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Mein Lebensgang

Vollständige Ausgabe

AutorRudolf Steiner
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl325 Seiten
ISBN9783849636678
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Die - nicht immer ganz glaubhafte - Autobiografie des österreichischen Anthroposophen und Esoterikers.

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Leseprobe

IV.


 


 

Für die Form des Geist-Erlebens, die ich damals in mir auf eine sichere Grundlage bringen wollte, wurde das Musikalische von einer krisenhaften Bedeutung. Es lebte sich zu dieser Zeit in der geistigen Umgebung, in der ich mich befand, der »Streit um Wagner« in der heftigsten Art aus. Ich hatte während meines Knaben- und Jugendlebens jede Gelegenheit benützt, um mein Musikverständnis zu fördern. Die Stellung, die ich zum Denken hatte, brachte das mit sich. Für mich hatte das Denken Inhalt durch sich selbst. Es bekam ihn nicht bloß durch die Wahrnehmung, die es ausdrückt. Das aber führte wie mit Selbstverständlichkeit in das Erleben des reinen musikalischen Tongebildes als solchen hinüber. Die Welt der Töne an sich war mir die Offenbarung einer wesentlichen Seite der Wirklichkeit. Daß das Musikalische über die Töne-Formung hinaus noch etwas »ausdrücken« sollte, wie es von den Anhängern Wagners damals in allen möglichen Arten behauptet wurde, schien mir ganz »unmusikalisch«.

 

Ich war stets ein geselliger Mensch. Dadurch hatte ich schon während meiner Schulzeit in Wiener-Neustadt und dann wieder in Wien viele Freundschaften geschlossen. In den Meinungen stimmte ich selten mit diesen Freunden zusammen. Das hinderte aber niemals, daß Innigkeit und starke gegenseitige Anregung in den Freundschaftsbündnissen lebte. Eines derselben ward mit einem herrlich idealistisch gesinnten jungen Manne geschlossen. Er war mit seinen blonden Locken, mit den treuherzigen blauen Augen so recht der Typus des deutschen Jünglings. Der war nun ganz mitgerissen von dem Wagnertum. Musik, die in sich selbst lebte, die nur in Tönen weben wollte, war ihm eine abgetane Welt greulicher Philister. Was in den Tönen sich offenbarte wie in einer Art von Sprache, das machte für ihn das Tongebilde wertvoll. Wir besuchten zusammen manches Konzert und manche Oper. Wir waren stets verschiedener Meinung. In meinen Gliedern lagerte etwas wie Blei, wenn die »ausdrucksvolle Musik« ihn bis zur Ekstase entflammte; er langweilte sich entsetzlich, wenn Musik erklang, die nichts als Musik sein wollte.

 

Die Debatten mit diesem Freunde dehnten sich ins Endlose aus. Auf langen Spaziergängen, in Dauersitzungen bei einer Tasse Kaffee führte er seine in begeisterten Worten sich aussprechenden »Beweise« durch, daß mit Wagner eigentlich erst die wahre Musik geboren worden sei, und daß alles Frühere nur eine Vorbereitung zu diesem »Entdecker des Musikalischen« sei. Mich brachte das dazu, meine Empfindung in recht drastischer Art zur Geltung zu bringen. Ich sprach von der Wagnerschen Barbarei, die das Grab alles wirklichen Musikverständnisses sei.

 

Besonders heftig wurden die Debatten bei besonderen Gelegenheiten. Es trat bei meinem Freund eines Tages der merkwürdige Hang ein, unseren fast täglichen Spaziergängen die Richtung nach einem engen Gäßchen zu geben, und mit mir da, Wagner diskutierend, oft viele Male auf- und abzugehen. Ich war in unsere Debatten so vertieft, daß mir erst allmählich ein Licht darüber aufging, wie er zu diesem Hang gekommen war. Am Fenster eines Hauses dieses Gäßchens saß um die Zeit unserer Spaziergänge ein anmutiges junges Mädchen. Es gab für ihn zunächst keine andere Beziehung zu dem Mädchen als die, daß er es am Fenster fast täglich sitzen sah und zuweilen das Bewußtsein hatte, ein Blick, den es auf die Straßen fallen ließ, gelte ihm.

 

Ich empfand zunächst nur, wie sein Eintreten für Wagner, das auch sonst schon feurig genug war, in diesem Gäßchen zur hellen Flamme aufloderte. Und als ich darauf kam, welche Nebenströmung da immer in sein begeistertes Herz floß, da wurde er auch nach dieser Richtung mitteilsam, und ich wurde der Mitfühlende bei einer der zartesten, schönsten, schwärmerischsten Jugendliebe. Das Verhältnis kam nicht viel über den geschilderten Stand hinaus. Mein Freund, der aus einer nicht mit Glücksgütern gesegneten Familie stammte, mußte bald eine kleine Journalistenstelle in einer Provinzstadt antreten. Er konnte an keine nähere Verbindung mit dem Mädchen denken. Er war auch nicht stark genug, die Verhältnisse zu meistern. Ich blieb noch lange mit ihm in brieflicher Verbindung. Ein trauriger Nachklang von Resignation tönte aus seinen Briefen heraus. In seinem Herzen lebte das fort, von dem er sich hatte trennen müssen.

 

Ich traf, nachdem das Leben lange schon dem Briefverkehr mit dem Jugendfreunde ein Ende bereitet hatte, mit einer Persönlichkeit aus der Stadt zusammen, in der er seine Journalistenstellung gefunden hatte. Ich hatte ihn immer lieb behalten und frug nach ihm. Da sagte mir die Persönlichkeit: »Ja, dem ist es recht schlecht ergangen; er konnte kaum sein Brot verdienen, zuletzt war er Schreiber bei mir, dann starb er an einer Lungenkrankheit.« Mir schnitt diese Mitteilung ins Herz, denn ich wußte, daß der idealistische blonde Mann sich von seiner Jugendliebe dereinst unter dem Zwange der Verhältnisse mit dem Gefühle getrennt hatte, es sei für ihn gleichgültig, was ihm das Leben ferner noch bringen werde. Er legte keinen Wert darauf, sich ein Leben zu begründen, das doch nicht so sein konnte, wie es als ein Ideal ihm bei unseren Spaziergängen in dem engen Gäßchen vorschwebte.

 

Im Verkehr mit diesem Freunde ist mein damaliges Anti-Wagnertum nur eben in starker Form zum Ausleben gekommen. Aber es spielte in dieser Zeit auch sonst eine große Rolle in meinem Seelenleben. Ich suchte mich nach allen Seiten in das Musikalische, das mit Wagnertum nichts zu tun hatte, hineinzufinden. Meine Liebe zur »reinen Musik« wuchs durch mehrere Jahre; mein Abscheu gegen die »Barbarei« einer »Musik als Ausdruck« wurde immer größer. Und dabei hatte ich das Schicksal, daß ich in menschliche Umgebungen kam, in denen fast ausschließlich Wagner-Verehrer waren. Das alles trug viel dazu bei, daß es mir – viel – später recht sauer wurde, mich bis zu dem Wagner-Verständnis durchzuringen, das ja das menschlich Selbstverständliche gegenüber einer so bedeutenden Kulturerscheinung ist. Doch dieses Ringen gehört einer spätern Zeit meines Lebens an. In der hier geschilderten war mir z.B. eine Tristanaufführung, in die ich einen Schüler von mir begleiten mußte, »ertötend langweilig«.

 

In diese Zeit fällt noch eine andere für mich bedeutsame Jugendfreundschaft. Die galt einem jungen Manne, der in allem das Gegenteil des blondgelockten Jünglings darstellte. Er fühlte sich als Dichter. Auch mit ihm verbrachte ich viel Zeit in anregenden Gesprächen. Er hatte große Begeisterung für alles Dichterische. Er machte sich frühzeitig an große Aufgaben. Als wir bekannt wurden, hatte er bereits eine Tragödie »Hannibal« und viel Lyrisches geschrieben.

 

Mit beiden Freunden zusammen war ich auch bei den »Übungen im mündlichen Vortrag und schriftlicher Darstellung«, die Schröer an der Hochschule abhielt. Davon gingen für uns drei und noch für manchen Andern die schönsten Anregungen aus. Wir jungen Leute konnten, was wir geistig zustande brachten, vortragen, und Schröer besprach alles mit uns und erhob unsere Seelen durch seinen herrlichen Idealismus und seine edle Begeisterungsfähigkeit.

 

Mein Freund begleitete mich oft, wenn ich Schröer in seinem Heim besuchen durfte. Da lebte er immer auf, während sonst oft ein schwer wirkender Ton durch seine Lebensäußerungen ging. Er wurde durch einen innern Zwiespalt mit dem Leben nicht fertig. Kein Beruf reizte ihn so, daß er ihn hätte mit Freude antreten wollen. Er ging in dem dichterischen Interesse ganz auf und fand außer diesem keinen rechten Zusammenhang mit dem Dasein. Zuletzt wurde nötig, daß er eine ihm gleichgültige Stellung annahm. Ich blieb auch mit ihm in brieflicher Verbindung. Daß er an seiner Dichtkunst selbst nicht eine wirkliche Befriedigung erleben konnte, wirkte zehrend an seiner Seele. Das Leben erfüllte sich für ihn nicht mit Wertvollem. Ich mußte zu meinem Leid erfahren, wie nach und nach in seinen Briefen und auch bei Gesprächen immer mehr sich bei ihm die Ansicht verdichtete, daß er an einer unheilbaren Krankheit litte. Nichts reichte hin, um diesen unbegründeten Verdacht zu zerstreuen. So mußte ich denn eines Tages die Nachricht empfangen, daß der junge Mann, der mir recht nahe stand, seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe.

 

Recht innige Freundschaft schloß ich damals mit einem jungen Manne, der aus dem deutschen Siebenbürgen nach der Wiener technischen Hochschule gekommen war. Auch ihn hatte ich in Schröers Übungsstunden zuerst getroffen. Da hat er einen Vortrag über den Pessimismus gehalten. Alles, was Schopenhauer für diese Lebensauffassung vorgebracht hat, lebte in diesem Vortrage auf. Dazu kam die eigene pessimistische Lebensstimmung des jungen Mannes. Ich erbot mich, einen Gegenvortrag zu halten. Ich »widerlegte« den Pessimismus mit wahren Donnerworten, nannte schon damals Schopenhauer ein »borniertes Genie« und ließ meine Ausführungen in dem Satze gipfeln, »wenn der Herr Vortragende mit seiner Darstellung über den Pessimismus recht hätte, dann wäre ich lieber der Holzpfosten, auf dem meine Füße stehen, als ein Mensch.« Dieses Wort wurde lange spottend in meinem Bekanntenkreise über mich wiederholt. Aber es machte den jungen...

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