Bonnie war keine außergewöhnliche Schönheit –
keine Faye Dunaway, so wie im Film –
aber sie war nett und sie war hübsch.
FLOYD HAMILTON7
| »Warum passiert hier eigentlich nie was?«
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I.
| Langeweile und Lebenshunger
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Lassen Sie uns mit dem Ende beginnen, mit dem Schmerz einer Mutter: »Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann wird mir immer klarer, dass sie trotz allem nur ein ganz normales Mädchen war, das das übliche Leben eines jungen Mädchens geführt hat – sie hatte nicht allzu viel Kummer und nicht allzu viel Freude. Ich würde sagen, sie war das, was man gewöhnlich als Mittelklasse bezeichnet. Da war absolut gar nichts, was sie besonders machte, nichts, was mich davor gewarnt hätte, dass sie dazu bestimmt war, einer schrecklichen Zukunft und einem grauenvollen und elenden Tod entgegenzugehen.«8 Wenige Monate nach Bonnies Tod interviewt Jan I. Fortune Bonnies Mutter Emma Parker für das erste Buch über Bonnie und Clyde. Da war aus dem ganz normalen Mädchen längst die berühmteste Gangsterbraut von Texas geworden, gejagt und schließlich zur Strecke gebracht von Polizei, FBI und einem willigen Verräter, immer begleitet von der Journaille, die ihren Teil dazu beitrug, die junge Frau im ganzen Land bekannt zu machen.
Als Bonnie Elizabeth Parker am 1. Oktober 1910 in Rowena, Texas, geboren wird, deutet tatsächlich nichts darauf hin, dass sie einmal für derartige Schlagzeilen sorgen wird. Texas hat damals knapp vier Millionen Einwohner. Wenig im Vergleich mit den heutigen 26 Millionen und doch eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass sich die Einwohnerzahl in den letzten 40 Jahren fast verfünffacht hatte. Lange Jahre war Texas vor allem Farmland gewesen, mit Farmen, die größer waren als so mancher deutsche Bundesstaat. Auch die Holzindustrie hatte eine nicht unwesentliche Rolle gespielt, doch alles in allem war es hier ruhig und beschaulich gewesen. Bis zu jenem 10. Januar 1901, als Anthony Francis Lucas, ein kroatischer Ingenieur aus Graz, auf dem Spindletop-Hügel bei Beaumont im Südosten von Texas den bis dato größten Ölfund in der US-Geschichte machte. Das von ihm entdeckte Ölvorkommen, das allein im ersten Jahr fast 3,5 Millionen Barrel Rohöl ausspuckte, war eine Weltsensation und löste einen wahren Ölrausch aus. Tausende Abenteurer strömten auf der Suche nach dem schwarzen Gold nach Texas. In der Folge entstanden Ölfirmen wie Texaco und Chevron, deren Raffinerien Tausende von Arbeiter nach Texas brachten. Sie blieben, selbst als der Ölrausch mit Beginn des Ersten Weltkrieges vorübergehend zum Erliegen kam. Da die texanischen Erdölvorkommen sehr tief liegen, konnten die wirklich großen erst ab 1926 mithilfe geeigneter Technik erschlossen werden. In den 1930er Jahren wurde Texas zum größten erdölproduzierenden Bundesstaat der USA und hatte entscheidenden Anteil daran, dass die USA von da an zwei Drittel der Weltförderung an Erdöl stellten.
Bonnies Geburtsstadt Rowena liegt mitten im fruchtbaren Farmland von Texas. Hier leben die meisten Menschen von der Landwirtschaft. Rowena ist eine noch junge Stadt in der Nähe von San Angelo, ganz in der westlichen Ecke von Zentraltexas. Vor der offiziellen Stadtgründung 1898 gab es hier nur eine Bahnstation der berühmtesten Eisenbahngesellschaft der USA, der ATSF (Atchison, Topeka & Santa Fe Railway), genannt »Santa Fe«. Deren Züge fuhren seit 1869 durch den Südwesten der USA und trugen entscheidend zur Erschließung des Westens bei. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es hier nicht allzu viele Siedler gegeben. Das Land gehörte den großen Viehherden, die auf ihrem Weg nach Kansas auch am späteren Rowena vorbeigetrieben wurden. Jetzt hatten sie den vielen Farmen Platz gemacht, und aus der kleinen Bahnstation war 1910 eine aufstrebende kleine Gemeinde mit 600 Einwohnern geworden, die sich zum Handelsplatz für die umliegenden Farmer entwickelte.
Die Bewohner sind vor allem deutsch- und tschechischstämmige Einwanderer, die im Zuge der großen Einwanderungswellen ins Land gekommen sind und sich vorwiegend im Mittleren Westen und den Great Plains niedergelassen haben. Sie sind den Anzeigen der Landgesellschaften gefolgt, die Neuankömmlingen eigenes Land und großen Ertrag versprochen haben. Tausende sind gekommen, haben der Prärie Land abgetrotzt und schuften sich nun krumm und bucklig für ein Auskommen, das zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Im Umland von Rowena bauen die Farmer vor allem Baumwolle an. Die kleine Stadt ist in vielerlei Hinsicht typisch für Texas. Ihre Bewohner sind fleißig und gottesfürchtig. Sie sehen in den Bestrebungen der Abstinenzbewegung, Alkohol zu verbieten, einen Angriff auf ihre Freiheit und betrachten Schilder mit Aufschriften wie »Nigger, lasst euch hier bloß nicht blicken« als etwas völlig Normales.
Bonnie ist das dritte von vier Kindern. Das erste Kind der Familie stirbt noch im Kindbett. Im Winter 1908 ist Hubert, genannt Buster, geboren. Ihm folgen 1910 Bonnie und im Dezember 1913 Nesthäkchen Billie Jean. Bonnies Vater Charles Parker ist Maurer. Seine Fertigkeiten sind weit über Rowena hinaus bekannt, und in einer Boomtown wie Rowena, in der neue Schulen, Ämter, Wohn- und Geschäftshäuser entstehen, ist er ein gefragter Mann. So verfügt er im Gegensatz zu den meisten seiner Nachbarn, die als Farmer von den Launen der Natur abhängig sind, über ein regelmäßiges Einkommen, worauf seine Frau Emma, geborene Krause, besonders stolz ist. Für die Tochter deutscher Einwanderer ist dies Grund genug, ihre Familie gesellschaftlich über die einfachen Landarbeiter zu stellen. Als engagiertes Mitglied der Baptistengemeinde trägt Emma das Ihre dazu bei, der Familie innerhalb der kleinen Gemeinschaft von Rowena hohes Ansehen zu verleihen. Sie hat ehrgeizige Pläne für ihre Kinder und ist voller Zuversicht, dass ihnen eine glänzende Zukunft bevorsteht. Wie Emma erzählt, gibt vor allem Bonnie schon von Kindesbeinen an Anlass zu berechtigter Hoffnung, auch wenn ihr manchmal nur schwer beizukommen ist: »Bonnie war ein absolutes Energiebündel. Sie war ein hübsches Baby mit blonden Locken, den blauesten Augen, die man je gesehen hat, und einem entzückenden kleinen, roten Mund. Aber kaum konnte sie laufen, hat sie schon irgendwas angestellt. Sie hat die ganze Familie auf Trab gehalten, ständig mussten wir sie aus irgendeiner Bredouille retten.«9
Das aufgeweckte Kind ist der Liebling der Familie. Ihr Charme macht Bonnie einfach unwiderstehlich. Als sie vier Jahre alt ist, macht sich ihr Onkel einen Spaß daraus, ihr das Fluchen beizubringen. Und während Bruder Buster für unflätige Worte stets die harte Hand des Vaters zu spüren bekommt, darf Bonnie ungestraft wie ein Müllkutscher fluchen. Gegen Bonnies smarten Augenaufschlag ist Charles Parker machtlos. Es bleibt Emma überlassen, Bonnie mit der Haarbürste zu drohen.
Bereits als kleines Mädchen versteht Bonnie es meisterhaft, sich in Szene zu setzen. In der Sonntagsschule hat die Dreijährige einen großen Auftritt, als sie zum Entsetzen der Anwesenden vorn am Pult voll Inbrunst einen der populärsten Schlager ihrer Zeit: »He’s A Devil in His Own Home Town«, von Irving Berlin, schmettert. Alle anderen Kinder haben artig ein Kirchenlied gesungen. Der ernsthafte Buster, der Bonnie in die Sonntagsschule mitgenommen hat, weigert sich von da an strikt, seine Schwester noch einmal irgendwohin zu begleiten. Er fühlt sich bloßgestellt, Bonnie findet’s lustig. Auch, dass eine Woche lang alle ausschließlich über sie reden, gefällt ihr ausgesprochen gut.
Die Parker-Kinder wachsen behütet und in einfachen, aber stabilen Verhältnissen auf. Doch im Dezember 1914 stirbt Charles Parker plötzlich und unerwartet – auch wenn sich hartnäckig das Gerücht hält, er habe die Familie verlassen und Emma Parker ihn deshalb für tot erklären lassen. Das Leben der kleinen Familie ändert sich nun schlagartig. Es fehlt der Ernährer und für eine alleinerziehende Mutter gibt es in Rowena nicht genug Arbeit, um eine vierköpfige Familie durchzubringen. Und wer soll sich in der Zwischenzeit um die Kinder kümmern? Buster ist als Ältester gerade einmal sechs Jahre alt. Nach anfänglicher Verzweiflung packt die 27-jährige Emma ihre Familie und das wenige, das sie besitzt, zusammen und zieht gen Osten. Sie will ihr Glück in Dallas versuchen, genauer gesagt in West Dallas. Dort, in der Arbeitersiedlung Cement City, leben ihre Eltern Frank und Mary Krause.
1908 von der Texas Portland Cement Company gegründet, um den Abeitern der nahegelegenen Zementfabriken Unterkunft zu bieten, liegt die Siedlung direkt an der Eisenbahnlinie. Hier gibt es eine Post, mehrere Läden, sogar eine eigene Schule. 1910 sind hier offziell 503 Menschen gemeldet, die auch einen eigenen Bürgermeister wählen. Wie viele sich tatsächlich hier aufhalten, weiß niemand. Es ist eine raue Gegend mit...