1 Allgemeine Einführung
1.1 Interdisziplinarität in der Kopfschmerztherapie
G. Fritsche
1.1.1 Begründung
Die interdisziplinäre Diagnostik und Therapie chronischer Kopfschmerzen ist international wissenschaftlicher und ethischer Standard. So nennt die WHO den „burden of chronic disease“ als Grund für die Notwendigkeit zur Etablierung interdisziplinärer Teams ? [530]. Die Notwendigkeit der Interdisziplinarität in der Behandlung chronischer (Kopf-)Schmerzen leitet sich aus dem traditionellen Krankheitsverständnis chronischer Schmerzen ab. Diesem Verständnis liegen drei Annahmen zugrunde:
Chronischer Schmerz ist zu behandeln wie akuter Schmerz.
Befund und Befinden stehen in einer direkten (linearen) Beziehung zueinander.
Chronische Schmerzen kann man unterteilen in „somatogenen“ und „psychogenen“ Schmerz.
Diese Annahmen implizieren eine Gleichbehandlung von akutem und chronischem Schmerz. Sie sind mit modernen Erkenntnissen jedoch nicht mehr vereinbar.
Zu 1 Akuter Schmerz hat in der Regel eine Ursache (z.B. Entzündung, Verletzung) und eine Funktion (z.B. Heilung einleiten). Daraus lässt sich eine Behandlungsstrategie ableiten (z.B. Antiphlogistikum). Der chronische Schmerz ist dagegen qualitativ völlig anders als der akute: Er ist in der Regel nicht messbar, noxische Reize sind nicht ausreichend identifizierbar, er hat keine handlungsleitende Funktion, er ist kein Stimulus für Verhaltenskorrekturen, er ist nicht mehr kausal behandelbar und die Betroffenen haben oft die Überzeugung verloren, diese Schmerzen noch einmal kontrollieren zu können. Wo die Grenze zwischen „akut“ und „chronisch“ zu sehen ist, ist nicht einheitlich definiert, der Zeitverlauf stellt hierbei nur einen Aspekt dar. Wenn somatische Faktoren in den Hintergrund treten und Begleitumstände (Beeinträchtigung, psychosoziale Auswirkungen) zunehmend an Bedeutung gewinnen, dann setzt Schmerzchronifizierung ein.
Zu 2 Bei akuten Schmerzen geben die Befunde (z.B. Labor, Bildgebung) die Therapierichtung vor. Bei chronischen Schmerzen muss sich jedoch der Therapeut nicht mehr hauptsächlich mit dem Körper des Patienten beschäftigen, sondern gleichwertig auch mit dessen subjektiver Wirklichkeit des Schmerzerlebens, d.h. den Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen und Gedanken. Somit bestimmen überwiegend psychische Faktoren den Krankheitsverlauf. Diese beeinflussen z.B. die Reaktion des Patienten auf operative Verfahren und deren Outcome, auf konservative und auch psychosomatische Behandlungsmaßnahmen. Alle beteiligten Disziplinen sind angewiesen auf die aktive informationsgebende Mitarbeit des chronischen Schmerzpatienten.
Zu 3 Die Dichotomisierung des chronischen Schmerzes in psychische und somatische Faktoren ist anachronistisch. Folgerichtig werden Schmerzsyndrome im DSM-IV und im ICD-10 so klassifiziert, dass der biopsychosoziale Charakter chronischer Schmerzen betont wird (z.B. ICD-10: F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren). Auch die WHO integriert in ihrem Krankheitsmodell die biologische Seite von Störungen, die Beeinträchtigung von Aktivitäten, die soziale Partizipation sowie die beteiligten Umweltfaktoren.
1.1.2 Modell
Das klassische Krankheitsmodell in den westlichen Ländern ist das biomedizinische Modell. Es geht davon aus, dass Krankheit dann entsteht, wenn eine biologische oder biochemische Abweichung von einem „Normalzustand“ vorliegt. Heilung wäre dann seine Wiederherstellung. Im Störungsmodell, auf das sich die Verhaltenstherapie stützt, ist chronischer Schmerz definiert als Syndrom mit biologischen, kognitiven, emotionalen und behavioralen Komponenten. Dieses Modell impliziert, dass man von einer multikausalen Ätiologie ausgehen muss und es demzufolge mit einem Syndrom zu tun hat, bei dem deutliche Beeinträchtigungen auf verschiedenen Ebenen des Erlebens und Verhaltens auftreten (Versuchen Sie einmal, die schmerzrelevanten Konstrukte „Selbstunsicherheit“ oder „Feindseligkeit“ auf der physiologischen Ebene zu finden!). Das biopsychosoziale Modell (BPS; ? Abb. 1.1) erfordert, dass die Therapie chronischer Kopfschmerzen auf allen 4 Ebenen gleichwertig durch ein interdisziplinäres Team mit enger Kooperation, intensiver Kommunikation und Integration der fachspezifischen Kompetenzen stattfindet.
Biopsychologisches Modell.
Abb. 1.1 Biopsychosoziales Störungsmodell (BPS) chronischer Kopfschmerzen.
Nach Loeser und Cousins ? [323] sollte sich idealerweise ein interdisziplinäres Team aus mindestens 5 Berufsgruppen zusammensetzen. Sie fordern weiter:
Mindestens 2 medizinische Fachrichtungen,
mindestens 1 psychologische Fachrichtung,
vollzeitige Anwesenheit,
gemeinsame Diagnostik/Therapieplanung,
breites Spektrum therapeutischer Maßnahmen,
tägliche interdisziplinäre Konferenzen.
Diesen Forderungen wird in den Kriterien der von den Krankenkassen geforderten und geförderten „Multimodalen Schmerztherapie“ Rechnung getragen. Diese Form der Schmerzbehandlung wird bundesweit als ambulantes, teilstationäres oder stationäres Konzept (OPS 8918) durchgeführt. Die multimodale Kopfschmerztherapie wird in Deutschland derzeit sehr erfolgreich in 4 Projekten der „Integrierten Versorgung“ (IV; Kap. ? 6.2) durchgeführt, außerdem arbeiten einige wenige Kliniken mit diesem Modell als Grundlage ihres Therapieprogramms. In der IV Kopfschmerz wird eine medizinische Disziplin – die neurologische – für ausreichend gehalten. Dafür wird aber besonderen Wert auf die Mitarbeit von Physio- und Sporttherapeuten gelegt. Gelegentlich werden Spezialisten hinzugezogen, die die Indikation für invasive Verfahren prüfen (z.B. Okzipitalisstimulation bei Clusterkopfschmerz).
In der Gestaltung der Therapiebestandteile und -abläufe kann man sich wiederum an Loeser und Cousins orientieren ? [323]. Die Autoren schlagen folgende Basiselemente vor (für die Kopfschmerzbehandlung zutreffender Auszug):
Edukation über Entstehung und Aufrechterhaltung des Syndroms.
Edukation zum Gebrauch von Schmerzmitteln.
breite, aktuelle, medikamentöse Therapie (akut und prophylaktisch).
bei Bedarf Entzugsbehandlung.
kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren.
Stressmanagement.
Sport- und Physiotherapie, physikalische Maßnahmen.
Entspannungsverfahren.
1.1.3 Kombination medizinischer und psychologischer Behandlung
1.1.3.1 Evidenz
In der Therapie chronischer Kopfschmerzen ist es wissenschaftlich gesichert, dass die Kombination einer pharmakologischen mit einer verhaltenstherapeutischen Prophylaxe eine höhere Effektivität besitzt als die einzeln durchgeführten Therapieformen ? [241].
1.1.3.2 Prophylaxe
In der Regel erhalten v.a. die Patienten eine pharmakologische Prophylaxe, die häufige Kopfschmerzen haben und somit häufig Schmerz- oder Migränemittel nehmen müssen. Die Prophylaxe sollte mehrere Monate bis hin zu einem Jahr durchgeführt werden. Patienten mit hoher Schmerzmitteleinnahme oder Einnahme von Triptanen sind sich der Risiken für eine Ausbildung eines Medication Overuse Headache (MOH, Kap. ? 2.3) in der Regel bewusst. Sie handeln nicht unüberlegt, sondern aus Mangel an gut wirksamen Alternativen. Zunächst lehnen viele dieser Patienten es auch ab, täglich ein Medikament zur Vorbeugung zu nehmen. In den ersten Wochen sind diese Betroffenen deshalb hoch gefährdet, die prophylaktische Therapie abzubrechen, da sie die erwünschte Wirkung noch nicht verspüren, aber erheblich beeinträchtigende Nebenwirkungen erfahren können. Aufgabe des Schmerzpsychotherapeuten ist es, in einer Atmosphäre des Vertrauens für maximale Informationsvermittlung und eine verbesserte Medikamentencompliance zu sorgen und diese zu konsolidieren.
1.1.3.3 Ko-Analgetika
Kopfschmerzpatienten haben ein erhöhtes Risiko für depressive und affektive Störungen ? [108]. Die Inzidenz ist noch einmal signifikant höher bei Patienten mit einem hochfrequenten bis täglichen Kopfschmerz. Deshalb werden im Kopfschmerzbereich nahezu standardmäßig Antidepressiva als Koanalgetika eingesetzt (meist Trizyklika). Viele Patienten neigen jedoch dazu, verschriebene Prophylaktika und Ko-Analgetika selbstständig abzusetzen ? [189]. Die Aufgabe des Schmerzpsychotherapeuten besteht darin, die Aversionen und Ängste des Patienten gegenüber psychotropen Pharmaka (Abhängigkeit, Persönlichkeitsveränderung) aufzugreifen und mittels Aufklärung eine stabile Akzeptanz herzustellen und damit den Behandlungserfolg zu sichern.
1.1.3.4 Medication Overuse...