1. Wie alles begann
Marianne
Mein Vater war ein angesehener Beamter, ein „Diener des Staates“, wie er sich immer stolz bezeichnete. Meine Eltern, meine Schwester Sybille und ich lebten in einem kleinen Reihenhaus nahe Hamburg. Vater legte stets viel Wert darauf, dass die Fenster blank geputzt waren und im Vorgarten kein Unkraut wuchs. Alle Hausarbeiten erledigte meine Mutter, so gehörte es sich in den sechziger Jahren. Der Mann ging arbeiten, und die Frau kümmerte sich um die Kinder, Haus und Garten. Meine Schwester Sybille konnte ich nicht leiden. Sie schien alle beliebten Wesenszüge zu haben, die ich nicht hatte. Außerdem war sie sehr hübsch und dünn, was meinen Vater besonders mit Stolz erfüllte. Vielleicht, so denke ich heute aus der Sicht einer erwachsenen Frau, wäre das Verhältnis zu ihr heute ein besseres, wenn sie mir nicht früher immer als glänzendes Vorbild vorgehalten worden wäre.
Meine ersten negativen Erfahrungen sind mit Essen, genauer: mit dem gemeinsamen Essen am Familientisch verbunden. Ich erinnere mich gut, dass mein Vater außer sich vor Zorn war, wenn ich meinen Teller nicht leer aß. Wenn ich wagte zu sagen, dass ich keinen Hunger mehr hatte oder bald „platzte“, wurde ich in mein Zimmer geschickt. Ich beeilte mich dann immer, vom Esstisch aufzustehen und in mein Zimmer zu gehen. Dort fühlte ich mich vor Vaters ständigen Nörgeleien und Maßregelungen sicher. Meine Mutter schritt nicht ein. Natürlich weiß ich heute, dass sie einfach nicht den Mut hatte, sich über meinen Vater hinwegzusetzen. Sie gab mir immer nur zu verstehen, dass es mein Vater früher nicht leicht hatte. Ich war damals vielleicht acht, neun Jahre alt und hatte natürlich keine Ahnung, was sie damit meinte. Wir lebten ja nicht schlecht. Aber all ihre Erklärungen für das Verhalten meines Vaters blieben unklar. „Weißt du, Marianne, dein Vater ist eine wichtige Person auf dem Amt. Aber er kann nicht einfach tun, was er will. Darum ist es ihm wichtig, dass alle Menschen immer nur das Beste über ihn denken.“ Ich wurde aus Mutters Worten nicht schlau. „Aber Mutter, die Menschen sehen doch nicht, ob ich meinen Teller leer gegessen habe oder nicht.“ Daraufhin hörte ich immer nur den Satz: „Ach, Marianne, das verstehst du nicht.“ Richtig, ich verstand es nicht. Jetzt, als erwachsene Frau, beginne ich erst langsam zu begreifen, was sie damals mit diesem Satz meinte. Dass sie Vater gegenüber hilflos war und sich nicht gegen ihn wehren konnte. Dass sie mich mit diesem Verhalten alleine ließ – schutzlos – das könnte ich ihr natürlich heute vorwerfen. Daran denke ich oft, wenn ich meinen Sohn betrachte. War es meiner Mutter nicht bewusst, was sie tat? Sie verriet ihr eigenes Kind.
Wenn wir ins Kino gingen oder irgendwo eingeladen waren, musste ich immer aussehen wie eine Prinzessin. Niemals duldete mein Vater einen Riss oder Flecken auf meiner Kleidung. Wenn andere Kinder miteinander auf dem Spielplatz tobten, stand ich abseits, aus Angst, mich schmutzig zu machen. Das Allerschlimmste war für mich, dass ich bei jeder Gelegenheit essen musste. „Essen ist ein Zeichen des Wohlstands“, pflegte mein Vater zu sagen. Ich musste essen, bis ich fast platzte. Wir frühstückten zum Beispiel jeden Morgen um viertel vor Sieben – auch samstags und sonntags. Vater interessierte es nicht, ob ich müde war und ausschlafen wollte. Nein, ich musste früh aufstehen und frühstücken. Wieder musste ich Unmengen essen. Jeden Mittag, nach der Schule oder am Wochenende, gab es ein reichliches Mahl – ob ich hungrig war oder nicht. Jeden Nachmittag, Punkt halb Fünf, wenn Vater aus dem Büro kam, gab es eine Tasse Kakao und Kuchen. Es war Vater egal, ob ich gerade Hausaufgaben machte, mit Freunden spielte oder im Schwimmbad war. Ich musste nach Hause kommen und essen. Das verstehe ich bis heute nicht. Normalerweise wacht die Mutter über die Hausaufgaben und sollte ihr Kind liebevoll unterstützen. Aber nein, das Essen war wichtiger. Jeden Abend, genau sieben Uhr, gab es Abendbrot. Ich glaube, ich brauche nicht erwähnen, dass mein Vater nicht fragte, ob ich hungrig sei. Nein, ich musste zu Abend essen, und zwar reichlich.
Ich erinnere mich an einen Morgen in der Schule. Wir schrieben das Jahr 1976, ich war zehn Jahre alt. Uns wurde Dr. Werner vorgestellt, der gekommen war, um alle Schüler zu untersuchen. Wir wurden abgehört, vermessen und gewogen. Der Doktor war zu mir besonders streng, er stellte fest, dass ich für mein Alter fünf Kilogramm zu viel wog. Ich war 131 Zentimeter groß und die Waage zeigte 38 Kilogramm. Er gab mir ein Schreiben für meine Eltern mit. Natürlich wusste ich nicht, was drin stand, aber ich ahnte, dass es nichts Gutes bedeutete. Mit einem mulmigen Gefühl ging ich an diesem Tag nach Hause. Mutter wartete mit dem Essen auf mich. Sie merkte wohl, dass ich etwas auf dem Herzen hatte, und fragte mich: „Hast du schlechte Noten mit nach Hause gebracht, oder warum schaust du so?“ Ich übergab ihr wortlos den Brief vom Doktor und schaute sie ängstlich an. Meine Mutter las den Brief und sagte dann: „Hier steht, dass du übergewichtig bist.“ Daraufhin schaute sie mich streng an und fragte mich allen Ernstes: „Wieso bist du übergewichtig?“
Es war so ungerecht, dass es mich bis heute wurmt. Als Kind hatte ich natürlich keine Antwort darauf. Dann sagte sie mir, dass ich warten solle, bis mein Vater nach Hause käme. Das klang nicht nur wie eine Drohung, es war eine. Ich hatte immer mehr das Gefühl, etwas Schlimmes verbrochen zu haben. Als Vater (wie immer pünktlich halb fünf) nach Hause kam, zog meine Mutter ihn gleich ins Wohnzimmer, wo sie hinter verschlossener Tür miteinander sprachen. Ihre Stimmen wurden lauter, und ich glaube, sie stritten sich. Nach einer Weile kamen sie mit hochrotem Kopf aus dem Wohnzimmer und schoben mich in die Küche. Mein Vater setzte sich mir gegenüber und sagte: „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, übergewichtig zu werden. Deine Schwester Sybille ist es nicht, natürlich hat sie sich besser im Griff. Aber ich sehe nicht ein, mich schon wieder über dich aufzuregen. Wir werden gleich morgen zu Dr. Werner fahren und er wird dir sicher eine Diät verordnen. Es kann nicht sein, dass meine Tochter aus der Norm fällt und übergewichtig ist! Eine solche Schande kann und will ich nicht akzeptieren, verstehst du das?“
„Nein“, antwortete ich. Diese ehrliche Antwort wurde mir als Frechheit ausgelegt, und mein Vater verlangte, mich zu fügen. Ich war verzweifelt. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich verbrochen hatte. Ich ahnte nur, dass es schlimm war, warum sonst reagierte Vater so? Ich begriff nicht, was meine Schwester damit zu tun hatte. Was bedeutete es, dass sie sich „im Griff“ hatte und ich mich nicht? Sybille war zwei Jahre älter als ich und im Grunde das genaue Gegenteil von mir. Sie war lang und dünn und immer fröhlich. Ich höre heute noch ihr Lachen, das schier den ganzen Tag durch das Haus hallte. Ich dagegen war immer irgendwie traurig. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht so hübsch und lustig war wie Sybille. Nun wurde sie mir vorgehalten. Das tat weh. Ich beschloss, abzuwarten, was Dr. Werner morgen sagte. Vielleicht konnte er mir erklären, was los ist.
Dr. Werner war ein netter Arzt. Er gab uns Kindern nach jeder Behandlung ein paar Bonbons in die Hand. Er wog mich ebenfalls und stellte allerlei Untersuchungen mit mir an. Er kratzte sich am Kinn und sagte zu meinen Eltern:
„Ja, ich kann es nur bestätigen. Die Kleine ist zu dick.“
Aha – zu dick. Jetzt wusste ich wenigstens, was los ist.
„Und was macht man, wenn man zu dick ist?“, fragte ich Dr. Werner.
„Nun, dann muss man abnehmen.“
„Was ist abnehmen?“, fragte ich ahnungslos.
Er erklärte mir, dass ich jetzt nicht mehr viel essen dürfte und nur Sachen, die nicht dick machen.
„Warum?“
„Weil du sonst nicht gesund sein kannst“, antwortete er.
„Bist du auch nicht gesund, Doktor Werner?“, fragte ich ihn arglos.
Klatsch – schon hatte ich mir eine Ohrfeige von meinem Vater eingefangen. „Aber Dr. Werner ist doch dick“, rief ich aufgebracht und rieb mir die brennende Wange. Klatsch – die zweite Ohrfeige. Auf die andere Wange. Ich fing an zu heulen, während sich mein Vater bei Dr. Werner für mein Benehmen entschuldigte. Diese Ungerechtigkeit konnte ich nicht begreifen. Dr. Werner zog ein dickes Bündel Papier aus seiner Schublade und überreichte es meinen Eltern. Es war der Diätplan – wobei ich natürlich damals mit diesem Wort überhaupt nichts anfangen konnte. Er wies meine Eltern an, den Diätplan so lange einzuhalten, bis ich die fünf Kilogramm Übergewicht wieder los war. Ich sehe noch, wie mein Vater ehrfürchtig das dicke Bündel Papier in Empfang nahm und dann einen kleinen Diener machte. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Leise fragte er den Doktor: „Wir können doch mit Ihrer Diskretion rechnen? Ich meine – es...