»Auch wenn einem Schlimmes widerfährt: Das Leben bleibt ein Geschenk«
~ Mathilde
*18. Juni 1915 in Konstanz am Bodensee
Es riecht nach frischgemähtem Gras. Schwach klingt das Bimmeln der Kuhglocken herüber. Der Hang neben dem Hof ist noch unberührt, das Gras meterhoch und wie immer um diese Jahreszeit ein einziges wogendes Blumenmeer aus Butterblumen und Löwenzahn. Bruno, der schwarze Labrador von Mathilde, hat sich beim Durchspringen bestimmt wieder eine gelbe Nase geholt. Wo ist er eigentlich? Normalerweise liegt er auf der Terrasse der Bauernwirtschaft in der Sonne, gleich neben der schweren, knarzenden Eingangstür. Das Blumenbeet auf der anderen Seite der Tür ist wie immer picobello gepflegt. Vergissmeinnicht, Akeleien. Die ersten Margeriten. Mathilde ist bekannt für ihren grünen Daumen.
Es ist still an diesem Vormittag. Unter der großen Kastanie nimmt ein Stammgast gerade den letzten Schluck seines Frühschoppens und begibt sich zum Zahlen in die Gaststube. Ein Arbeiter aus dem Dorf unten im Tal. Ich stelle mich einen Moment lang an die hölzerne Balustrade der Terrasse und lasse den Blick über die sanft geschwungenen Kuppen und Hügel der Schwarzwaldlandschaft schweifen. Wie vertraut mir alles doch ist! Unzählige Male schon war ich hier oben bei Mathilde auf dem Hof. Als Kind auf Schulausflügen und an Wandertagen, am 1. Mai oder Christi Himmelfahrt. Dann bekamen wir immer eine Bluna und eine Wurst mit Senf. Auch heute noch zieht es mich regelmäßig hier hoch, an Ostern oder Weihnachten. Um im Kreise meiner Lieben hemmungslos über den Osterbrunch oder das Weihnachtsmenü herzufallen und anschließend einen Spaziergang zu machen.
Und egal ob Sommer oder Winter: Immer erscheint Mathilde irgendwann auf der Bildfläche. In einer ihrer unvermeidlichen Kittelschürzen, die grauen Haare zum Knoten gedreht und auf der Nase eine silberumrandete Brille, hinter der ihre hellblauen Augen erstaunlich klar und wach leuchten. Jahr um Jahr scheint sich nichts zu ändern. Für mich war sie schon immer alt – und ist es geblieben.
Die Sicht an diesem Tag ist grandios, man kann bis über den Rhein hinweg nach Frankreich gucken. In der Ferne zeichnet sich schwach die Silhouette der Vogesen ab. Noch ein paar hundert Kilometer weiter nordwestlich liegt Verdun. Dort ist Mathildes Vater gefallen. Im Ersten Weltkrieg. Vor ein paar Wochen hat sie mir das erst erzählt – und das, obwohl wir uns schon so lange kennen.
Wie immer hatte sie sich an einem Weihnachtstag in der Gaststube überschwänglich von den Gästen begrüßen lassen und dann den Zeitpunkt für gekommen erachtet, allen ein Gläschen ihrer ganz speziellen Medizin zu verordnen: Obstler, den uns ihre auch mittlerweile schon über 70-jährige Tochter Renate manchmal bringt. Wenn Renate dann die Flasche mit dem selbstgebrannten Schnaps auf den Tisch stellt, ist ihre Mutter in der Regel bereits dabei, einen ihrer nicht ganz salonfähigen Witze zum Besten zu geben.
Dieses Mal aber kam es nicht so weit. »Na, Mathilde, für nächstes Jahr solltest du dir aber einen ganz besonders großen Vorrat an Schnapsflaschen anlegen!«, meinte einer der Gäste am Nebentisch. Und seine Frau fügte hinzu: »Für diesen Fall könntest du ja vielleicht sogar ein paar Champagnerflaschen kalt stellen!« Die beiden waren eindeutig besser über die alte Bäuerin informiert als ich. Mir wurde klar, dass ich so gut wie nichts über sie wusste.
Champagner, da war ich mir trotzdem ziemlich sicher, hatte Mathilde noch nie in ihrem Leben getrunken. Und der würde auch gar nicht hierherpassen, auf den Schwarzwaldhof. Neugierig spitzte ich die Ohren.
»Hundert wird man schließlich nicht alle Tage!«, fuhr die Frau fort – laut genug, dass es die gesamte Wirtsstube hören konnte. Worauf es, wie zu erwarten, zu vielen »Ah« und »Oh« kam und alle durcheinanderzureden begannen: »Mathilde, ist das wirklich wahr?« – »Das ist ja allerhand!« – »Hundert Jahre!«
Auch ich konnte es zunächst kaum fassen. Auf einmal war Mathilde nicht mehr einfach nur alt. Nein, sie würde ein Jahrhundertmensch werden. Das schaffen bislang nur die wenigsten. Und das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass Jahrhundertmenschen ein geradezu ehrfürchtiger Respekt entgegengebracht wird, ähnlich wie bei Spitzensportlern, die einen neuen Weltrekord aufgestellt haben und beim Weitsprung weiter gesprungen sind als alle anderen Menschen vor ihnen.
Wäre Mathildes Leben ein Weitsprung, würde er die Eckdaten 1915 und 2015 umfassen. Ein gewaltiger Sprung – in jeder Hinsicht: Beim Absprung 1915 gab es noch kaum Telefone. Autos waren eine Seltenheit, ebenso wie Strom und fließend Wasser in den Haushalten. Hundert Jahre später sind für ihre Enkel und Urenkel Smartphones und Laptops zur Selbstverständlichkeit geworden. Wobei die Landung erst noch stattfinden muss, denn noch hat Mathilde die Hacken ja nicht in den Sand gesetzt. Wer weiß, vielleicht wird sie 101, 102 oder auch 105 Jahre alt.
Die alte Bäuerin selbst winkte an diesem Weihnachtsfeiertag nur ganz nüchtern ab: »Ich weiß noch genau, wie meine Mutter achtzig wurde«, meinte sie, als sie sich bei den Leuten am Nebentisch niederließ. Nun habe sie die Mutter um fast zwanzig Jahre überlebt: »Nie hätte ich gedacht, dass ich so alt werde«, sagte sie und machte sich ans Austeilen der ersten Runde Schnaps. »Das muss man halt hinnehmen.«
Hinnehmen. Damit stellte Mathilde ebenso sachlich wie unmissverständlich klar, dass jedenfalls für sie das Erreichen eines bestimmten Alters kein Verdienst war, der sich in irgendeiner Form mit den Leistungen von Spitzensportlern vergleichen ließe. Sondern dass dies ganz ohne ihr Zutun passierte. Trotz oder gerade wegen ihres schweren Lebens hier oben auf dem Hof.
Inzwischen ist es Frühling geworden und dieses Weihnachtsfest gut vier Monate her. Gedankenverloren streiche ich über das Holz der Terrassenbalustrade. Das Bimmeln der Kuhglocken wird von einem Traktor übertönt. Eine schwarzweiße Katze schleicht über den Hof, von Labrador Bruno immer noch keine Spur.
Ob Mathilde jemals etwas anderes als eine Kittelschütze getragen hat? Ob sie sich wohl stattdessen einmal fein herausgeputzt hat, vielleicht sogar eine Spur Lippenstift auf den Lippen – für ein Rendezvous mit einem Kavalier, in den sie sich gerade unsterblich zu verlieben begann? Lag sie jemals träumend im hohen Gras, zwischen Butterblumen und Löwenzahn, und zählte die vorbeiziehenden Wolken am tiefblauen Himmel? Was genau wusste ich eigentlich von ihr? Dass sie seit 24 Jahren Witwe war. Drei Kinder bekommen hatte, sieben Enkel, zwanzig Urenkel. Mehr nicht. Abgesehen von dem Gerede unten im Dorf. Diesem Getuschel, dass sie damals vor achtzig Jahren nicht alleine ins Tal gekommen sei. Dass sie froh sein müsse, dass der Johannes sie zur Frau genommen habe. Weil sie eine mit einem unehelichen Kind gewesen sei.
Ich gucke der Katze nach, die in der Scheune verschwindet, und beschließe, in die Gaststube zu gehen. Sollte die Renate etwa dieses uneheliche Kind sein? Schließlich war sie Mathildes ältestes.
Als damals an Weihnachten schließlich die Obstlerflasche auf unserem Tisch gelandet war, bekam ich zwar auf diese Frage noch keine Antwort, dafür aber die Einladung in ihr ereignisreiches Leben: Mathilde sagte zu, mir ausführlich aus ihrem Jahrhundertleben zu erzählen.
So kam es, dass wir bald darauf einträchtig an ihrem Lieblingsort saßen: dem großen grünen Kachelofen ganz hinten in der Gaststube. Erstmals konnte ich ihr schmales, feines und von unzähligen Falten durchzogenes Gesicht ganz aus der Nähe betrachten. Draußen war es immer noch bitterkalt, an den Fenstern hingen Eiszapfen, auf der Terrasse lag eine dicke Schneeschicht. Es war ein Sonntag, Mathilde kam gerade aus der Kirche. Wenn jemand sie mitnehmen kann, geht sie noch jeden Sonntag: »Weil der Glaube dem Dasein Sinn gibt.«
Ich spürte, wie wichtig Gott in ihrem Leben ist. Hier oben auf dem Berg, weit entfernt von der Großstadt, ist der Alltag noch sehr traditionell und von der Kirche geprägt. »Wenn man im Garten etwas pflanzt, muss man auch warten, bis es wächst und gedeiht«, An etwas glaubt man immer, selbst der Atheist. An etwas muss man glauben.fuhr Mathilde fort. Genauso sei es mit dem Glauben: Ohne ihn nütze alles nichts, ohne ihren Glauben hätte sie es nicht geschafft. Ob jemand Jude oder Moslem ist, Atheist oder Christ so wie sie – das ist ihr egal. Jeder müsse versuchen, nach seiner Fasson glücklich zu werden. »Wer sagt, er glaubt nicht, lügt«, meinte Mathilde. Denn auch Atheisten glaubten. »An irgendetwas glaubt man immer, an irgendetwas muss man in seinem Leben glauben! Das gibt dem Leben Halt und Sinn.«
Aber, so eröffnete sie mir und drückte den Rücken gegen den warmen Ofen: »Ich habe lange Zeit mit Gott gehadert. Und mit dem Schicksal, das er hier auf Erden für mich vorgesehen hat. Ich habe an ihm gezweifelt: Warum hatten andere ein so schönes Leben und ich nicht?« Er habe es nicht immer gut mit ihr gemeint, ihr Gott. Und die Pfarrer, die sie in jungen Jahren hatte, von denen fühlte sie sich auch oft im Stich gelassen.
1915 wurde sie geboren, am Bodensee im Kreis Konstanz. Da, wo ich auch selbst herkomme und aufgewachsen bin. Als ihr Vater bei Verdun den Soldatentod starb, war sie erst zwei Jahre alt. Ihre Mutter heiratete bald darauf einen Mann, der ihr...