Die Gemeinde nach dem Scheitern der Gemeindetheologie1
Perspektiven einer zentralen Sozialform der Kirche
von Rainer Bucher2
„Im Plural der pastoralen Orte lässt sich die Rede von Gott nicht mehr allein von ihren eigenen Erwartungen und Perspektiven her gestalten. Sie kann sich hier nicht auf Utopien beschränken, die sie von sich her gebiert und zu denen sich der Fortschritt in der Darlegung des Glaubens aufzumachen hat. Diese Darlegung wird vielmehr dazu geführt, sich selbst das Unausgesprochene, Unbewältigte, Prekäre dieser Orte sagen zu lassen.“
Hans-Joachim Sander3
I. Einige Abgrenzungen und Definitionen
Die jüngste pastoraltheologische Diskussion um die „Gemeinde“ ist bekanntlich nicht nur sehr lebendig, sondern auch argumentativ ausgesprochen extensiv verlaufen.4 Den großen Hoffnungen, mit denen die Gemeindetheologie nach dem Konzil ans Werk ging, entsprechen Engagement und Emotionen, welche ihre aktuelle pastoraltheologische Problematisierung5 freisetzt. Verständlich ist diese Virulenz allemal, zumal gleichzeitig, wenn auch mehr oder weniger unabhängig davon, die damals angestrebte Gemeindeverfassung der katholischen Kirche in den aktuellen Umbauprozessen ihrer Basisstruktur6 de facto zunehmend aufgelöst wird.
Diese oft lebensgeschichtlich tief eingeschriebene Brisanz des Themas hat zu einem Diskussionsverlauf geführt, der es nahe legt, einige thematische Verknüpfungen, in welche die Gemeindeproblematik dabei eingewoben wurde, zu lösen. Diese Verknüpfungen sind ohne Zweifel möglich, aber meines Erachtens im Ganzen dann doch eher hinderlich. Konkret betreffen sie die Frage der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt, jene des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft in christlicher religiöser Praxis sowie auch die Frage nach der notwendigen Verortung kirchlicher Pastoral in der räumlichen Fläche.
1. Das Problem der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt
Ohne Zweifel sind die gegenwärtigen Zulassungsbedingungen zum katholischen Amtspriestertum ausgesprochen problematisch, vor allem unter Gerechtigkeits-, Qualitäts- und amtstheologischen Gesichtspunkten. Die Gemeindeproblematik dürfte aber kein geeigneter Hebel sein, um hier relevanten Veränderungsdruck aufzubauen. Das Konzept „Gemeinde“ als eine kommunikativ verdichtete, überschaubare Lebens-, und Glaubens-, ja „Schicksalsgemeinschaft“7 unter priesterlicher Leitung ist innerkatholisch viel zu jung, um als Gegengewicht gegen jene alten und vor allem sozialpsychologisch tief eingeschriebenen Traditionen anzukommen, die das Priestertum dem unverheirateten Mann reservieren. Die „Gemeinde“ existiert ja selbst im CIC 1983 nur in ihrer rechtlichen Verfasstheit als „Pfarrei“8 – und ist im CIC 1983 ein höchst flexibles Instrumentarium bischöflicher Raumordnung.9 Zudem handelt es sich beim Priestermangel, weltkirchlich und schon innereuropäisch gesehen, um eine ausgesprochen relative Wahrnehmung.
Die Seelsorgeämter drehen denn auch genau an diesen beiden Stellschrauben, um den potentiellen Veränderungsdruck auf die Zulassungsbedingungen zu verringern: Sie holen ausländische Priester und/oder vergrößern die priesterlichen Zuständigkeitsräume. Damit steht also ein relativ neues und rechtlich wenig gesichertes Konzept gegen eine politische Realität, die dieses Konzept bei einiger organisationsentwicklerischer Virtuosität, und die haben sich die Seelsorgeämter mittlerweile erarbeitet, ganz erfolgreich umspielen kann. Politisch ist das eine ganz und gar unbefriedigende Situation: Der einklagende pastoraltheologische Diskurs steht gegen institutionelle Macht und Raffinesse. Der Diskurs gewinnt da selten. Zumal, aber darauf wird noch einzugehen sein, die gemeindlichen Mauern nicht nur von außen durch die Seelsorgeämter, sondern eben auch von innen durch die Katholikinnen und Katholiken selbst gesprengt wurden.
Zudem: Die für unsere Kirche wahrscheinlich existenzentscheidende Frage, wie ein amtstheologisch, pastoral und nicht zuletzt personal verantwortbarer Entwicklungspfad des katholischen Amtspriestertums nach der Auflösung der sanktionsgestützten „Konstantinischen Formation“ der Kirche ausschauen könnte, wie also das katholische Amtspriestertum nach seiner für dieses lange typischen und lange funktionierenden Kopplung von Spiritualität und Macht konzipiert werden könnte, diese völlig offene Frage scheint mir mit der Verlängerung jenes letztlich paternalistischen Amtskonzepts, wie es die Gemeindetheologie vertritt10, nicht wirklich beantwortet zu sein.11
2. Die Polarität von Individualität und Vergemeinschaftung im Christentum
Das zentrale ekklesiale Problem der Pianischen Epoche war strukturell die mangelnde Freiheit und material die praktisch unmögliche Identifikation des Eigenen im Außen des Eigenen. Das zentrale Problem der kirchlichen Gegenwart, zumindest in unseren Breiten, ist strukturell die Schwierigkeit von Gemeinschaft und material die Setzung der Differenz des Eigenen innerhalb des allgemein Religiösen. War in der Pianischen Epoche die Gemeinschaft des Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die Freiheit das Unselbstverständliche, so ist heute die Freiheit vom Kirchlichen die Selbstverständlichkeit und die kirchliche Gemeinschaft das Unselbstverständliche.
Scheiterte die Kirche in der Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus letztlich an ihrer Unfähigkeit, das Eigene im Außen des Eigenen zu entdecken und etwa in den Menschenrechten zu identifizieren, so ist heute ihr Problem, wie sie die Differenz des Eigenen in der Gleichzeitigkeit des religiös diffusen Allgemeinen darstellen kann, ohne dabei in jene soziale Codierung der Innen-Außen-Differenz zu verfallen, wie sie der extra ecclesiam nulla salus-Spruch formulierte und die vorkonziliare Realität sozial-moralisch inszenierte. Denn genau das geht nicht mehr: Die, die es versuchen, also alles rechts vom konziliaren Verfassungsbogen der Kirche, beweisen es aufs Unschönste.
Die Alternative lautet also nicht: religiöser Individualismus versus gemeindliche Vergemeinschaftung.12 Denn die Freigabe zu religiöser Selbstbestimmung auch für Katholiken und Katholikinnen ist eine soziale Tatsache, im Übrigen eine erst einmal ausgesprochen erfreuliche. Es geht vielmehr darum, wie heute noch ekklesiale Sozialität möglich ist und dies jenseits ihrer autoritativen Einforderung durch die Propagierung quasi-selbstverständlicher Sozialformen von Kirche, diesseits aber auch einer situativ vergemeinschaftenden Event-Orientierung13, wie sie von der Spitze der Kirche bis an die kirchliche Basis weiter verbreitet sein dürfte, als der offizielle Diskurs vermuten lässt.
Das Christentum kennt von seinen Anfängen her die Spannung von konstitutiver Gemeinschaftlichkeit und unvertretbarer Individualität vor Gott. Koinobiten und Anachoreten, der zölibatäre Priester und die Familie als Ekklesiola, Paulus in seinem unvertretbaren Damaskuserlebnis und die frühe judenchristliche Jerusalemer Gemeinde oder auch der Papst, der ex sese unfehlbare ex cathedra-Entscheidungen fällen kann, aber doch nur, wenn er den Glauben der Kirche auslegt: Das Christentum ist in der Spannung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit situiert – und nicht an einem dieser Pole.
3. Die Notwendigkeit der Kirche, „vor Ort“ zu sein
Eine dritte Klarstellung. Ein Teil der bisherigen Diskussion lief unter dem recht missverständlichen Label: „Verörtlichung des Glaubens“.14 Dieses Label ist in zweifacher Weise unglücklich: Zum einen ist der Ortsbegriff innertheologisch mit Melchior Canos Lehre von den „loci theologici“15 als Lehre von der „Pluralität von Orten, an denen Theologie die Autorität des Glaubens in der Geschichte darstellen kann“16, belegt, eine Lehre, die man übrigens im Kontext der anstehenden Gemeindediskussion wird durchaus gut gebrauchen können. Zum anderen hat Michael Ebertz natürlich Recht, wenn er auf den Vorwurf der „Virtualisierung des Glaubens“17 mit dem Hinweis antwortet, es gehe vielmehr um die notwendig gewordene „Neustrukturierung und Pluralisierung der pastoralen Orte“18, und „transitorische Orte“ seien dies „ohnehin“19 allesamt.
Der harte Kern dieses Diskussionsstrangs dürfte die Frage nach dem Territorialprinzip sein, verstanden als flächendeckende Zuständigkeit bzw. Identifizierbarkeit pastoraler Orte im territorial verstandenen Raum.20 Ich plädiere, um das vorwegzunehmen, nachdrücklich dafür, das Territorialprinzip längstmöglich aufrecht zu erhalten. Realisiert es Kirche als wahrnehmungssensible Angebotsstruktur, zwingt das so verstandene Territorialprinzip die Kirche hinein in die Gesellschaft, verringert es tatsächlich die Gefahr, den „Zeichen der Zeit“21 auszuweichen, und kann es helfen, den Selbstabschluss kirchlicher Sozialräume zu verhindern. Es wäre dann ein starkes Signal diakonischer Selbstanbietung der Kirche an und für alle.22
4. „Gemeindetheologie“: Ein analytischer Begriff
Schuldig bin ich freilich noch eine Bestimmung dessen, was ich unter „Gemeindetheologie“ verstehe. Ich möchte diesen Begriff analytisch fassen und historisch verorten. Petro Müller etwa, um ihn hier einmal zustimmend zu zitieren, fasst das, was Paul Weß in der Wiener Machstraße initiierte, in den programmatischen Satz zusammen: „Überschaubare Gemeinschaften mündiger Christen sollten die anonymen Pfarrstrukturen aufbrechen und an ihre...