„Die meisten Menschen werden in Organisationen geboren und in Organisationen ausgebildet, sie arbeiten in Organisationen, verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit in Organisationen, und schließlich sterben sie in Organisationen und werden von Organisationen zu Grabe getragen. Alle diese Organisationen [...] sind zweckgerichtete soziale Gebilde. Sie verfügen über ein System von Regeln, das das Verhalten der in ihr tätigen und mit ihnen in Berührung kommenden Menschen steuert.“ (Kieser/Kubicek 1992, S. III).
Doch wie werden diese Regeln erbracht und, um es für die Fragestellung der Arbeit zu präzisieren, wie verändern sich diese Regeln in Zeiten des organisatorischen Wandels? Ein theoretischer Ansatz, der sich mit der Herausbildung sozialer Regeln des Zusammenlebens in Organisationen (und deren Rückbezug auf das Handeln) beschäftigt, ist das Konzept der Mikropolitik[13]. Die Mikropolitik ist kein einheitliches, geschlossenes Gebilde, sondern erfährt fortwährend Erweiterungen (Ortmann 1995) und ist weder in ihren Begrifflichkeiten, noch ihrer Ausrichtung unumstritten (Neuberger 1995, 1996, Gebert 1996). Nach einer kurzen theoretischen Einordnung (Kap. 2.2) wird dieses ambivalente Konzept anhand kurzer Begriffsdefinitionen (Kap. 2.3) eingerahmt, die Entwicklung (Kap. 2.4) und die Diskussion um Mikropolitik (Kap. 2.5) mit ihren jeweiligen Standpunkten nachgezeichnet (Kap. 2.6). Anschließend werden die zentralen Überlegungen des mikropolitischen Ansatzes anhand der Kernbegrifflichkeiten »Akteur« (Kap. 2.7.1), »Macht« (Kap. 2.7.2) und »Spiel« (Kap. 2.7.3) kritisch dargestellt.
Organisationen werden üblicherweise als rational konzipierte und steuerbare Systeme beschrieben (Picot u.a. 1999a u. b). Eine Reihe von Autoren richten ihr Augenmerk jedoch auf die Frage, wie Organisationen jenseits von Ablaufplänen und Organigrammen funktionieren können (Crozier/Friedberg 1979, Weick 1985, Kieser 1998).[14] Der (mikro-) politische Ansatz stellt dem funktionalen (hierarchisch plan- und steuerbaren) Organisationsverständnis eine handlungsorientierte Perspektive gegenüber, bei der Macht(kämpfe), Interessen, Konflikte, Aushandlungsprozesse und Intransparenz eine zentrale Rolle spielen.
„Das Politikmodell sieht die Organisation als Netzwerk von individuellen und kollektiven Akteuren, die jeweils subjektive oder bereichsbezogene, nicht notwendigerweise kompatible oder konsensierte Interessen verfolgen.“ (Elsik 1998, S. 27).
Abb. 4: Hierarchische gegenüber mikropolitischer Struktur, eigene Darstellung.
Mikropolitik ist ein organisationstheoretisches Konzept, welches die Existenz unterschiedlicher Interessengruppen und deren Beziehungen zueinander in ihrer Theorie verankert. Ihren Ursprung und heutige Beachtung hat die Mikropolitik vor allem der strategischen Organisationsanalyse von Michel Crozier und Erich Friedberg 1979 (unveränderte Neuauflage 1993) zu verdanken,[15] auf die sich auch die Analyse des Fallbeispiels (Kap. 3) bezieht. Friedberg fasst den Grundgedanken der strategischen Organisationsanalyse zusammen:
„In seinen Überlegungen geht der Ansatz von der empirischen Feststellung aus, daß den Akteuren Spielräume zur Verfügung stehen, und daß sie ihr Verhalten nach Opportunitätsgesichtpunkten unter einer mehr oder weniger breit gefächerten Skala von möglichen Verhaltensweisen auswählen. [...] Ihre Rationalität und Entscheidungsfähigkeit sind vorstrukturiert durch ihre Zugehörigkeit zu [...] organisatorischen Kulturen. Ihre Handlungsfähigkeit ist andererseits eingeengt durch die materiellen und sozialen Bedingungen, die in ihrem Handlungsfeld herrschen.“ (Friedberg 1995, S. 8).
Damit wird zugleich auf das Spannungsfeld verwiesen innerhalb dessen sich der Ansatz von Crozier/Friedberg bewegt: Akteur und System – L’Acteur et le Système (so der Titel des franz. Originals von 1977)[16]. Das „essayistische, organisationssoziologisch orientierte“ (Freudenberg 1999, S. 11) Konzept der strategischen Organisationsanalyse zielt nicht auf den Entwurf einer allumfassenden Organisationstheorie, sondern auf ein neues Verständnis in der Organisationssoziologie mit Hilfe der Synthese von Akteur und System (Brentel 2000, S. 92). Organisationen sollen nicht länger als spezifisches, rationales Objekt im Sinne Webers Bürokratietheorie, sondern als das Ergebnis kollektiven Handelns verstanden werden. Macht (Kap. 2.7.2) erhält als Tauschbeziehung strategisch handelnder Akteure (Kap. 2.7.1) eine zentrale Bedeutung. Das Spiel (Kap. 2.7.3) als Modell von Handlungsspielraum und Zwangsregeln wird dabei zur Form der Kooperation der Akteure untereinander erklärt.
Der mikropolitische Ansatz wird in der wissenschaftlichen Literatur sowohl von sozialwissenschaftlicher (bspw. Crozier/Friedberg 1979), als auch von betriebswirtschaftlicher Seite bearbeitet (Ortmann u.a. 1990, Schirmer 2000). Es geht dabei immer um Politik in Organisationen. Damit ist nach Elsik der Ansatz vor allem durch zwei Merkmale gekennzeichnet (1999, S. 76): Der Abwendung vom Rationalmodell der Organisation und der Fokussierung auf die Machtbeziehungen der Akteure untereinander.
„Der mikropolitische Ansatz ist einem handlungstheoretischen Paradigma verpflichtet, wonach Personen versuchen, in ihren Handlungen ihre Interessen und Absichten zu verwirklichen.“ (Spieß/Winterstein 1999, S. 88).
Damit ließe sich Mikropolitik den verhaltenswissenschaftlichen[17] Erklärungsansätzen zuordnen. Bei verhaltenswissenschaftlichen Erklärungsmodellen geht es um die Fragen: Wie verhalten sich Menschen in Organisationen und welchen Einfluss hat die Organisationsstruktur auf das Zustandekommen von Entscheidungen? Die Theorie der Verhaltenswissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass „[...] sie die Entscheidungsprozesse nicht als Entscheidungslogik, sondern als menschliches Entscheidungsverhalten begreift.“ (Kieser 2001, S. 133). Zusammenfassend geht es bei verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen um die Frage, wie
„[...] rationale Organisationsentscheidungen von Individuen mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität unter der Bedingung komplexer und veränderlicher Umwelten, d.h. unter Unsicherheit, möglich sind.“ (Kieser 2001, S. 134).
Auch Kühl ordnet die Mikropolitik der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie zu (2001b, S. 201). Hentze beschreibt die Verhaltenswissenschaft selbst als eine sozialwissenschaftliche Theorie (1994, S. 37, ebenso Staehle 1999, S. 149ff.).
Daher lässt sich die Mikropolitik auch aufgrund ihrer starken Fokussierung auf die politischen und soziologischen[18] Aspekte einer Organisation als eine sozialwissenschaftliche Theorie einordnen.[19] Verhaltenswissenschaftlich orientierte Ansätze haben für Mikropolitik insofern Relevanz, dass sie die Besonderheit der Entscheidungen von Einzelakteuren in den Mittelpunkt stellen und das Modell der rationalen Entscheidung durch das Konzept der begrenzten Rationalität (Simon/Barnard 1976) sowie das Modell der Entscheidungsarenen (Cohen/March/Olsen 1972) in Frage gestellt wird (Bogumil/Schmid 2001, S. 31). Durch den Einbezug dieser Modelle verhaltenswissenschaftlicher Ausrichtung bietet sich die Möglichkeit, bisher vernachlässigte Aspekte der Organisationswirklichkeit zu thematisieren (Freudenberg 1999, S. 11). Sie sind von großem Wert bei der Frage nach mikropolitischem Verhalten in organisatorischem Wandel (vgl. Kap. 3.4).
Ein Grundproblem jeder Organisation, mit dem sich Mikropolitik befasst, ist die mögliche Differenz zwischen den Zielen der Person und der der Organisation.
„Wie ist es möglich, daß strategisch handelnde Akteure [...] zu einem partiellen Konsens finden und stabile soziale Strukturen errichten, die zur Etablierung manifester Verhaltensweisen führen? (Emergenzproblem, Anm. d. Verf.)[...] Woraus ergibt sich die Stabilität und Eigendynamik sozialer Strukturen, die durch Interaktion strategisch handelnder Akteure entstanden sind? [...] Wie läßt sich die Bindung der Akteure an soziale Strukturen erklären, deren Zwänge ihren manifesten Interessen zuwiderlaufen?“ (Integrationsproblem, Anm. d. Verf.) (Weyer 1993, S. 3).
Weyer fordert ein Konzept, das sich der Verknüpfung und dem Aufeinanderbeziehen von Mensch und Organisation, von Akteur und System widmet. Damit wird die Relevanz des Themas für die Sozialwissenschaften deutlich.
Im Gegensatz zur theoretischen Verortung herrscht bei der Definition des Begriffs Mikropolitik Einigkeit. Das Präfix Mikro verweist auf die Politik im Unternehmen im Unterschied zur Politik des Unternehmens (bspw. die Personalpolitik) (Freudenberg 1999, S. 14). Ortmann bezeichnet mit Mikro die Blickweise auf die organisatorische Innenpolitik (Ortmann 1988, S. 18.). Damit wird eine Unterscheidung politischen Handelns auf drei Ebenen getroffen: Makro-, Meso-, und...