Zweiter Teil Das Frühwerk (1972–1978)
Nicht die Angepaßten, die braven Vielschreiber […] bringen die Literatur (und damit auch den Leser) voran, sondern die Unbequemen, die Grenzgänger und Grenzüberschreiter: Gerhard Roth ist diesem Anspruch in seinen Büchern gerecht geworden; er ist einer der ganz wenigen Autoren unserer Tage, die wirklich wichtig sind.
Peter Laemmle über Winterreise, 1978
1 DENKEN IN DER SPRACHE DER VÖGEL – DIE AUTOBIOGRAPHIE DES ALBERT EINSTEIN
Dieses bemerkenswerte Debüt aus dem Jahr 1972 war das Ergebnis eines langwierigen, rund fünf Jahre lang dauernden Prozesses von Überarbeitungen, Rückschlägen und Neuansätzen. Seit 1965 hatte Roth unsystematisch an seinem ersten Buch gearbeitet, wobei aus den vergleichsweise konventionellen, an Hamsun orientierten Aufzeichnungen eines überflüssigen Menschen im Verlauf zahlreicher Revisionen und Überarbeitungsschritte ein zunehmend experimentelles Textgebilde entstand.
Angeregt durch Vorfälle in seiner Kindheit, hatte er sich mit dem Phänomen der Schizophrenie beschäftigt, in dem er ein Feld vorfand, das ihm erlaubte, eigene Gefühle von sozialer VerRücktheit zu kontextualisieren und Einblicke in die fließende Grenze zwischen ›normalen‹ und ›kranken‹ Bewusstseinszuständen zu gewinnen. Die malerischen, zeichnerischen und nicht zuletzt auch sprachlichen Erzeugnisse der Schizophrenen erwiesen sich als anregende Vorlagen, eigene Begrenzungen zu überwinden und innovative Formen des künstlerischen Ausdrucks zu erproben.
Für das eigene Schreiben eröffneten sich gänzlich neue Perspektiven, um die verschiedensten ›Regelverstöße‹ literarisch nutzbar zu machen: Das Korsett eines linearen Handlungsablaufs wird zerbrochen, um sich ganz dem chaotischen Innenleben der Erzählfiguren hinzugeben; statt stringent-logischer Entwicklung kommt es zu Abschweifungen, Wiederholungen, Assoziationen, Brüchen; die Kohärenz eines psychologisch glaubhaften Protagonisten zerfällt in Montagen disparater Textsorten; schier unendliche Listen von Sprachmaterial arretieren den Sprachfluss, während Kritzeleien oder Illustrationen ihn unterbrechen.
Die Geburt des Experimentalautors aus dem Geiste der Schizophrenie: Im Verlauf eines mit Elan und Determination vorangetriebenen Schreibprozesses entstand aus den Aufzeichnungen eines überflüssigen Menschen schließlich in Kleinschrift die autobiographie des albert einstein. Als das Buch 1972 erscheint, sticht es gleich heraus aus dem Spektrum der Grazer Literatur. Roth, das unterstreichen die Rezensionen, hatte einen eigentümlichen Ton getroffen und eine faszinierende Gratwanderung unternommen zwischen Experiment und nachvollziehbarem Erzählen.
Seine erste literarische Buchveröffentlichung besitzt zwar keine Handlung, reflektiert aber den schrittweisen Zerfall eines Bewusstseins mit den Mitteln der Sprache. Zu sagen, dass es in dem Buch um das Gedankenprotokoll eines Schizophrenen geht, der glaubt, er wäre Albert Einstein, führt an dem Text vorbei. Roth operiert ungleich subtiler. So konstruiert er einen quasi sachlichen Rahmen, in dem Anfang und Ende einer Existenz abgesteckt werden: In einem Vorspann wird die Entwicklung der Hauptfigur vom Keimling und Embryo über den Fötus zum erwachsenen Menschen auf zweieinhalb Seiten skizziert, während am Ende des Textes ein anonymisiertes Sektionsprotokoll steht, das erkennbar aus dem Pathologischen Institut der Universität Graz stammt.
Innerhalb der Eckpunkte einer gleichsam wissenschaftlichen Bestandsaufnahme von Geburt und Tod spielt sich die Geschichte des merkwürdigen Protagonisten ab. Das bekannte Bild des seine Zunge keck herausstreckenden Albert Einstein, das Roth im Vorspann einmontiert, verweist auf den weltberühmten Physiker, dessen Name für eine Wissenschaft steht, die unsere Sicht auf die Welt revolutioniert. Damit umreißt Roth gleichsam das poetologische Programm des Textes. Auf den »Einbruch der Wissenschaft in das alltägliche Leben«, wie der Autor es einmal formulierte, reagierte er in seinem ersten Buch, indem er die »Hauptfigur den Raster des naturwissenschaftlichen Denkens auf alle Wahrnehmungen und Gedanken legen lasse, wodurch – zunächst rein sprachlich – künstliche, zerebrale ›Paradiese‹ entstehen. Das heißt also, daß die Sprache mit dem veränderten Wahrnehmungsprozeß konform geht, ein Vorgang, der im Fall von Schizophrenie zu beobachten ist.«1
Roth hatte an der Universität sein Rigorosum der Physik mit Auszeichnung bestanden. Seine dort erworbenen Kenntnisse drängten ihm die Notwendigkeit auf, die Revolutionierung der Physik durch einen Umbruch auch in der Kunst zu reflektieren. Das mechanistische Weltbild Newtons, demzufolge das Weltall gleich einem perfekten Uhrwerk abläuft, entsprach für ihn dem linearen Erzählen im klassischen Roman – die neue abstrakte Weltsicht, die Einstein eröffnet hatte, erforderte ein neuartiges Erzählen. Sein Debüt verbindet daher den Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaft mit der imaginativen Entgrenzung eines psychopathologischen Bewusstseins.
Die eigensinnige Weltsicht des Verrückten ist das verzerrte Spiegelbild einer von den Gesetzen der Vernunft dominierten Alltagswelt, die wiederum von den Entdeckungen avancierter Physik auf den Kopf gestellt wird, etwa was die Relativität von Zeit oder die Existenz von Antimaterie betrifft. Mit seiner »ästhetischen Attacke auf die unbegründete Selbstsicherheit des Menschen im wissenschaftlichen Zeitalter«2 lieferte Roth eine literarische Entsprechung zur gesellschaftlichen Diskussion des Wahnsinns im Gefolge der Antipsychiatrie-Bewegung, die von Reformpsychiatern wie Franco Basaglia in Italien oder Ronald D. Laing in England angestoßen wurde.
Gerade auf österreichische Schriftsteller und Künstler war der Einfluss von Leo Navratils Schriften über die künstlerischen Produktionen seiner Patienten enorm: So pilgerten etwa Arnulf Rainer, André Heller, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker nach Gugging, wo Navratil dann nicht zuletzt auch dank des Interesses anerkannter Kulturgrößen im Jahre 1981 das vom alltäglichen Klinikbetrieb ausgegliederte »Haus der Künstler« in einem am Rand des Anstaltsgeländes gelegenen Pavillon gründen konnte. Von den dort lebenden Patienten, die Roth schon seit 1974 regelmäßig besuchte, trachtete er zu lernen. Zu lernen, wie man aus gänzlich anderer Position auf die Ordnung der Welt und die Verfassung der Gesellschaft zu blicken vermag.
Der ambitionierte Ansatz, Wissenschaft und Wahnsinn experimentell zusammenzudenken, erzeugte einen entsprechend ausgefallenen Text, der trotz aller bewusst hergestellten Heterogenität ein kohärentes Konzept auf überzeugende Weise umsetzt. Roth hatte mehr als nur ein Gesellenstück abgeliefert. Die autobiographie des albert einstein markierte eine Differenz zum Rest der schizo-affinen Literatur der frühen siebziger Jahre. Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) etwa behandelte ebenso das Thema des Abgleitens in einen schizophrenen Zustand, erscheint aber stilistisch vergleichsweise konventionell im Vergleich zu Roths collagehaftem Erstling. Der Literaturwissenschaftler Jörg Drews beschrieb treffend Anspruch und Umsetzung des Buches:
Ein Fall von Schizophrenie soll dargestellt werden, der aber zugleich für etwas viel Umfassenderes, nämlich den Zusammenbruch eines ganzen Weltbildes stehen soll; Erzählmuster sollen parodiert sein, Sprachphilosophie, Kritik des wissenschaftlichen Denkens, generell des Rationalismus sind auch vorgetragen darin, und Aufrufe zur Anarchie aus dem Buch herauszulesen ist wohl ebenfalls nicht verfehlt […] Also wird [einsteins] Wahn als kritische Instanz, als Medium möglicher Einsichten ernstgenommen.3
die autobiographie des albert einstein besteht aus drei Teilen, die das Ereignis einer krankhaften Identitätsauflösung dokumentieren. In jeder der drei Phasen vollzieht sich ein Schritt in den Wahnsinn: Teil eins, der voyeur, thematisiert die Problematisierung von Selbstwahrnehmungen. In Form eines inneren Monologs nehmen wir teil an dem verrückten Selbstgespräch eines Voyeurs der alltäglichen Realität – und sind als Leser selber Voyeure der zunehmend derangierten Wirklichkeitsauffassung des sprechenden Subjekts.
Diese Erzählinstanz albert einstein reflektiert seine Wahrnehmungsweise von Realität und deren sinnliche Repräsentation im Bewusstsein als zwangsläufig sprachliche Vorgänge: »ich saß da und wartete auf die worte, die in meinem kopf entstehen würden, wartete bis sie entstanden waren, beobachtete sie, wenn sie an meinem inneren auge vorbeizogen und richtete über ihre existenz.« (AAE 25) Das unaufhörliche Arbeiten der ›Wahrnehmungsverarbeitungsmaschine Bewusstsein‹ (Manfred Mixner) wird dabei vom Protagonisten mithilfe von naturwissenschaftlichen Konzepten und medizinischen Termini zu begreifen...