Auf Empfehlung des Deutschen Ausschusses sollte in der Hauptschule der Beruf im Zentrum stehen. Außerdem war mit der Namensgebung „Haupt-Schule“ verbunden, dass diese Schulform von einer Mehrzahl der Schüler und Schülerinnen besucht wird (vgl. Zenke, K. G. 2003, S. 83). In den fünfziger Jahren besuchten tatsächlich 80 Prozent eines Altersjahrganges die siebte Klasse der Volksschule (vgl. ebd.). Folgende Minimalanforderungen wurden vom Deutschen Ausschuss an die neue Hauptschule gestellt:
1. „Nach einer für alle Kinder gemeinsamen Förderstufe in den Klassenstufen 5 und 6 sollte die Hauptschule als vierjährige Sekundarstufe eingerichtet werden, also die Stufen 7 bis 10 umfassen.
2. Mittelpunkt des Curriculums sollte die bereits skizzierte Orientierung an Berufs- und Arbeitswelt sein. Dafür sollte – gleichsam als weiteres Hauptschulfach – Arbeitslehre als Integration fachtheoretischer und praktischer Gegenstände eingerichtet werden. Didaktisch innovativ war dabei u. a. der Gedanke, die Bereiche Technik, Werkarbeit, Wirtschaftslehre einschließlich der auf Haus und Familie bezogenen ökonomischen, ökologischen und ernährungswissenschaftlichen Grundfragen sowie Politik und Sozialkunde zu verknüpfen, also den einzelfachlichen Horizont des Lehrplans problemorientiert und fächerübergreifend zu erweitern.
3. Die Hauptschule sollte nach Größe, nach personeller, räumlicher und sächlicher Ausstattung so eingerichtet werden, dass der Vielfalt an Lernvoraussetzungen, Lerninteressen, Lerngeschwindigkeiten und Bildungsperspektiven innerhalb der großen Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland in einem System der Differenzierung nach inhaltlichen Profilen, Leistungsniveaus und Abschlüssen entsprochen werden könne. In einer zeitgemäßeren Formulierung könnten wir heute sagen: Lernen in heterogenen Gruppen, aus den Unterschieden der Schülerinnen und Schüler Nutzen für alle ziehen, diese Grundsätze waren der Hauptschulpädagogik gleichsam in die Wiege gelegt.
4. Als Regelziel sollte dieser Bildungsgang einen mittleren Abschluss führen, der nach Erfüllung bestimmter Kriterien auch den Übertritt in die gymnasiale Oberstufe eröffnen sollte. Deshalb war es selbstverständlich, dass ab Klasse 5 eine Fremdsprache in den Lehrgang aufzunehmen war.
5. Die Lehrerbildung für diese Hauptschule sollte im Vergleich zur tradierten Volksschullehrerausbildung wesentlich verbessert werden. Nach Dauer, Qualität und Abschluss des Studiums an einer Universität sollten die Hauptschullehrer und -lehrerinnen den so genannten akademischen Lehrämtern gleichgestellt werden, ebenso im Hinblick auf Besoldung und die Ausstattung der Deputate.“ (Zenke, K. G. 2003, S. 83f.)
Aus der Hauptschule sollten sich für alle Bereiche der Wirtschaft Nachwuchskräfte rekrutieren. Die neue Schule sollte außerdem dem ständisch orientierten Statusdenken im Bildungsbereich entgegenwirken (vgl. ebd., S. 84f.).
Doch die Hauptschule hat dies nicht leisten können. Der Druck der alten Bildungsvorstellungen und die noch verstärkte Chancenungleichheit im deutschen Bildungswesen haben sie zu dem schrumpfen lassen, was sie heute ist: Aus der Volksschule mit einer Vereinigung von 80 Prozent eines Altersjahrganges wurde eine „Restschule“, die nur noch von 22,6 Prozent besucht wird. Hauptschüler weisen extreme schulische Defizite auf. Die PISA-Studie brachte endgültige traurige Gewissheit über den Zustand der heutigen Hauptschule. Sie unterteilte in fünf Kompetenzstufen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Diejenigen Schüler, welche nicht über die Kompetenzstufe beispielsweise im Bereich Lesen hinauskommen, werden
„... nicht in der Lage sein, bei der Industrie- und Handelskammer einen einfachen Test für die Berufseinstellung zu bestehen ...
... sie sind nicht in der Lage, auch schlicht formulierte Zeitungsartikel so zu verstehen, dass sie sich selber eine politische Meinung bilden können ...
... sie haben keine hinreichende Lesefähigkeit, um einen eigenen Fortbildungsprozess zu betreiben ...“ (Tillmann, K.-J. 2003, S 119f.)
Folgt man den Ergebnissen, haben 56 Prozent aller Hauptschüler am Ende ihrer Schulzeit keine ausreichende Lesekompetenz (vgl. ebd., S. 120). Somit sind sie nach den Maßstäben der PISA-Studie nicht fähig, einen Test zur Aufnahme eines Lehrverhältnisses zu bestehen, und damit nicht in der Lage, sich in die Arbeits-, Wirtschafts- und Berufswelt unserer Gesellschaft zu integrieren. Eine Berufsorientierung und Lebensplanung wird somit dringend notwendig.
Die Hauptschule steht nach Engelhardt generell zur Disposition (vgl. Engelhardt, H. 2000, S. 107), was er an sinkenden Schülerzahlen und den Entwicklungen in den neuen Bundesländern festmacht. Hier ist in vier der fünf neuen Länder keine Hauptschule im herkömmlichen Sinne mehr vorhanden. Entweder ist sie in anderen Schulformen aufgegangen (Sachsen: Differenzierte Mittelschule, Sachsen-Anhalt: Sekundarschule, Thüringen: Regelschule), oder sie ist wie in Brandenburg in die Gesamtschule eingeflossen (vgl. ebd., S. 106).
Engelhardt beschreibt, dass sich die Hauptschule zu einem Ort mit überproportional hohem Ausländeranteil und einem Sammelbecken für Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen entwickelt hat (vgl. ebd., S. 107f.). Die Schulform Hauptschule hat bei den Eltern ein äußerst schlechtes Image. Wenn Eltern, unabhängig davon, welche Schulform ihre Kinder besuchen, den einzelnen Schulformen Noten geben dürften, würden im Westen und Osten Deutschlands 36 Prozent von ihnen die Hauptschule mit vier bis sechs bewerten. Die Gesamtschule schneidet nur unwesentlich besser ab, im Westen bewerten sie 27 Prozent mit vier bis sechs, im Osten 23 Prozent (vgl. ebd., S. 117). Auch wenn die Eltern keinen Einblick in die Vorgänge innerhalb der Schulform haben, schneidet sie trotzdem schlecht ab.
Hier zeigt sich ein generelles Akzeptanzproblem, eine Stigmatisierung der Schulform sowie der darin untergebrachten Schüler und Schülerinnen. Bei den Eltern, welche ein oder mehrere Kinder auf der Hauptschule haben, schneidet diese hingegen relativ gut ab: 40 Prozent der Eltern geben an, ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Lehrern ihres Kindes zu haben, 44 Prozent betonen, dass sich die einzelnen Hauptschulen bemühen, ihre Kinder zu fördern, und 81 Prozent sehen keine Unterforderung ihrer Kinder. In allen anderen Schulformen sind diese Werte niedriger (vgl. ebd., S. 118). Die Eltern scheinen also durchaus zufrieden mit den Hauptschulen ihrer Kinder zu sein.
Im Gegensatz dazu steht das Urteil der Hauptschüler selbst: Sie geben ihrer Schule zu 26 Prozent die Note vier bis sechs.
Weiterhin gibt es im Vergleich zu anderen Schulformen in der Hauptschule die höchste Anzahl von Schülern, die nicht gern zur Schule zu gehen (vgl. ebd., S. 120). Dieser Umstand wird, ebenso wie das niedrige Selbstwertgefühl von Hauptschülern, im Folgenden noch eingehender behandelt.
Fragt man indes nach konkreten Verhältnissen innerhalb der Schule – etwa nach dem Vertrauensverhältnis zu den Lehrern, ob die Schüler ihren Unterricht mitgestalten können oder ob ihnen die Lehrer auch schwierige Sachverhalte näher bringen können –, schneidet die Hauptschule gemeinsam mit der Gesamtschule am besten ab (vgl. ebd., S. 121).
Werden die Lehrer aller Schulformen nach den Bewertungen aller Schulformen gefragt, so schneidet auch hier die Hauptschule am schlechtesten ab. Wird die Befragung jedoch auf die jeweils eigene Schulform angewendet, so bewerten immerhin 54 Prozent der Hauptschullehrer und -lehrerinnen ihre Schulform mit einer Eins oder Zwei. Stellt man konkrete Fragen über das pädagogische Anliegen wie „‚das Bemühen um eine gezielte Förderung der Schüler‘ oder ‚das Eingehen auf die Erfahrungen und Probleme der Schüler‘, schneidet die Hauptschule im Lehrerurteil sogar erheblich besser ab als die Realschule und das Gymnasium“ (ebd., S. 123).
Mit dem Imageproblem der Hauptschule haben vor allem die Schüler dieser Schulform zu kämpfen. Engelhardt führt das schlechte Renommee vor allem auf die negative öffentliche Meinung zurück (vgl. ebd., S. 122). Denn richtet man den Blick auf die Stimmungslage der einzelnen Beteiligten der Hauptschule (Eltern, Schüler, Lehrer), so fällt bei allen Akteuren auf, dass sie selbst „ihre Schule“ eher positiv bewerten, ganz im Gegensatz zu den Außenstehenden.
Jeder, der schon einmal mit Hauptschülern im Unterricht zusammengearbeitet hat, sieht sich zwangsläufig mit folgenden Aussagen konfrontiert: „Ich bin/Wir sind doch eh nur Hauptschüler“ und, wenn etwas nicht so funktioniert, wie es sich der Unterrichtende vorstellt: „Was erwarten Sie? Wir sind hier in der Hauptschule.“
Die Aussagen zeigen, dass den Schülern ihre Situation mehr als deutlich bewusst ist, sie schrauben die Erwartungen an sich selbst herunter oder versuchen andere durch solche Aussagen dazu zu bringen, die Erwartungen an sie selbst zu reduzieren. Doch wo liegen die Gründe für diese Einstellung,...