unter besonders günstigen Ausnahmebedingungen – wie bei Boethius – konnte sie noch einmal geknüpft werden. Aber die allgemeine Tendenz ging auf Trennung der Reichshälften: Im Osten blühten noch immer der Fernhandel und die Städte; der Abstand zwischen Reichen und Armen blieb immer noch fein abgestuft, während im Westen die soziale Polarisierung voranschritt. Hier hörten die Städte auf, für die Reichen attraktiv zu sein. Die Besitzenden flohen aufs Land, arrondierten ihren Grundbesitz und erhielten, da die zentrale Verwaltung immer schwächer wurde, hoheitliche Rechte: Jurisdiktion, Steuereintreibung und Verteidigung fielen mehr und mehr in die Zuständigkeit regionaler und lokaler Instanzen. Die Folge war die einsetzende Verländlichung der spätantiken Zivilisation; das Feudalzeitalter bereitete sich vor. Gleichzeitig sanken die Einnahmen aus der Landwirtschaft; die Sklavenhaltung wurde teurer; die Anbaufläche ging zurück. Um seinen aufgeblähten Beamtenapparat und die steigenden Militärlasten zu finanzieren, musste der spätantike Staat bei zunehmendem Produktionsschwund der Wirtschaft mit ruinösem Steuerdruck reagieren. Eine Reglementierung und Bürokratisierung des gesamten Lebens war die Folge. Die rhetorisch herausgehobene absolute Macht des Kaisers setzte sich immer weniger effektiv durch. Die Menschen der unteren Schichten identifizierten sich immer weniger mit diesem Staat, den ein Althistoriker wie Matthias Gelzer einen »Zuchthausstaat« genannt hat – wegen der Starrheit der Strukturen, der Zunahme des Zwangs und des Erlöschens privater Initiativen. Die handwerklichen Berufe wurden kastenartig organisiert. Man fürchtete die Abwanderung und machte handwerkliche Berufe erblich. Die individuelle Lebensgestaltung wurde zunehmend erschwert. Die öffentlichen Ämter waren mit derart hohen Abgaben belastet, dass niemand mehr sie freiwillig anstrebte; man musste sie ebenfalls erblich machen. Einen Ausstieg aus diesem starren System boten das Eremitentum, die Rhetorik und die klerikale Laufbahn. Die philosophische Idee der Selbstbestimmung und der in der eigenen Tätigkeit zu erreichenden Eudämonie konnte allenfalls in diesen Lebensformen einen Nachklang haben. Die Philosophie konnte dazu dienen, individuelle Resignation und Abstand vom gesellschaftlichen Betrieb auszudrücken; sie konnte weiterleben als klerikales Selbstverständnis oder als rhetorischer Dekor. Gegenüber der klassischen Tradition war dies eine Verkürzung; sie schnitt sowohl die Dimension der polisbezogenen Praxis wie die der dialektischen Entwicklung der Vernunftinhalte ab. Was als »vernünftig« galt, gerann zur dogmatischen Position. Dies galt für den Osten wie für den Westen. Nur trat in dem verarmten und unsicheren Westen das vernünftige Selbstbewusstsein in einen unaufhebbaren Gegensatz zum irrational erscheinenden Lauf der realen Geschichte. Sollten vernunftgemäßes und wahres Leben den Menschen überhaupt zu eigen werden, dann nur im Jenseits.
Die militärische Bedrohung, die den Westen mit seiner extrem langen Grenze empfindlicher traf als den Osten, führte täglich die Hinfälligkeit der Welt vor Augen. Der göttliche Glanz des Kaisers bot keinen realen Schutz mehr. Was nahe war, das waren die angestammten Bedrücker oder die barbarischen Unterdrücker. Zudem wirkten die militärischen Niederlagen auf die innenpolitische, die soziale und die ökonomische Position des Westens zurück. Eine Schlacht wie die spektakuläre Niederlage des Kaisers Gratian gegen die Goten (378) – Augustin war damals 24 Jahre alt – hatte vielfache Folgen: Der Steuerdruck nahm zu, aber da längst keine Kriegsgefangenen mehr auf den Sklavenmarkt kamen und die Handarbeit immer teurer wurde, sanken die Rentabilität des Grundbesitzes und damit die Staatseinnahmen. Die Bevölkerungszahl nahm ab. Die Germanenstämme, die wir uns nicht zu groß vorstellen dürfen – höchstens etwa 20 000 Kampffähige –, verwüsteten Städte und zerstörten Verkehrsverbindungen. Dies erschwerte den Handel und förderte die Dezentralisierung und somit die Machtbefugnisse der Großgrundbesitzer. Schon unter dem Druck der Rezession in der Landwirtschaft hatten sich gegen 400 – es sind die Jahre, in denen Augustin die Gnade über den freien Willen siegen ließ – freie Bauern in die Hand von Latifundienbesitzern begeben, um, von der Steuererpressung befreit, auf deren Gütern zu arbeiten: Sie tauschten Unabhängigkeit gegen ein wenig Sicherheit, individuelle Freiheit gegen die Gunst eines Mächtigen ein. Als die Eroberer plündernd durchs Land zogen, suchten die Bauern Schutz vor ihnen bei ihren Herren. Kolonen gerieten so in eine Situation, die der von Sklaven ähnlich war. Wo die Ausbeutung zu schroff und die Hoffnung auf eine Wende noch nicht ganz verschwunden war – in Afrika, Gallien und Spanien –, kam es zu Bauernaufständen. Diese internen Auseinandersetzungen wiederum beschleunigten den militärischen Zusammenbruch.1
Wenn in dieser Gesamtsituation das Denken überhaupt noch die Kraft hatte, den rein individuellen Ausstieg aus der allgemeinen Misere zu nehmen – den Weg der Wüstenväter – oder die Aufrechterhaltung einer brüchig gewordenen Kulturfassade – die Welt der Rhetorik – zu kritisieren, so musste es angesichts der allgegenwärtigen Unsicherheit dazu tendieren, Gewissheit, Wertfülle und richtiges Leben in eine jenseitige Welt bzw. in die Vorbereitung dafür zu verlegen. Wieweit sich diese Tendenz durchsetzte, wieweit sie in der Nachwirkung der antiken Philosophie und Wissenschaft noch aufzuhalten oder umzuformen war, dies muss für jeden Autor der christlichen Spätantike differenzierend untersucht werden.
2. Augustin
Die erste Konzeption des Christlichen (386–395)
Alle Schriften, die von AUGUSTIN († 430) erhalten sind, hat er nach seiner Taufe (Ostern 387) geschrieben. Aber die »Bekehrung«, die der Taufe vorausging (386), war nicht der einzige Umbruch in Augustins intellektueller Entwicklung. Seit er im Jahre 397 in einer dem Mailänder Bischof Simplician gewidmeten Schrift (Quaestiones ad Simplicianum) seine Gnadenlehre entwickelt hatte, sah er seine Veröffentlichungen des Jahrzehnts von 386 bis 396 als korrekturbedürftig an. Drei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte er eine Schrift mit dem Titel Revisionen (Retractationes). In ihr ging er sein literarisches Werk kritisch durch. Die Kritik am eigenen Werk war als Einführung in das Studium seiner Schriften gedacht; sie erfüllt diese Funktion noch heute. Denn sie legt sowohl die Vielfalt seiner Ansätze wie das Leitmotiv seiner letzten Entwicklungsphase offen. Dem am Mittelalter interessierten Leser gibt er damit einen Überblick über die Bandbreite der Möglichkeiten, die sich auf sein Werk berufen konnten.1
Augustin kritisiert an den Werken seiner Anfangszeit vor allem, in ihnen fehle die richtige Lehre von der Gnade, nämlich »Gnade« als unvorgreiflicher Akt des souveränen Gottes, der zum Heil und zum Unheil auswählt, wen er will, ohne auf die sittliche Willensqualität des zu Begnadenden zu achten. Damals habe er, Augustin, dem menschlichen Willen eine von der Gnade unabhängige Selbständigkeit zugesprochen. Er habe deswegen den Glauben als einen spontanen Anfang missverstanden, den der Mensch von sich aus setzen könne.
Im einzelnen beanstandete Augustin:
– Er habe die Philosophen zu hoch geschätzt.
– Er habe vom Himmelreich des...